Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Soli-Lesung für Deniz Yücel in Berlin: Wut und Hoffnung
> Freunde und Bekannte des inhaftierten Journalisten lesen im Festsaal
> Kreuzberg dessen Texte. Ein Abend, der unter die Haut geht.
Bild: Deniz heißt Meer
Berlin taz | Wer hätte gedacht, dass an diesem Abend noch so gelacht wird?
Denn der Anlass, zu dem sich an diesem Abend mehr als 800 Leute in den
Festsaal Kreuzberg drängen, während die Schlange derer, die noch
reinwollen, bis zur Straße reicht, ist ein denkbar trauriger. Seit vier
Wochen sitzt der Journalist Deniz Yücel in der Türkei in Untersuchungshaft
und es ist nicht absehbar, wann er freigelassen wird. Erst am Mittwoch hat
das Istanbuler Amtsgericht den [1][Einspruch gegen den Haftbefehl
abgelehnt].
Deshalb haben die Freund*innen des Journalisten zusammen mit den Zeitungen
und Verlagen, für die Yücel schreibt und geschrieben hat, eine Soli-Lesung
unter dem Motto „Beste Deniz wo gibt“ organisiert. „Das Wenigste, was wir
tun können, ist, unsere Stimmen stellvertretend für ihn zu erheben, damit
er weiß, dass er nicht allein ist“, sagt die Publizistin Mely Kiyak zu
Beginn der Veranstaltung.
Also lesen sie die Kolumnen, die Deniz Yücel für die taz geschrieben hat,
Texte, die unter einem Pseydonym in der Jungle World erschienen sind, einen
Artikel in der Welt, der ihm von der türkischen Staatsanwaltschaft zum
Vorwurf gemacht wird, und Ausschnitte über die Gezi-Proteste aus seinem
Buch „Taksim ist überall“. Es ist still im Publikum, das zumeist auf dem
Boden sitzt.
## Als würde Lachen befreien
Deniz Yücels Texte unter dem Wissen zu lesen, dass er im Gefängnis von
Silivri in Einzelhaft sitzt, ist traurig – doch nichts im Vergleich dazu,
wenn seine früheren Kolleg*innen sie vortragen. Was Özlem Topçu, Doris
Akrap, Andreas Rüttenauer, Mely Kiyak, Margarete Stokowski, Sven Regener
und viele andere Kulturschaffende vorlesen, geht unter die Haut.
Und der Abend bekommt eine gefährliche Schlagseite, als Shahak Shapira aus
„Taksim ist überall“ die Geschichte des 19-jährigen Ali Ismail Korkmaz
vorliest, der bei den Gezi-Protesten sein Leben verloren hat. Da wischt
sich schon der ein oder andere die Augen. Und dass Özlem Topçu immer wieder
Deniz Yücels Satz „Dieses Land ist komplett irre“ wiederholt – ein Satz …
[2][einem taz-Kommentar nach Gezi], in dem so viel Wut und Hoffnung
mitschwingt -, macht es nicht besser.
Doch dann trägt Jens Friebe „Ich geh ooch ma zum Döner“ vor, [3][Deniz
Yücels Reportage] von einer der frühen Pegida-Demonstrationen im Dezember
2014. Wie Yücel die „besorgten Bürger“ beschreibt, die alles sind, nur
keine Nazis, ist unheimlich komisch. Dann wird es noch lustiger, denn es
folgen [4][die Vuvuzela-Kolumnen], die der Journalist zur WM 2010 in der
taz geschrieben hat. Boagurk, Gurksteiger, Gürkzil – das Publikum lacht bei
jeder Vergurkung von Fußballernamen, als würde Lachen befreien.
## In allem schwingt Hoffnung mit
Die Realität holt das Publikum ein, nachdem Margarete Stokowski Deniz
Yücels rührend komische [5][Liebeserklärung an den Autokorso] vorgetragen
hat. Doris Akrap von der taz und Daniel-Dylan Böhmer von der Welt lesen aus
dem Protokoll von Deniz Yücels Vernehmung vor – der einzige Text an diesem
Abend, den nicht der inhaftierte Journalist geschrieben hat.
Schlagartig ist es wieder 2017 und Deniz Yücel sitzt im
Hochsicherheitsgefängnis. Was Akrap und Böhmer da in nüchterner
Behördensprache wiedergeben, verdient ein Prädikat, das man besser sparsam
verwendet: Es ist kafkaesk. Vor dem Haftrichter muss sich Deniz Yücel für
einen Witz und das Wort „Hütchenspieler“ in einer Zwischenüberschrift
rechtfertigen. Und dafür, dass er den zweithöchsten PKK-Funktionär Cemil
Bayık interviewt hat – also seinen Job gemacht hat.
„Mein Ziel war es nie, Propaganda zu machen. Als ich in Deutschland war,
kritisierte ich die deutsche Regierung. Die Aufgabe eines Journalisten ist
es, diejenigen zu kritisieren, die gerade an der Macht sind – egal wer“,
zitiert Doris Akrap den Journalisten in seiner Vernehmung. Und: „Ich habe
nicht gesagt, dass ich mein Land mit all seinen Fehlern, sondern, dass ich
es trotz all seiner Fehler und Mängel liebe.“
Das ist zum Verzweifeln; und doch schwingt in allem, was an diesem Abend im
Festsaal Kreuzberg von Deniz Yücel vorgelesen wurde, ein wenig Hoffnung
mit. Wie er am Ende seines taz-Kommentars „Ein irres Land“ schreibt:
„Dieses Land wird nicht mehr dasselbe sein. Schön wär's. Aber man weiß nie.
Denn dieses Land ist komplett irre.“
16 Mar 2017
## LINKS
[1] /Einspruch-gegen-Haftbefehl-abgelehnt/!5392932/
[2] /!5065271/
[3] /!5026039/
[4] /Archiv-Suche/!5139433&s=sch%C3%A4mt+euch+ihr+gurken/
[5] http://jungle-world.com/artikel/2006/24/17651.html
## AUTOREN
Elisabeth Kimmerle
## TAGS
Schwerpunkt Deniz Yücel
Pressefreiheit in der Türkei
Schwerpunkt Deniz Yücel
Sven Regener
Schwerpunkt Deniz Yücel
Schwerpunkt Deniz Yücel
Schwerpunkt Deniz Yücel
Ahmet Şık
Schwerpunkt Deniz Yücel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Solidarität für Deniz Yücel: Politisches Rauchen
150 Menschen zündeten sich am Dienstag Zigaretten an, um bei „Rauchen für
Deniz“ an den in der Türkei inhaftierten Journalisten zu erinnern.
Sven Regener über das Kreuzberg der 80er: „Scheißegal, ob ihr uns das abneh…
In Sven Regeners neuem Roman „Wiener Straße“ geht es um umgehängte
Schwangerschaftsbäuche, goldenes Handwerk und die Jungs von der
ArschArt-Galerie.
Inhaftierte in der Türkei: Weiterhin kein Zugang zu Deniz Yücel
Bis heute sei es umöglich, Yücel und andere deutsch-türkische Bürger in
U-Haft zu betreuen, so ein Sprecher des Außenamts. Dabei gab es Zusagen von
höchster Stelle.
Türkischer Präsident über Journalisten: Deniz Yücel ist „Terror-Agent“
Die Lage für den seit drei Wochen in Untersuchungshaft sitzenden
Journalisten Deniz Yücel verschärft sich. Der türkische Präsident
bezeichnet ihn als Terror-Helfer.
Einspruch gegen Haftbefehl abgelehnt: Deniz Yücel bleibt in Haft
Der Einspruch gegen den Haftbefehl für den „Welt“-Korrespondenten ist von
einem Gericht abgelehnt worden. Der nächste Schritt ist das
Verfassungsgericht.
Yonca Şık über inhaftierte Journalisten: „Ahmet sagt nur die Wahrheit“
Ahmet Şık sitzt wie Deniz Yücel im Gefängnis von Silivri, Block 9. Seine
Frau Yonca Şık im Gespräch über Journalismus, Folter und Hoffnung.
Deniz Yücel im Hochsicherheitsgefängnis: Er kann dort Freunde finden
Unsere Autorin kennt zum ersten Mal jemanden, der im Gefängnis sitzt: Deniz
Yücel, ihr Freund. Er lacht, also versucht sie es auch.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.