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# taz.de -- Roman über Indierockszene in den 90ern: Topos Jungsband
> Die Musiker Rasmus Engler und Jan Müller (Tocotronic) haben einen
> unterhaltsamen Roman geschrieben. „Vorglühen“ spielt in der Indieszene
> St. Paulis.
Bild: Kennt sich aus im Alltag junger Menschen: Tocotronic-Bassist Jan Müller
Ehe sich die Dinge im Umfeld des Neu-Hamburgers Albert einigermaßen
zurechtruckeln, muss ganz schön viel Wasser die Elbe herunterfließen.
Albert, Protagonist des Romans „Vorglühen“, kommt Anfang der Neunziger zum
Studieren nach Hamburg-Barmbek und stürzt sich kopfüber in die Band- und
Alternativszene St. Paulis, wo er kurze Zeit später auch in einer WG
landet.
Albert Bremer, wie er mit vollem Namen heißt („Wieso bin ich eigentlich
nicht nach Bremen gezogen, das hätte doch besser gepasst“), wird alsbald
Gitarrist einer Band, die in der Findungsphase ist (wie auch die Mitglieder
Susesch, Claus, Gernot und er selbst in der Findungsphase des
Erwachsenenlebens sind).
Dass die Band sich auf keinen Namen einigen kann, ist noch das geringste
Problem, wenn der von Gernot provisorisch festgelegte Name „Rundstück Warm“
auch kontrovers diskutiert wird. Eher hakt es hier und da mal im
Zwischenmenschlichen. Und dann trifft Albert auch noch auf die rätselhafte
Diana, in die er sich im Comicladen verknallt.
Indie, Punk, Hamburger Schule, die Neunziger – davon handelt der Roman
„Vorglühen“, den zwei Autoren gemeinsam geschrieben haben, die wissen,
wovon sie sprechen: Jan Müller und Rasmus Engler spielen zusammen in der
Band mit dem tadellosen Namen Das Bierbeben (die allerdings seit längerer
Zeit pausiert), Müller kennt man besser als Bassisten der – in Hamburg
gegründeten – [1][Band Tocotronic] und neuerdings als Podcaster
(„Reflektor“). Engler ist zudem Schlagzeuger der [2][Gruppe Herrenmagazin]
und arbeitet im Club Uebel&Gefährlich in St. Pauli.
## „Hirnverbrannt“ und „völlig panne“
Müller und Engler setzen den alternativen Nineties ein Denkmal; und nicht
nur für jene, die dabei waren, dürfte das oft amüsant sein. Einliterdosen
Faxe werden geleert („‚Faxe, bist du irre?‘, rief Gernot“), im Radio l�…
2 Unlimited, es gibt Mitfahrzentralen statt Uber, es wird mit Telefonkarten
telefoniert und Leute sind tatsächlich manchmal einfach nicht erreichbar.
Auch die Sprache der Neunziger wird hier lebendig, Leute sind
„hirnverbrannt“, „imbezil“, „geistesgestört“ oder schlicht „völ…
In manchen Momenten weht sogar ein Hauch von Sven-Regener-Humor durch diese
St.-Pauli-Szenerie, etwa wenn sich die Protagonisten im Proberaum über
Belanglosigkeiten austauschen.
Es geht dem – gut harmonierenden – Autorenduo weniger darum, die
popkulturelle Bedeutung Hamburgs zu würdigen, als vielmehr darum, lebendig
zu erzählen, wie der Alltag der jungen Menschen aussah, die damals nach
Hamburg zogen. Real existierende Bands werden wenig genannt – Hrubesch
Youth kommt an einer Stelle vor, ansonsten darf man sich an überwiegend
fiktiven Bands und Bandnamen erfreuen.
Die große Stärke des Buchs ist es dann auch, den sozialen Topos Jungsband
bis ins Detail auszuleuchten. Die Konkurrenz zwischen Claus und Albert wird
etwa gut beobachtet: Claus ist zunächst Bandleader, ehe Albert ihm den Rang
abläuft – eine narzisstische Kränkung, die Claus erst mal verdauen muss.
## Vergleichsweise sorglos
Nicht zu unterschätzen sind auch die unterschwelligen politischen Töne in
diesem Roman, etwa wenn es um die unverhohlene „Ausländerfeindlichkeit“
(wie man damals gesagt hätte) Anfang der Neunziger geht. Als Albert bei
seinem Nebenjob als Paketzusteller neben einer Kollegin sitzt, sagt sie:
„‚Für mich ist klar: Nur noch Republikaner bei jeder Wahl. So geht es nicht
weiter.‘ Demonstrativ starrte sie die Frauen mit den Kopftüchern an. Albert
verließ die Kantine und machte sich auf den Weg zur Sortierrampe.“
Doch fällt im Vergleich zu heute auf, wie vergleichsweise sorglos die junge
Generation in politischer Hinsicht war. So ist Albert auch eigentlich ein
einigermaßen unpolitischer Typ, an einer Stelle fragt er sich: „Gibt es
überhaupt noch Atomwaffen, oder haben sie die alle abgerüstet? Ich bin
wirklich schlecht informiert. Vieles ist ja ohnehin nicht herauszufinden.
Wer weiß schon, was mit all dem Plutonium aus den Sprengköpfen passiert
ist. Geheime Zutat für das superscharfe Pulver vom Pide-Mann? Welche Farbe
hat eigentlich Plutonium? Und was ist eigentlich mit Claus? Warum ist der
nie hier?“
Dass die 90er einmal eine Projektionsfläche für Sehnsüchte sein könnten,
hätte man damals eigentlich nicht gedacht – zumal das Jahrzehnt ja nicht
nur eine blühende linke Subkultur hervorbrachte, sondern auch Nationalismus
und Naziterror. Dass diese Renaissance aber zum jetzigen Zeitpunkt kommt,
überrascht wenig. Zum einen hat es natürlich damit zu tun, dass all die
Pop-Protagonisten – ob von Techno, Hamburger Schule, Grunge oder Riot Grrrl
– im besten bücherschreibfähigen Alter sind.
Zum anderen sind die 2020er eine Ära von Krisen, die die Generation von
Albert Bremer in dieser Größenordnung noch nicht erlebt hat. Auch waren die
Moraldebatten nicht annähernd so aufgeladen wie heute. Da kann der
90er-Planet schon mal erste eskapistische Wahl sein.
Jan Müller und Rasmus Engler entfliehen der Gegenwart auf sehr
unterhaltsame Art und Weise. Es dauert vielleicht etwas zu lange, bis die
Handlung Fahrt aufnimmt, aber Setting, Plot und Figurenzeichnung sitzen.
Als kurzweilige Lektüre für Post-Boomer und 90er-Indie-Boys’n’Girls eignet
sich „Vorglühen“ auf jeden Fall bestens.
6 Sep 2022
## LINKS
[1] /Neues-Album-der-Band-Tocotronic/!5827238
[2] /Hamburger-Rockband-Herrenmagazin/!5071330
## AUTOREN
Jens Uthoff
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Literatur
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