| # taz.de -- Neuer Roman von Sven Regener: Herumrudern im Leben | |
| > In „Glitterschnitter“ baut Sven Regener den Herr-Lehmann-Kosmos in | |
| > Richtung Punks und Frauen aus. Sein Schreiben zeugt von tiefer | |
| > Menschenkenntnis. | |
| Bild: Was ließe sich Besseres über Literatur sagen: Autor Sven Regener | |
| [1][Sven Regener] hat ein neues Buch geschrieben. Um es gleich zu sagen: | |
| Dies wird eine Empfehlung. „Glitterschnitter“ ist eine | |
| Selbstverständlichkeit, wenn nicht ein Muss für alle, die sich bereits in | |
| Regeners Kosmos der lebens- und sonst wie künstlerisch ambitionierten | |
| Nichtsnutze hineingearbeitet haben. Alle anderen bekommen jetzt die nächste | |
| schöne Gelegenheit, mit einzusteigen. | |
| Nur zur Orientierung, denn es ist mit der Zeitlichkeit in Regeners Büchern | |
| ein klein wenig wie bei „Star Wars“ – die erzählte Zeit ist eine andere … | |
| die Erscheinungsgeschichte: Seit dem krachenden Erfolg von [2][„Herr | |
| Lehmann“ 2001] – übersetzt in x Sprachen, verfilmt und so weiter – erzä… | |
| Regener dazu teils die Vor- und teils die Nachgeschichte. | |
| Zur Vorgeschichte zählt etwa das ebenfalls erfolgreiche [3][„Neue Vahr | |
| Süd“]. Zur Nachgeschichte gehört das melancholische (und doch so komische) | |
| [4][„Magical Mystery oder: die Rückkehr des Karl Schmidt“]. Vom Zeitpunkt | |
| des Mauerfalls, der in „Herr Lehmann“ das so großartig ignorierte | |
| historische Ereignis hinter dem Kreuzberger Tagesgeschäft von Herrn Lehmann | |
| abgibt, spult Regener also entweder vor oder zurück. | |
| Auch in „Glitterschnitter“ wird noch gespult, denn Musik kommt von | |
| Musikkassetten, Maxell ist besser als BASF, es ist Ende 1980 und Frank | |
| Lehmann seit ein paar Wochen in Westberlin. Er hat die Frühschicht in | |
| Erwins „Café Einfall“ erobert, und Erwin lässt ihn auch mit ein paar | |
| anderen in der Wohnung überm Café in der Wiener Straße wohnen. | |
| ## Verstecktes Lebensmotiv | |
| Rein materiell, wenn auch bestenfalls halbbewusst, wird Lehmann ebenso wie | |
| seine Freunde und Bekannten davon angetrieben, sich keinesfalls dem | |
| offiziellen Westberliner Arbeitsmarkt aussetzen zu müssen. Die Vermeidung | |
| eines (vermeintlich) regulären Lebensunterhalts ist das versteckte | |
| Lebensmotiv in der WG ebenso wie bei der noch in Gründung befindlichen Band | |
| „Glitterschnitter“ und natürlich für die Leute aus der ArschArt-Galerie. | |
| Eine denkbare politische Begründung – Ablehnung von kapitalistischen | |
| Verwertungslogiken oder Ähnliches – kommt bei ihnen allen denkbar kurz, und | |
| zwar vollkommen zu Recht. Es ist dies der liebevollen Einsicht geschuldet, | |
| dass Leute manchmal Lebensweisen anhängen, die als widerständig verstanden | |
| werden, sich nach außen auch bei Bedarf so darstellen – und doch gar nicht | |
| ganz selbst gewählt sind. Unfreiheit in Freiheit. | |
| Wie gut also, dass es Immobilieneigentümer wie Erwin oder ArschArt-Galerist | |
| P. Immel gibt, um die herum man sich scharen kann, und sei es zum Zweck | |
| einer vorgetäuschten Hausbesetzung. P. Immel, der Österreicher mit | |
| Aktionskunst-Anspruch, möchte auch vor seiner Crew aus Mit- und | |
| Halb-Österreichern lieber als Hausbesetzer denn als Hausbesitzer gelten. | |
| Wobei er mit der Finanzierungsfrage der Community schon auch ringt: „Wir | |
| brauchen aber Geld von außerhalb. Wir können uns nicht gegenseitig Bier | |
| verkaufen und das dann austrinken, das haut ökonomisch nicht hin.“ | |
| Erst einmal aber hat P. Immel den Punks im Hinterhaus den Strom abstellen | |
| lassen. Doch die scheitern sogar noch daran – allerdings aus den richtigen | |
| Gründen –, den ArschArt-Leuten aus Rache einen Eimer Fäkalien ins Haus zu | |
| kippen. | |
| ## „Bauern in einem subkulturellen Schachspiel“ | |
| (Nach aktueller Lesart mutet die Behandlung der Punks bei Regener übrigens | |
| reichlich diskriminierend an, punkfeindlich – punkistisch? – würde man | |
| heute vielleicht sagen. Doch in den 80ern waren sie eben die „Bauern in | |
| einem subkulturellen Schachspiel“, wie Raimund später sinniert, | |
| Stimmungs-Söldner, zuverlässig unkontrollierbar und betrunken und, in den | |
| richtigen Worten animiert, zur Beschäftigung von Bourgeoisie und Polizei | |
| wunderbar geeignet. | |
| Sollte diese historische Funktion der Punks in den urbanen sozialen Kämpfen | |
| des ausgehenden 20. Jahrhunderts noch nirgends aufgearbeitet sein, wäre es | |
| unbedingt an der Zeit. Lesetipps werden gern entgegengenommen.) | |
| Gegen Zahlung der Stromrechnung jedenfalls lassen sich die Hinterhaus-Punks | |
| vom begüterten Künstler H.R. Ledigt für das erste Glitterschnitter-Konzert | |
| als Publikum anwerben. Sie sollen für die nötige Atmosphärenverdichtung | |
| sorgen, damit die Band subkulturelles Kapital für die „Wall City Noise“ | |
| aufbaut. Die gehört zur „Wall City Contemporary Arts 1980“, für die auch | |
| H.R. Ledigt ein Kunstwerk herstellen soll. | |
| Die „Wall City“ ist aufgehängt beim Wirtschaftssenator, Abteilung | |
| Fremdenverkehr und Tourismus: Westberlin hat sich schon damals so | |
| aufdringlich als Avantgardeplatz vermarktet wie heute. Neben den | |
| profitvermeidenden Immobilienhaltern Erwin und P. Immel ist die „Wall City“ | |
| der zweite wirtschaftliche Fluchtpunkt von Regeners Sittengemälde. Hier | |
| winken Ruhm und Fördermittel, hierhin strebt das ganze Buch, und es wird | |
| jetzt nicht verraten, ob H.R. Ledigt schließlich dort ausstellen und | |
| Glitterschnitter schließlich dort spielen darf. | |
| ## Post-pennälerhaften Macht- und Schaukämpfe | |
| Wobei das große Wort „Handlung“ nicht geeignet scheint für das, was | |
| Regeners Bücher vorwärtstreibt. Denn auch in „Glitterschnitter“ wird auf | |
| 470 Seiten genau genommen nicht viel mehr als ein Bandauftritt vorbereitet. | |
| Doch gleichzeitig passiert eben so unendlich viel. In rascher Abfolge | |
| springt die Leserin in einen Gedankenstrom nach dem anderen, verfolgt die | |
| post-pennälerhaften Macht- und Schaukämpfe im ArschArt-Kollektiv und das | |
| Drama, in dem sich Chrissie und ihre Mutter aus Gründen des töchterlichen | |
| Erwachsenwerdens trennen. | |
| Es fliegt uns das selbstzweifelnde, trotzige, doch immer bloß dazugehören | |
| wollende Menschsein um die Ohren, wo andere, also Außenstehende, solche, | |
| die nicht gerade Regener lesen, vermutlich nur einen Haufen Wichtignehmer | |
| und Großtuerinnen beim Nicht-aus-dem-Quark-Kommen sähen. | |
| Apropos Großtuerinnen: Das Kapitel Frauen ist natürlich ein schwieriges. | |
| Getragen wird „Glitterschnitter“ wie alle Romane Regeners von dem | |
| klassischen Widerspruch, dass junge und nicht mehr ganz junge, im Verlauf | |
| dann immer weniger junge Helden sich auf die Reise begeben, eine Welt zu | |
| erobern, und dabei sich doch vor allem selbst erkennen – oder jedenfalls | |
| sich selbst klug zu beschreiben lernen. Es ist eine seit der Geburt des | |
| deutschen Entwicklungsromans männliche Geschichte. | |
| Frauen werden auf dem Weg oft bewundert und sind meist rätselhaft, was auch | |
| bei Regener nicht anders ist – nur bieten seine Helden dabei eine Ironie | |
| und tiefe Harmlosigkeit auf, die jede halbwegs geneigte Leserin damit | |
| versöhnen müsste, dass wir vornehmlich in männliche Abgründe schauen und | |
| dabei an sehr jungsigem Nonsense-Humor teilhaben dürfen. | |
| Doch das ist neu: Wir hören in „Glitterschnitter“ erstmals auch Frauen beim | |
| Selbstgespräch zu. Es mag dies ein Zugeständnis sein, dass ein gutes Buch | |
| eigentlich mehrere Perspektiven braucht, und Regener patzt nicht. | |
| ## Warum keine Literaturpreise? | |
| Es ist ein Rätsel, dass Regener für seinen Kreuzberger Zyklus nicht längst | |
| haufenweise Literaturpreise eingesammelt hat. Denkt irgendwer, der Mann | |
| macht doch schon (mit Element of Crime) erfolgreich Musik, der braucht | |
| nicht auch noch Buchpreisgelder? | |
| Es gibt überhaupt niemanden, der die Geheimnisse der linken Subkulturen, | |
| der urbanen Coolness und des allgemeinen Im-Leben-Herumruderns so warm, so | |
| loyal, und gleichzeitig so komisch aufgeschrieben hat wie Regener. Was und | |
| wie er schreibt, zeugt von tiefer Menschenkenntnis. Was ließe sich Besseres | |
| über Literatur sagen. | |
| 10 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Musiker-und-Autor-Sven-Regener-ueber-Jazz/!5751287 | |
| [2] /Sven-Regener-ueber-das-Kreuzberg-der-80er/!5444522 | |
| [3] /Sven-Regener-Verfilmung-in-der-ARD/!5131283 | |
| [4] /Der-neue-Roman-von-Sven-Regener/!5059624 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Winkelmann | |
| ## TAGS | |
| Roman | |
| Sven Regener | |
| 80er Jahre | |
| GNS | |
| Westberlin | |
| Film | |
| Theater | |
| Literatur | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Kolumne Provinzhauptstadt | |
| Sven Regener | |
| Norwegen | |
| Gentrifizierung | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Dokumentarfilm über Element of Crime: Westberliner trifft Norddeutschland | |
| Schauspieler und Regisseur Charly Hübner porträtiert die Band Element of | |
| Crime. „Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin“ ist jetzt im Kino zu sehen. | |
| Thalia-Theater Hamburg: Intervention bei Grünkohl und Bowle | |
| Sven Regener und Leander Haußmann feiern Premiere mit „Intervention!“. Das | |
| Stück mündet in Wortgeschwurbel ohne dramaturgischen Bogen. | |
| Roman über Indierockszene in den 90ern: Topos Jungsband | |
| Die Musiker Rasmus Engler und Jan Müller (Tocotronic) haben einen | |
| unterhaltsamen Roman geschrieben. „Vorglühen“ spielt in der Indieszene St. | |
| Paulis. | |
| Bremer Integrationswoche: Die Kraft des Vorurteils | |
| In der Show „Bremens Super-Gastarbeiter:innen“ geht es um Klischees. Toll, | |
| wie da der Schwachsinn, den man so denkt, rausgekitzelt wird. | |
| Eine Bewerbungsrede: Ach guck, Hannover | |
| Die Kolumnistin ist zurück in der Stadt, in der sie schon mal fast | |
| glücklich war. Und die ist sowieso viel besser als alle denken. | |
| Musiker und Autor Sven Regener über Jazz: „Musik spricht Gefühle an“ | |
| Sven Regener erzählt vom Sound seiner Trompete. Warum er mit ihr seine | |
| Leidenschaft für Jazz neu entfacht hat, und wann er morgens zu brötzen | |
| anfängt. | |
| Literatur aus Norwegen: Verdammt sympathische Spleens | |
| Der norwegische Schriftsteller Dag Solstad hat ein Herz für tragikomische | |
| Sonderlinge. Das dürfte auch Fans von Sven Regener gefallen. | |
| Berliner „Weltrestaurant“ muss schließen: Herr Lehmann sitzt hier nicht me… | |
| Das Kreuzberger „Weltrestaurant“ war Romanvorlage für Sven Regeners Roman | |
| „Herr Lehmann“ und Treffpunkt der Boheme. Jetzt muss der Pächter gehen. |