# taz.de -- Silke Gebel zu Bildungspolitik: „Über Verbeamtung reden“ | |
> Bildungspolitik stehe hintenan, kritisiert Grünen-Fraktionschefin Silke | |
> Gebel. Ein Gespräch über die Stimmung im Wahlkampf und Berliner | |
> Lehrkräfte. | |
Bild: Silke Gebel bei der Aktion „Band für ein grünes Europa“ im Juli 2020 | |
taz: Frau Gebel, der Wahlkampf für die Abgeordnetenhauswahl am 26. | |
September ist von zwei Themen dominiert: dem Mietenthema und der | |
Klimafrage. Letzteres [1][hat Ihre Partei] ja selbst sehr stark in den | |
Fokus gerückt. Was ist mit anderen Themen, wie etwa der Bildungspolitik: | |
kein Interesse? | |
Silke Gebel: Im Gegenteil. Wir hatten gerade erst eine große | |
Bildungsveranstaltung in Pankow, an der auch Annalena Baerbock teilgenommen | |
hat. Sie und Bettina Jarasch sind die einzigen Spitzenkandidatinnen, die | |
das Thema Kinder und Familie immer wieder in den Wahlkampf tragen. Da | |
müssten Sie also eher die Kandidatinnen und Kandidaten der anderen Parteien | |
fragen, warum das Thema Bildung für sie keine Rolle spielt. Aber ja: Ich | |
würde mir auch wünschen, dass mehr über Kinder und Familie im Wahlkampf | |
gesprochen wird. | |
Worüber müssen wir also hier reden? | |
Na ja, wir müssen darüber sprechen, wie es sein kann, dass in Berlin so | |
viele Kinder und Jugendliche ohne Abschluss die Schule verlassen. Wir | |
müssen darüber sprechen, wie wir den Übergang von der Grundschule zur | |
weiterführenden Schule so gestalten, dass da kein Kind verloren geht und | |
langes gemeinsames Lernen der Standard wird. Wir haben zu wenig Lehrkräfte | |
und insgesamt zu wenig Personal an den Schulen. Und wir brauchen | |
Teamlösungen an den Schulen. | |
Sie meinen die multiprofessionellen Teams aus Lehrkräften und | |
SozialarbeiterInnen? Die hat Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) doch | |
bereits eingeführt. | |
Frau Scheeres hätte da in den zehn Jahren, die sie Senatorin war, noch mehr | |
tun können. Gerade in den Grundschulen haben wir die Situation, dass die | |
Kinder einen großen Teil ihrer Schulzeit im Hort verbringen. Da übernehmen | |
die Erzieherinnen und Erzieher einen ganz großen Teil der Elternarbeit, | |
gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern. Diesen Team-Ansatz mehr zu | |
unterstützen, das würde ich mir wünschen. Im novellierten Schulgesetz … | |
… das am Donnerstag vom Parlament beschlossen werden soll … | |
… da haben wir uns dafür eingesetzt, dass alle Schulen mit | |
Schulsozialarbeitern ausgestattet werden. Dahinter steht das Ziel, | |
möglichst vielen Kindern den Bildungsaufstieg zu ermöglichen. Dem kommt ja | |
gerade durch Corona noch mal eine extreme Bedeutung zu. Und deshalb würde | |
ich mir wünschen, dass man viel stärker darüber spricht: Wie schaffen wir | |
es eigentlich, die Bildungslücken und die sozialen Herausforderungen nach | |
der Pandemie bei Kindern und Jugendlichen aufzufangen? In ganz vielen | |
Bereichen hat man ja das Gefühl, als gäbe es kein Corona mehr. Aber in der | |
Schule leben die Kinder von Woche zu Woche, weil sich Kinder unter 12 | |
Jahren eben noch nicht impfen lassen können. | |
Zurück zum Personalmangel, den Sie ansprachen: Ihre Spitzenkandidatin | |
Bettina Jarasch hat auf einer taz-Podiumsdiskussion am Montag gesagt, sie | |
sei [2][angesichts des Lehrermangels in Berlin] inzwischen auch für die | |
Verbeamtung. Bisher waren die Grünen qua Parteitagsbeschluss doch immer | |
dagegen? | |
Wenn tatsächlich nichts anderes hilft, dann sind wir auch bereit, über die | |
Verbeamtung zu reden. | |
Was soll die bringen? Es gibt seitens der Bildungsverwaltung nicht mal | |
qualitative Daten darüber, warum die frisch ausgebildeten LehrerInnen | |
Berlin verlassen – ob es also überhaupt einen Zusammenhang mit der | |
Nicht-Verbeamtung gibt. | |
Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn 15 Bundesländer die Verbeamtung | |
machen, ist es sehr schwierig zu erklären, warum Berlin das nicht macht. | |
Aber Verbeamtung ist kein Allheilmittel, es wird sehr viele Folgefragen | |
geben. Zum Beispiel die, was wir mit denjenigen machen, die aus | |
gesundheitlichen oder altersbedingten Gründen nicht verbeamtet werden | |
können. Das generiert neue Schieflagen im Lehrerzimmer. Darauf fehlen mir | |
bisher die Antworten der Bildungsverwaltung. Und ich bin keine Freundin von | |
populistischen Forderungen. Zudem: Nur durch die Verbeamtung haben wir noch | |
keine neuen Lehrerinnen und Lehrer. | |
Vielleicht doch, wenn nicht mehr so viele weggingen. | |
Nur weil man in Berlin studiert, heißt das noch lange nicht, dass man auch | |
in Berlin bleibt. Viele gehen dann wieder nach Köln, nach München, in ihre | |
Heimatstadt. Berlin kann natürlich nicht alle halten – aber Berlin muss den | |
Anspruch haben, viel, viel mehr zu halten, als es aktuell der Fall ist. | |
Aber viel entscheidender ist, dass wir mehr ausbilden müssen. | |
Das passiert schon – die Universitäten haben die Ausbildungskapazitäten | |
bereits hochgefahren. | |
Stimmt, das passiert jetzt endlich. Und unser Ziel ist noch mehr: Wir | |
wollen, dass mindestens 10 Prozent über dem aktuellen Bedarf ausgebildet | |
wird. | |
Dafür müssen aber auch erst mal genug Menschen ein Lehramtsstudium beginnen | |
wollen. | |
Genau, Berlin muss attraktiv sein für angehende Lehrkräfte. Da ist ein | |
Paradigmenwechsel nötig. | |
Was meinen Sie? | |
Wir brauchen saubere und moderne Schulen, deshalb haben wir Grüne die | |
Schulbauoffensive vorangetrieben, uns für Modellprojekte zur | |
Rekommunalisierung der Schulreinigung eingesetzt und dafür gesorgt, dass | |
alle Schulen endlich mit WLAN ausgestattet werden. Außerdem müssen wir | |
weniger defizitorientiert auf Schule schauen. Ein Beispiel aus dem neuen | |
Schulgesetz: Berlin ist das erste Bundesland, das Mehrsprachigkeit | |
anerkennt und nun auch entsprechend in der Schule fördert. Egal, ob jemand | |
Arabisch, Türkisch oder Polnisch spricht, wird die Muttersprache künftig | |
als erste Fremdsprache anerkannt. Bisher heißt es ja, wenn ein Kind | |
Französisch und Deutsch spricht: Ach, Mensch, bilingual, wie super. Aber | |
wenn ein Kind Türkisch als Muttersprache hat, wird es als „nicht-deutsche | |
Herkunftssprache“ gelabelt. Das finde ich inakzeptabel und da haben wir | |
jetzt einen krassen Paradigmenwechsel. Gleichzeitig stärken wir mit dem | |
neuen Schulgesetz die Sprachförderung: Kinder machen im Alter von | |
viereinhalb Jahren einen Deutschtest und erhalten dann gegebenenfalls in | |
einer Kita Sprachförderung. Und ich glaube, das alles kann Lehrerinnen und | |
Lehrer motivieren, weil sie sagen: In Berlin wird versucht, moderne | |
Schulpolitik zu machen. | |
Es sind jetzt noch zehn Tage bis zur Wahl am 26. September. Die Grünen sind | |
bei manchen Umfrageinstituten aktuell nur noch viertstärkste Kraft, noch | |
hinter den Linken, die SPD hingegen gewinnt hinzu.Wie ist denn so die | |
Stimmung gerade bei den Grünen? | |
Die Stimmung ist jedenfalls besser, als es die Umfragen erscheinen lassen. | |
Und wenn ich draußen auf der Straße unterwegs bin, merke ich auch: Der | |
Klimaschutz, den wir in den Fokus stellen als Grüne – als | |
Alleinstellungsmerkmal übrigens –, der ist in allen Altersgruppen das | |
Megathema. Gerade auch bei Menschen aus der älteren Generation, wenn man | |
mit ihnen über ihre Enkelkinder spricht, die ja in 60, 70 Jahren noch hier | |
auf dem Planeten leben wollen. | |
Aber das Megathema Klima spiegelt sich in den Umfragen für Sie nicht wider. | |
Umfragen sind Momentaufnahmen. Das haben wir auch gesagt, als wir Monat für | |
Monat bombastische Umfragewerte hatten. Es gibt ganz viel Rückenwind von | |
den Leuten auf der Straße. Andererseits gibt es aber auch eine enorme | |
Aggressivität, die ich so noch nie erlebt habe und die sich nicht gegen | |
Themen, sondern gegen uns als Grüne richtet. | |
Was erleben Sie da? | |
Bei meinem Lastenrad ist der Elektromotor mutwillig zerstört worden. Unsere | |
Plakate werden regelmäßig abgerissen. Es gibt einen krassen Gegenwind, der | |
vor allem aus einem sehr rechten Umfeld kommt. Das ist dann schon wieder | |
Ansporn. Wir sind eben die Anti-AfD. | |
Die Verbeamtungsfrage haben Sie mit einem „Ja, aber“ beantwortet: Ja, aber | |
offene Fragen sind noch zu klären. Beim Volksentscheid Deutsche Wohnen und | |
Co. enteignen sagen die Grünen auch „Ja, aber“: Wieso nicht mal eine klare | |
Position? | |
Ich finde unsere Position sehr klar. B[3][ettina Jarasch hat mit dem | |
Mietenschutzschirm] als einzige Spitzenkandidatin einen konkreten Plan, der | |
faire, gemeinwohlorientierte Vermieterinnen und Vermieter belohnt. Wir | |
haben eine politische Antwort auf die Mietenfrage anzubieten, und zwar | |
egal, ob der Volksentscheid am Ende durchkommt oder scheitert. Und wir | |
unterstützen ihn – als Ultima Ratio –, weil wir diesen Druck von der Stra�… | |
brauchen werden, um Verbesserungen für die Mieterinnen und Mieter auch | |
durchzusetzen. Das muss das Ergebnis dieses Volksentscheids sein. | |
16 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
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