| # taz.de -- Sven Regener über das Kreuzberg der 80er: „Scheißegal, ob ihr u… | |
| > In Sven Regeners neuem Roman „Wiener Straße“ geht es um umgehängte | |
| > Schwangerschaftsbäuche, goldenes Handwerk und die Jungs von der | |
| > ArschArt-Galerie. | |
| Bild: „Ich habe einen Sinn für Arbeit und Berufe“, sagt Sven Regener. „A… | |
| Das Schwarze Café in Berlin-Charlottenburg, erste Etage, hintere Ecke, ein | |
| Augustnachmittag. Sven Regener sitzt vor einer großen Tasse Milchkaffee. | |
| „Es muss 30 Jahre her sein, dass ich zum letzten Mal hier war, 1986 oder | |
| 1987. Es hat sich aber nichts verändert“, sagt er. In Vorwendezeiten war | |
| diese Kneipe Treffpunkt der Boheme. Wenn die Nacht zu Ende war, ging man | |
| hierher. Das Schwarze Café hatte immer auf. | |
| taz: Herr Regener, Ihr neuer Roman „Wiener Straße“ spielt in den achtziger | |
| Jahren in Berlin-Kreuzberg. Wenn man das Buch als historischen Roman liest | |
| . . . | |
| Sven Regener: Ja, es ist ein historischer Roman. | |
| . . . dann stellt sich die Frage: Ging es Ihnen darum, einmal mehr dieses | |
| merkwürdige Westberlin vor dem Mauerfall zu fassen zu kriegen? | |
| Das interessiert mich gar nicht. Es ist mir total fremd, „das Kreuzberg der | |
| Achtziger“ beschreiben zu wollen. Da wohnten damals 140.000 Leute und heute | |
| noch mehr, wie will man das denn bitte fassen? Die Leute sind so | |
| unterschiedlich, die hier leben! Da gibt es so viele Parallelwelten, | |
| eigentlich ist jeder Einzelne ein Freak. Erst mal finde ich es interessant, | |
| wenn man dem Spiel des Schicksals einfach nur zuschaut. Wenn man sich | |
| ansieht, dass die Leute auf seltsame Art und Weise miteinander verstrickt | |
| sind und dann eins zum anderen führt. So kommt man weg davon, die Figuren | |
| immer gleich zu beurteilen. Ich hasse es, wenn Literatur eine Wertung | |
| impliziert, wenn der Leser manipuliert wird. | |
| Von Ihren Romanfiguren kann man sagen: Sie sind nah dran an einem | |
| bestimmten soziologischen Milieu. | |
| Ich bin kein Soziologe, ich bin Künstler, und ich schreibe Romane, keine | |
| Sachbücher. Soziologie spiegelt sich in der Kunst wider. Ich habe aber | |
| keine soziologische Aussageabsicht. Kunst hat ihren eigenen Sinn, sie muss | |
| sich nicht rechtfertigen, indem sie anderes transportiert. Für das Handeln | |
| der Personen gibt es soziologische, politische, wirtschaftliche und | |
| kulturelle Ursachen, aber auch individuelle, die wir gar nicht ergründen | |
| können, von denen wir gar nicht wissen, wo sie herkommen. | |
| Das ist das Entscheidende an der Kunst, dass wir mit dem hantieren, das man | |
| nicht benennen kann, das wir auch nicht verstehen. Die dunklen Seiten des | |
| Bewusstseins, und damit meine ich nicht die düsteren oder die bösen Seiten, | |
| sondern die abgewandte Seite des Mondes, die man nie sehen kann. Man kann | |
| nicht von den Einzelnen auf alle anderen schließen, das wäre wirklich | |
| unwahr. | |
| Wahr ist das Kreuzberger Hängertum, die Idee, jeder sei ein Künstler. | |
| Es könnte sein, dass es jemanden gibt, der über „Wiener Straße“ sagt, er | |
| habe diese Zeit anders erlebt. Wenn jemand vor allem in der | |
| Hausbesetzerszene und auf Demos unterwegs war, könnte er sagen: Wovon redet | |
| dieser Typ? Warum gehen die Leute in diesem Roman nie auf eine Demo? Das | |
| wäre ein berechtigter Einwand. Die Kunstleute haben die Hausbesetzer | |
| verachtet. Und umgekehrt. | |
| Ihr alter Held Frank Lehmann taucht nur als Nebenfigur auf. War es | |
| schwierig, eine andere Erzählperspektive zu wählen? | |
| Die Idee für das neue Buch kam mir durch die Situation am Ende meines | |
| Romans „Der kleine Bruder“: Da sind alle Figuren dazu verdammt, in diese | |
| eine Wohnung einzuziehen. Das ist eine typische Sitcom-Situation. Alle | |
| leben auf engem Raum zusammen – und arbeiten da möglichst auch noch: | |
| Kneipenbesitzer Erwin und das Künstlerkollektiv der ArschArt-Galerie. | |
| Es gibt keinen auktorialen Erzähler. Sie springen zwischen den | |
| Innenperspektiven der jeweiligen Figuren. | |
| Es macht Spaß, sich damit zu beschäftigen, was die Figuren gerade denken, | |
| wie sie drauf sind – und was sie dann tatsächlich sagen. | |
| Muss ein Buch Sie beim Schreiben selbst unterhalten? | |
| Na klar, wenn das nicht interessant ist, wie soll das denn gehen? Das ist | |
| ja furchtbare Arbeit, wenn das keinen Spaß macht, da geh ich ja lieber auf | |
| dem Bau arbeiten. Ehrlich. Jeff Mulligan, mein englischer Verleger, sagte | |
| mir mal, es gebe ein Wort im Deutschen, das er wirklich nicht verstehe: | |
| Unterhaltungsliteratur. Was ist dann der Rest? Was soll denn das für eine | |
| Literatur sein, die nicht unterhält? | |
| Ist es eine Genugtuung, dass Ihr sehr unterhaltsamer Roman auf der Longlist | |
| des Deutschen Buchpreises steht? | |
| Genugtuung würde ich nicht sagen, ich hatte das ja nie auf der Rechnung. | |
| Obwohl ich glaube, ich war damals mit „Herr Lehmann“ für den Vorgänger des | |
| Deutschen Buchpreises nominiert, zusammen mit Frank Goosen und Juli Zeh. | |
| Den hat dann Juli Zeh bekommen. Aber das war damals irgendwie auch noch | |
| nicht so eine dicke Sause. | |
| Ihr Humor geht ins Groteske. Ist Loriot ein Vorbild? | |
| Ich bin auch der Koautor und Koregisseur von „Hai-Alarm am Müggelsee“. Ich | |
| habe eine große Liebe zum Unsinn und zum Slapstick. Das Problem ist, dass | |
| sich diese Liebe im Literaturbetrieb oft rechtfertigen muss. Es gibt den | |
| hässlichen Begriff des „Humoristen“. Den finde ich unangenehm, weil er | |
| erstens bedeutet, Humor haben die anderen nicht. Und zweitens behauptet er, | |
| dass man etwas machen würde, nur um jemand zum Lachen zu bringen. Auch | |
| hinter dem Slapstick stecken Erkenntnisse, die man aber natürlich, wie | |
| überhaupt immer, nicht unbedingt teilen muss. | |
| Die meisten Männer im Roman sind ein bisschen jämmerlich. | |
| Wenn es etwas zu lachen geben soll, muss es auch jemanden geben, über den | |
| man lachen kann. Die Frage ist, ob man sich so weit mit den Leuten | |
| identifizieren kann, dass man damit auch über sich selbst lacht. Das ist | |
| eine wichtige Funktion von so einem Buch, dass man sich von der eigenen | |
| Existenz durch Erkennen ihrer Lächerlichkeit distanzieren kann. Dann ist es | |
| gelungen. Im Kabarett passiert es oft, dass die im Saal so viel schlauer | |
| sind als die, über die sie lachen. Die Idioten sind immer die anderen. | |
| Welche Funktion hat das Berlinern für Ihre Figuren? | |
| Es wird genutzt, um an bestimmten Punkten Angst zu vertuschen, um Sachen | |
| aggressiver zu bringen oder um Aussagen zu verniedlichen. Wenn H. R. Ledigt | |
| eine Kassiererin im Baumarkt trifft, die ihn auf Berlinerisch verhöhnt, | |
| dann interessiert mich diese Art von Begegnung. Das Berlinern kann auch so | |
| eine Wir-sind-wir-Haltung übermitteln: Ich gehöre hier zur | |
| Mehrheitsgesellschaft, ich bin einer von den richtijen, weeßte. | |
| „Simulation“ war eine der wichtigsten Denkfiguren der Achtziger. In „Wien… | |
| Straße“ gibt es eine Szene, bei der ein österreichischer Freelancer des ZDF | |
| eine Reportage mit den Leuten der ArschArt-Galerie dreht. Die spielen sich | |
| selbst als Hausbesetzer. Am Ende steigen sie aufs Dach des Hauses, um dem | |
| Ganzen noch mehr Authentizität zu verleihen. | |
| Wichtig ist, dass André Prohaska – so heißt der Journalist – diese Leute … | |
| Ende liebt und bewundert: So eine spontane Performance können auch wirklich | |
| nur österreichische Künstler hinlegen, denkt er stolz, er ist ja selber | |
| Österreicher. Wie sie auf der Klaviatur der Kunst und ihrer Möglichkeiten | |
| spielen, fasziniert ihn, obwohl er dabei eigentlich der Verarschte ist. | |
| Interessant ist: Diese Art von Performances, von Bildender Kunst, ist ja | |
| nichts, das es in den 50ern, 60ern und 70ern nicht auch schon gegeben | |
| hätte, nur damals sehr viel akademisierter und elitärer. Nun aber kam diese | |
| Punkrockhaltung in die Bildende Kunst – und damit fand eine | |
| Entakademisierung statt. Jetzt konnte jeder Trottel mitmachen. Diese | |
| Künstler haben gesagt, es ist uns scheißegal, ob ihr uns das abnehmt oder | |
| nicht. Diese Haltung fand ich damals großartig: Wir erklären nicht mehr, | |
| was wir tun. | |
| Was in „Wiener Straße“ wieder auffällt, ist Ihre Faszination fürs Handwe… | |
| Ich habe einen Sinn für Arbeit und Berufe. Aber nicht so sehr für ihre | |
| Gegenstände, sondern dafür, was die Arbeit mit den Menschen macht. In | |
| Westberlin waren die Auftragsbücher der Handwerker Jahre im Voraus voll, | |
| weil es einen Handwerkermangel gab. Jeder, der was Vernünftiges gelernt | |
| hatte, ist ja sofort weggegangen aus der Stadt. Die Handwerker waren die | |
| Könige und konnten machen, was sie wollten. | |
| Ihre Namenswahl ist akribisch. Die Hebamme, die Männern einen | |
| Schwangerschaftsbauch zum Umhängen verschreibt, heißt Heidrun. Das evoziert | |
| eine Frau aus einer bestimmten Generation, die auf sehr deutsche Weise | |
| esoterisch ist. | |
| Unter den Frauen, die in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern | |
| geboren wurden, gab es viele Heidruns. Unter den Jungs in meinem Alter sehr | |
| viele Jürgens und Michaels. In den Siebzigern kam dann irgendwann Sven auf. | |
| Zu spät für mich. In den sechziger Jahren war der Name unbekannt. Oma hat | |
| ihn bis zum Schluss falsch geschrieben. | |
| Wie denn? | |
| Zwen, wie auch immer. Die Lehrer haben mich Jens genannt, als ich | |
| eingeschult wurde. Sven kannten sie nicht. Ich weiß nicht, wie meine Mutter | |
| darauf kam. Ich bin wahrscheinlich der älteste Sven in Deutschland. | |
| 6 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
| Jens Uthoff | |
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