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# taz.de -- Sven Regener vollendet Herr-Lehmann-Trilogie: Transit in ein neues …
> Umzug nach Berlin, im Gepäck ein Buch und ungewaschene Klamotten: Sven
> Regener vollendet seine Herr-Lehmann-Trilogie mit dem Roman "Der kleine
> Bruder".
Bild: Flapsigkeit und streetwises Durchblickertum: Sven Regener
Das Wort "scheißegal" taucht gleich mehrfach auf im Werk des Musikers,
Songtexters und Romanschriftstellers Sven Regener. Interessanterweise ist
es ziemlich positiv konnotiert.
"Erst wenn alles scheißegal ist / Macht das Leben wieder Spaß", singt der
(auch schon) 47-Jährige in dem Song "Delmenhorst", während seine Band
Element of Crime abgeklärt dazu groovt. Wie zynisch das klingen könnte! Und
wie freundlich das tatsächlich klingt! Wer will, kann hinter der Mischung
aus Flapsigkeit und streetwisem Durchblickertum eine ganze Poetik
herauszaubern. Das hat Lyriker und Literaturwissenschaftler Dirk von
Petersdorff kürzlich getan. In der Monatszeitschrift Merkur tat er Regener
die Weihe an, ihn (neben den Fantastischen Vier, Tocotronic und
selbstverständlich auch Jochen Distelmeyer) als Lyrikerkollegen voll
ernsthaft zu interpretieren. Er arbeitete dabei heraus, was hinter solchen
Versen steht: Einübung von Gelassenheit. "Ich bin jetzt da, wo ich mich
haben will / Und das ist immer Delmenhorst", heißt es auch in dem Song.
Tatsächlich kommt, wer die Erzählhaltung Sven Regeners charakterisieren
will, mit dem Motiv der zur Gelassenheit geläuterten Scheißegal-Haltung
ziemlich weit - auch bei den Romanen.
In "Herr Lehmann", mit dem 2001 alles anfing, ermöglichte diese Haltung
einen nostalgischen, aber keinesfalls süßlichen Blick zurück auf
Westberliner Nischenbefindlichkeiten. Sven Regener hängte dazu gelassen
hochkomische Slapstickszenen aneinander, wobei die Sentimentalität mit
Lakonik durchwirkt war. Neben der Punk-Attitüde steckte in seinem Kreuzberg
der späten Achtzigerjahre eine ganze Menge Delmenhorst.
In "Neue Vahr Süd" - das auch nach dem "Kleinen Bruder" das Kernstück der
Herr-Lehmann-Trilogie bleibt - ermöglichte die Haltung etwas
schriftstellerisch Riskantes: ironische Einblicke in die doch von ihrem
Selbstverständnis her bis aufs Blut um Authentizität ringenden
Siebzigerjahre. Die Bundeswehr beschrieb Regener in all ihrer Spießigkeit
und Ödnis - und entdeckte doch auch hier einen interessanten Menschenzoo
vom Vollidioten bis hin zum ziemlich okayen Typen. Die zerfallenden
K-Gruppen sowie die fast schon rührend unbeholfenen Versuche, in WGs und
Beziehungen ein selbstbestimmtes Leben zu führen, schilderte Regener
dagegen in all ihrer Kleinkariertheit.
Wobei man spätestens hier, um die Mechanik der Bücher zu verstehen, auf
ihren Helden zu sprechen kommen muss. Während der Erzähler stets gelassen
bleibt, bringt dieser Frank Lehmann stets Dynamik hinein. Im Grunde möchte
er nur, dass alles (das Leben, das Wohnen in der WG, das soziale Geben und
Nehmen) einigermaßen vernünftig abläuft; tatsächlich findet er sich selbst
aber immer wieder in die Tücke der jeweiligen Situationen verstrickt.
Die Mitmenschen haben einen Eigenwillen, oft gibt es auch sonst Dinge zu
beachten, deren Tragweite man zunächst gar nicht recht durchschaut; nicht
umsonst verpennt es Frank Lehmann in "Neue Vahr Süd", rechtzeitig den
Kriegsdienst zu verweigern. Manchmal muss er sich auch selbst ermahnen,
dass vorschnelles Die-Klappe-Aufreißen auch nichts bringt. Für große
Lebensentwürfe ist Frank Lehmann nicht gemacht. Das Lavieren innerhalb
vorgegebener Situationen fordert bei ihm schon den ganzen Mann.
Diese Konstellation ändert sich auch in dem neuen Roman keineswegs.
Ziemlich zu Beginn fragt Frank Lehmann seinen Punkerkumpel Wolli, den man
bereits aus "Neue Vahr Süd" kennt und der ihn jetzt beim Umzug nach Berlin
begleitet (im Gepäck: ein Buch und ein paar Klamotten, alle ungewaschen),
was man in Berlin falsch machen könne. Wolli, schon mal da gewesen,
antwortet: "Nee … Das ist ja das Gute hier: Hier kann man nichts falsch
machen. Hier ist alles scheißegal!" Allerdings ist das noch keine zur
Gelassenheit geläuterte Scheißegal-Haltung. "Muss man nichts wissen oder
beachten oder so?", hakt Frank Lehmann nach. Und Wolli sagt: "Nee … In
Berlin wohnen ist wie Tubaspielen: Hauptsache, du pupst ordentlich rum!"
Das ist eine dieser Stellen, für die man den Erzähler Sven Regener
unbedingt verehren muss. Nicht nur weil er damit bereits diesen Umzug so
wunderbar gnadenlos heruntergekocht hat ("nach Berlin zu seinem dort
wohnenden Bruder zu fahren und ein neues Leben anzufangen, … das war sein
Plan", stellt der Erzähler lakonisch fest), sondern auch, weil in dieser
knappen Dialogstelle die gesamte Ausgangslage des Romans umrissen ist.
Frank Lehmann, gerade mit Müh und Not und mithilfe eines vorgetäuschten
Selbstmordversuchs der Bundeswehr und Bremen entkommen, beginnt sich Sorgen
zu machen, was nun wohl wieder alles auf ihn zukommen wird - und wird auf
Menschen stoßen, die ihr eigenes Ding durchziehen und dabei gerne fünfe
gerade sein lassen. Die Bühne für eine weitere Abfolge gelassen
aneinandergehängter Lehmann-Szenen ist bereitet.
Damit ist von Anfang an aber auch klar, was "Der kleine Bruder" nicht ist:
Er ist nicht der große panoramische Roman über das Berlin der frühen
Achtzigerjahre. Mauerstadt! Kohleöfen! David Bowie! FU! Christiane F.! SO
36! Von da aus wäre auch eine Dramaturgie der erst gesteigerten, dann
enttäuschten Erwartungen möglich gewesen. Aber wer in dem neuen Roman so
etwas sucht, hat die Rechnung ohne Sven Regener gemacht. So eine
Dramaturgie wird ihm viel zu ausgedacht und plastikmäßig, kurz: viel zu
literarisch vorgekommen sein. Darüber hinaus hat er beim Schreiben
erkennbar viel zu viel Spaß daran gehabt, den heldischen Geschichten ganz
en passant die Luft rauszulassen. Die Hausbesetzerszene: verkappte
Bürgerkinder. Die Punkszene: alles Hippies. Die Künstlerszene: viel
Scharlatanerie, klar (wobei Sven Regener hier aber am differenziertesten
vorgeht). Die Politszene: Demos als Partys. Sie alle bekommen ordentlich
ihr Fett weg. Damit ist man tief drin in dem Bereich, der einem Regener
zufolge ganz gelassen scheißegal sein muss, damit das Leben wieder Spaß
macht: Am Mitschreiben der großen Erzählungen von Befreiung und wahrem
Leben hat dieser Autor gar kein Interesse.
Stattdessen hält er seinem Frank Lehmann die Treue. Was man mit dem
"Kleinen Bruder" kriegt: viele weitere hochkomische und versteckt auch ein
klein wenig sentimentalische Herr-Lehmann-Szenen. Großartig etwa die
Ouzo-Episode beim Griechen oder die Szene in der Wiener Straße, in der
Frank Lehmann sein Talent als Tresenkraft entdeckt. Allerdings darf nicht
unerwähnt bleiben, dass "Der kleine Bruder" keineswegs der stärkste Roman
der Trilogie ist. Eine so gelungene Projektionsfigur wie die schöne Köchin
aus "Herr Lehmann" kann man ebenso vermissen wie den epischen Atem von
"Neue Vahr Süd". Zumal der rote Faden - die Suche nach dem Bruder, an dem
Sven Regener die als Tour de Force erzählten ersten 36 Stunden Frank
Lehmanns in Berlin aufhängt - auf die Dauer bemüht wirkt.
Von der zeitlichen Abfolge her ist "Der kleine Bruder" das Zwischenstück
der beiden anderen Romane - und so erfährt man brav, dass Erwin schon
damals alles im Griff hatte und dass Karl schon damals viel trank; in das
Personal des "Herr Lehmann"-Romans stolpern Held wie Leser schnell hinein.
Tatsächlich aber ist "Der kleine Bruder" eher Ausklang und Fade-out der
Trilogie. Regener macht erzählerisch kein neues Fass mehr auf, sondern den
Sack zu. Mit dem "Kleinen Bruder" weiß man nun wirklich, dass das hier
keine Entwicklungsgeschichte ist. Wie es bei Element of Crime heißt: "Alles
geht immer irgendwie weiter." Bei Herrn Lehmann ist schon immer alles
irgendwie weitergegangen. Auch im Formalen hat Sven Regener einiges
deutlicher gezogen: noch spartanischere Beschreibungen, dafür noch mehr
lakonische Dialoge und noch ausführlichere innere Reflexionen.
Macht aber alles nichts. Im Ganzen steht die Herr-Lehmann-Trilogie nun wie
eine Eins in der Bücherlandschaft. Ein Werk, an dem man sehr schön
klarmachen kann, dass Bücher nicht unbedingt angestrengt nach Literatur
aussehen müssen, um interessant zu sein (weshalb es eigentlich doch schade
ist, dass "Der kleine Bruder" nicht auf die Longlist zum Buchpreis gesetzt
wurde). Schon bei den beiden vorausgegangenen Büchern gab es den Effekt,
dass man erst einmal beschwingt vor sich hin las - und erst im Nachhinein
merkte, wie viel man wie nebenbei aus der jeweiligen Zeit erfahren hatte.
Das ist nun beim "Kleinen Bruder" auch so. Was Berlin einmal war, das kann
man hier gut erfahren: tatsächlich ein Ort, um ein neues Leben anzufangen -
der aber in Wirklichkeit zugleich jegliche Verheißung, die damit verbunden
sein könnte, ziemlich dämpfte.
Die Legende will es, und Sven Regener erzählt sie auch jedem, dass dieser
Frank Lehmann seinem Autor gleichsam zugelaufen sei. Tatsächlich hat
Regener das erste Kapitel des ersten Romans - man erinnert sich: das mit
dem großen Hund auf dem Lausitzer Platz- zunächst als Kurzgeschichte
geschrieben, bevor daraus der Nukleus einer ganzen Trilogie wurde. Man
könnte glatt ein wenig sentimental werden, wenn man dieses Kapitel nun vom
Ende her noch einmal liest. Alles, was die Trilogie ausmacht, ist darin
bereits angelegt - sowohl das gelassene Erzählen als auch das
Verstricktsein in seltsame Situationen, deren Möglichkeiten Herr Lehmann
aber immer erst einmal sorgfältig erkundet, bevor er zu Handlungen
schreitet.
Das Kapitel endet damit, dass Herr Lehmann von tierfreundlichen Polizisten
gerettet wird, die dann ihrerseits von dem Hund gebissen werden. Der letzte
Satz: "Herr Lehmann ging schnell weiter und lachte erst, als er um die Ecke
war." In dieser sorgsamen Verzögerung liegt bereits der ganze Frank
Lehmann. Und gar nicht scheißegal, sondern vielmehr sehr schön, um wie
viele Ecken Sven Regener uns Leser seitdem mitgenommen hat.
29 Aug 2008
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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