# taz.de -- Der neue Roman von Sven Regener: Er lässt sie einfach loslabern | |
> Sven Regener ist ein treuer Autor. Seine Figuren behandelt er wie alte | |
> Freunde. In seinem neuen Buch schickt er sie in die Technoszene der | |
> Nachwendezeit. | |
Bild: Willkommen im Mainstream: Techno in den Neunzigern. | |
Einsam, so viel ist schon mal sicher, einsam ist Sven Regener nur selten. | |
Sowohl privat als auch beruflich hat er, als Familienvater und als Mitglied | |
einer Rockband, ausreichend Menschen um sich. Und als würde das nicht | |
genügen, haben sich auch noch die Charaktere der Bücher, die er schreibt, | |
in Menschen verwandelt, die ihn stets begleiten. „Das sind gute Freunde“, | |
sagt er, „die man auch mal ein paar Jahre nicht sieht, aber wenn man sie | |
anruft oder trifft, dann würde schon wieder was gehen.“ | |
Einer dieser Freunde, mit denen immer was geht, trägt den Namen Karl | |
Schmidt. Wer Regeners bisherige Romane, die Trilogie um Herrn Lehmann, | |
kennt, der kennt auch diesen Karl Schmidt. Als bester Freund des Antihelden | |
Frank Lehmann ist er dessen Beschützer, Ersatzbruder, Saufkumpan und | |
Projektionsfläche. Angesichts des phlegmatischen Charakters des | |
Protagonisten rutschte Schmidt in den Lehmann-Romanen immer wieder sogar in | |
die Rolle der treibenden Kraft. Nun, mit Regeners neuem Roman, „Magical | |
Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“, bekommt die frühere Nebenfigur | |
ihre eigene Geschichte. | |
Die beginnt im Jahre 1995, also knapp sechs Jahre nachdem „Herr Lehmann“ | |
mit dem Fall der Berliner Mauer endete. In dieser Nacht des 9. November | |
1989 hatte Karl Schmidt einen offenbar drogeninduzierten | |
Nervenzusammenbruch. Herr Lehmann hatte seinen Freund ins Krankenhaus | |
gebracht und dort zurückgelassen. | |
Sechs Jahre später lebt Karl nicht mehr in Berlin, sondern in einer | |
betreuten WG in Hamburg mit anderen Suchtpatienten, arbeitet als | |
Hilfshausmeister in einem Kinderkurheim, ist runter von allen Drogen und | |
sitzt gerade in Altona in einer Pizzeria, als ihn die Vergangenheit wieder | |
einholt: Raimund Schulte kommt durch die Tür, ein Bekannter von früher, | |
einer aus der mysteriösen Parallelwelt, in der Karl in der Lehmann-Trilogie | |
immer wieder abtauchte. | |
Es war, damals in den späten achtziger Jahren, die Welt der ersten | |
Techno-Partys, als die neuartige „Bumbum-Musik“, wie sie Regeners | |
Protagonisten nennen, noch Acid House hieß und von geheimniskrämerischen | |
Zirkeln in legendenumwobenen Kellerclubs in vom Abriss bedrohten Hausruinen | |
der Noch-Mauerstadt gefeiert wurde. | |
Eine Aufbruchszeit, die in „Herr Lehmann“, der vornehmlich in Kreuzberger | |
Kneipen spielte, nur zu erahnende Hintergrundfolie war. Beim Gespräch in | |
den Räumen seines Verlages in Berlin erzählt Regener von einer Filmszene, | |
die er für die Verfilmung seines ersten Erfolgsromans auf Wunsch der | |
Produzenten geschrieben hatte, die es dann aber doch nicht in den Film von | |
Leander Haußmann geschafft hatte, in dem Christian Ulmen Frank Lehmann und | |
Detlev Buck den Karl Schmidt spielten. | |
Die beiden gehen auf eine frühe Techno-Party, die Kamera fängt nur | |
Trockeneisnebel ein, ab und zu ist eine zuckend tanzende Gestalt zu sehen. | |
„Dann treffen sich alle an dem Tapetentisch, wo es die Getränke gibt“, sagt | |
Regener und freut sich auf die Pointe, „und Frank Lehmann sagt den schönen | |
Satz: Herr Schmidt, ich glaube nicht, dass sich das durchsetzen wird.“ | |
## Aufreiß- und Fickding für Spanner | |
Herr Lehmann hatte sich geirrt. Nur fünf Jahre später ist Techno im | |
Mainstream angekommen und droht, so lässt es Regener einen seiner | |
Protagonisten sagen, zum „Aufreiß- und Fickding für Spanner und Neuköllner | |
Jogginganzugsfreaks“ zu verkommen. Die Love Parade wird zum | |
Millionenereignis, die alten Kumpels von Karl betreiben eine erfolgreiche | |
Plattenfirma, und Raimund will mit einem halben Dutzend DJs und Musikern | |
auf große „Magical Mystery“-Tournee gehen. | |
Dafür braucht er aber einen Aufpasser, der in der Lage ist, eine trink- und | |
drogenaffine Horde durch die Fährnisse einer mehrwöchigen Abenteuerreise | |
durch Amüsiertempel zu bugsieren. Für diese Aufgabe ist Karl, aufgrund | |
seiner Vergangenheit zur Nüchternheit verpflichtet, qualifiziert wie kein | |
Zweiter, findet zumindest Raimund. | |
Karl sagt zu, flüchtet aus seiner geordneten Exjunkie-Welt, in der alles | |
darauf ausgerichtet ist, nicht rückfällig zu werden, und begibt sich samt | |
seiner ihn anfallartig heimsuchenden Depressionen, die er „das dunkle | |
Gefühl“ nennt, zuerst in dieses neue, doppelt so große Berlin und dann | |
ausgerechnet in das Zentrum des Orkans, wo die Partys mit dem „guten alten | |
Bumbum“ schon mal mehrere Tage dauern, die neuen, im Labor entwickelten | |
Drogen dem guten alten Alkohol und dem Haschisch Konkurrenz machen, und die | |
Feierei per Wald-und-Wiesen-Philosophie zum Mittel der Weltverbesserung | |
verklärt wird. | |
Aus dieser etwas konstruierten Experimentieranordnung entwickelt Regener | |
immer wieder seinen absurden, mit viel Lakonie abgefederten Humor, aber | |
auch eine Geschichte, in der – wie bei ihm üblich – nicht eben wahnsinnig | |
viel passiert, die aber einen gehörigen Zug entwickelt. | |
## Ein Arsenal schräger Figuren | |
Dazu tragen zwei Meerschweinchen namens Lolek und Bolek bei, die | |
unfreiwillig mit auf Tour kommen, „der Hit mit der Flöte“, der eigentlich | |
ein Hit mit Saxofon ist, und die DJane Rosa, mit der Karl eine sehr zarte, | |
bisweilen seltsam kühle und ironisch distanzierte, aber für Regener | |
schlussendlich dann doch ungewohnt romantische Liebesgeschichte erleben | |
darf. Für Situationskomik und Dialogwitz zuständig ist ein ganzes Arsenal | |
schräger Figuren wie Werner, der Sozialpädagoge, der Karls mit | |
„Fürsorgefleisch“ besetzte Drogen-WG betreut, sich auf die Fersen seines | |
flüchtigen Klienten begibt und schließlich selbst kräftig mitfeiert, als | |
die Geschichte in einem riesigen Rave kulminiert in der Essener | |
Ruhr-Emscher-Halle, der offensichtlich angelehnt ist an die Mayday in der | |
Dortmunder Westfalenhalle. | |
Trotz vieler solcher Parallelen ist „Magical Mystery“ kein Schlüsselroman, | |
darauf legt Regener Wert. Aber trotz seiner künstlerischen Distanz zur | |
elektronischen Musik ist dem Sänger, Trompeter und Texter der Rockband | |
Element of Crime ein durchaus realistisches Porträt der frühen Techno-Szene | |
gelungen. Er habe, sagt der mittlerweile 52-jährige Regener, zu Beginn der | |
neunziger Jahre in Berlin immer wieder mit den Kollegen aus dem Techno | |
abgehangen, er sei auch gern in die einschlägigen Clubs gegangen: „Die | |
hatten einfach die besseren Partys, da ging die Post ab.“ | |
Dank dieser eigenen Anschauung trifft Regener den Tonfall dieser | |
Idealisten, die plötzlich und zur eigenen Überraschung zu sehr viel Geld | |
gekommen waren. Trotzdem erzählt er als Außenseiter, der er als Rockmusiker | |
ja auch ist, aber mit viel Einfühlungsvermögen. Der literarische Trick, den | |
er dabei benutzt, ist simpel, aber effektiv: Er nimmt die Sicht von Karl | |
ein, die, so Regener, „gezwungenermaßen eine beobachtende ist, weil er wie | |
nach fünf Jahren Tiefkühltruhe rausgekommen ist und alles mit ganz neuen | |
Augen sieht“. | |
Das ist einer von vielen Momenten, in denen Regener von seinen Figuren | |
spricht, als existierten sie wirklich. Als würde der Autor die von ihm | |
entworfenen Charaktere regelmäßig in der Kneipe treffen, wo sie ihm aus | |
ihrem Leben erzählen. „Das sind zwar ausgedachte Figuren, aber für mich | |
mittlerweile lebendige Subjekte“, erklärt Regener. Immer wieder mäandert | |
das Gespräch zu diesen, seinen Geschöpfen. | |
## Wie ein guter Bekannter | |
Dann sitzen Karl, Rosa oder Werner mit am Tisch, Regener sagt, das ist doch | |
klar, warum der da diesen Satz sagt, der ist doch so oder so, und dass er | |
sich da nicht gut fühlt, das kommt daher, dass ihm mal dieses passiert ist. | |
Wie ein guter Bekannter versucht er ihre Motivationen zu erklären, | |
spekuliert über ihr Vorlieben, erinnert sich an ihre Vergangenheit. Man | |
wartet nur noch darauf, dass er seinen Kalender herausholt und nachschlägt, | |
wann genau Karl Schmidt Geburtstag hat. | |
Nein, Sven Regener ist, auch wenn sich das, während man seine Bücher liest, | |
manchmal so anfühlt, kein allwissender Erzähler. Er sagt über seine | |
Protagonisten: „Ich lass die dann einfach mal loslabern.“ | |
Das tun die, erst einmal freigelassen, dann auch in aller denkbaren | |
Ausführlichkeit. Man hat Regener schon öfter vorgeworfen, in seinen | |
dialoglastigen Romanen fehle es an Handlung. Ein Vorwurf, der ihn immer | |
noch in Rage bringt. Dann könne man ja auch Shakespeare Handlungsarmut | |
vorwerfen, grummelt er. | |
Tatsächlich hat Regener schon immer fast systematisch auf Beschreibungen | |
verzichtet und seine Geschichten mit Zwiegesprächen und inneren Monologen | |
vorangetrieben. Aber noch nie war Regener so in seinem Element wie in | |
„Magical Mystery“. Kein Wunder, denn hier hat er Protagonisten zur | |
Verfügung, die angefeuert von Alkohol und Drogen, Feierlaune und | |
Übernächtigung plappern und schwätzen, sabbeln und schwafeln, quasseln und | |
faseln, sich um Kopf und Kragen reden, aber durchaus auch mal was Schlaues | |
sagen. | |
Gute Freunde eben, denen man, wenn man sie denn mal wieder trifft, sehr | |
gerne zuhört. | |
8 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Thomas Winkler | |
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