# taz.de -- Literatur aus Norwegen: Verdammt sympathische Spleens | |
> Der norwegische Schriftsteller Dag Solstad hat ein Herz für tragikomische | |
> Sonderlinge. Das dürfte auch Fans von Sven Regener gefallen. | |
Bild: In seiner Heimat schon lange berühmt: Dag Solstad | |
In die Liste der großen ersten Sätze der Weltliteratur gehört dieser | |
Romananfang unbedingt. Dag Solstad stellt seinen tragischen Helden T. | |
Singer wie folgt vor: „Singer litt an einer speziellen Form von | |
Schamgefühl, das ihn keineswegs täglich plagte, ihn jedoch gelegentlich | |
heimsuchte, es war eine Erinnerung an ein wie auch immer geartetes | |
Missverständnis, die ihn plötzlich innehalten ließ, völlig erstarrt, mit | |
einem verzweifelten Gesichtsausdruck, den er sogleich verbarg, indem er | |
beide Hände vor das Gesicht führte, während ihm ein lautes ‚Nein, nein‘ | |
entfuhr.“ | |
Es sind Flashbacks, mit denen die Hauptfigur zu kämpfen hat, und wie diese | |
aussehen, davon kann man sich kurz darauf ein sehr genaues Bild machen. Aus | |
der Erinnerung an einen Irrtum – der Verwechslung einer Person in einem | |
Konzertsaal – erwächst in Singers Kopf ein veritabler Paranoia-Film; die | |
Gedankenspiralen der Hauptfigur erstrecken sich über ganze neun Seiten. Und | |
noch während man ihnen dabei zusieht, wie sie ihre Kreise ziehen, wird | |
einem dieser Singer verdammt sympathisch. | |
Was der norwegische Schriftsteller Dag Solstad, in seiner Heimat seit | |
Jahrzehnten ein berühmter Autor, da mit spürbarer Freude ausbreitet, das | |
ist großes erzählerisches Kino. Er schafft mit Singer einen Kauz und | |
Sonderling, der vielen anderen verschrobenen Gestalten der | |
Literaturgeschichte in nichts nachsteht. Singer ist Studienabbrecher, | |
Möchtegernschriftsteller und hat eine Ausbildung zum Bibliothekar | |
absolviert. Mit 34 zieht er in die Kleinstadt Notodden und tritt dort eine | |
Stelle in der Bibliothek an. | |
Das Zwischenfazit seines Lebens fällt so mittel aus: „Ohne Trauer oder | |
Enttäuschung darüber, dass er der war, der er war, aber auch nicht mit | |
großer Freude darüber, dass er der war, der er war, wollte er ein neues | |
Leben beginnen.“ | |
## Die Scheidung wird vom Tod überholt | |
Man begreift recht schnell, dass all die Hoffnungen Singers, dieses | |
Helden, dem nur ein Buchstabe als Vorname zugestanden wird, zum Scheitern | |
verurteilt sind. Immer mal wieder flackert kurz so etwas wie Leben, Liebe | |
und Leidenschaft auf – etwa als Singer mit Merete zusammenkommt, zu ihr | |
zieht und sie heiratet. Kurz darauf aber versinkt er wieder in der | |
Mittelmäßigkeit seines Daseins. So ist die Scheidung bereits beschlossene | |
Sache, als Merete bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt. Zurück bleiben | |
Singer und seine Stieftochter, um die er sich fortan kümmert. | |
Tragikomische (männliche) Alltagshelden zu zeichnen, ist eine Spezialität | |
Dag Solstads. Manchmal fühlt man sich in einen Aki-Kaurismäki-Film | |
versetzt: Das Leben nimmt seinen Lauf, niemand versteht den anderen, und | |
dann, wenn man schon gar nicht mehr damit rechnet, geschieht doch etwas | |
Unerwartetes, mit ein bisschen Glück sogar etwas, das einem eine | |
Vorratsration Lebensmut gratis mit auf den Weg gibt. | |
Bjørn Hansen, Hauptfigur in Solstads Roman „Elfter Roman, achtzehntes | |
Buch“, ist noch so eine typische Solstad-Figur – auch er hat seinen eigenen | |
kleinen Spleen, und auch sein Leben plätschert, unterbrochen von einigen | |
zarten Hoffnungssprengseln, vor sich hin – bei ihm aber nehmen die Dinge | |
eine noch schrägere Wendung. | |
Solstad breitet die Gedankenwelten von Leuten aus, die es im wirklichen | |
Leben zuhauf gibt, denen man vielleicht mal im Treppenhaus begegnet, sich | |
denkt: ein bisschen komisch ist der schon, ehe man weitergeht und ihn schon | |
wieder vergessen hat – oder sich fragt, ob sein Gegenüber gerade das | |
Gleiche von einem gedacht hat. | |
## Kommunistische Propaganda | |
Von Dag Solstad sind bislang nur fünf Bücher ins Deutsche übersetzt worden. | |
Der Züricher Dörlemann Verlag betreut sein Werk, „T. Singer“ (original von | |
1999) erschien bereits im Frühjahr erstmals auf Deutsch, nun folgt zudem | |
die Wiederauflage von „Elfter Roman, achtzehntes Buch“ (1992) und „Scham | |
und Würde“ (1994) passend zum Auftritt Norwegens als Ehrengast der | |
Frankfurter Buchmesse. | |
Solstad, der 1941 in Sandefjord nahe Oslo geboren wurde und heute in der | |
norwegischen Hauptstadt lebt, hat eine interessante Entwicklung hinter | |
sich: In den Siebzigern schrieb er als Mitglied der maoistisch | |
ausgerichteten Kommunistischen Arbeiterpartei („Arbeidernes | |
kommunistparti“) politische Bücher, die wohl eher in die Kategorie | |
Propagandaliteratur fallen. Davon wendete sich Solstad, der einige Jahre in | |
Berlin lebte, später vollständig ab. | |
In seinen Büchern aus den neunziger Jahren erzählt er minutiös individuelle | |
Lebensläufe, zeichnet seine Figuren mit viel Detailfreude, Leidenschaft und | |
Interesse an ihnen. Nach „T. Singer“, das er selbst für sehr gelungen | |
hielt, wollte er eigentlich aufhören zu schreiben, entschied sich dann aber | |
doch weiterzumachen und legte experimentellere Werke wie zuletzt „Das | |
unlösbare epische Element der Telemark in der Zeit von 1591 bis 1896“ | |
(2013) vor, das von der norwegischen Literaturkritik gemischt aufgenommen | |
wurde. | |
## Denkmal für die Scheiternden | |
Erzählerisch und stilistisch ist Solstad vor allem in „T. Singer“ voll auf | |
der Höhe seiner Kunst. Die Nebensatzstafetten, die er da zuweilen hinlegt, | |
gelingen den wenigsten so elegant; in Deutschland vielleicht jemandem wie | |
Sven Regener. Seine Übersetzerin Ina Kronenberger überträgt diese | |
Satzkonstrukte kongenial ins Deutsche. | |
Auch das Spiel mit den Erzählebenen ist so bemerkenswert wie gekonnt, | |
Solstad führt eine Erzählinstanz ein, die eigentlich mehr ist als nur ein | |
auktorialer Erzähler, die noch zwischen jenem und dem Autor anzusiedeln ist | |
(„Es muss in Singers Leben eine gewaltige Veränderung gewesen sein!“, | |
kommentiert der Erzähler, oder: „Man sollte ihn mal in der Küche in Aktion | |
erleben, wenn er sich in einer einfachen rustikalen Schürze über den | |
Backofen beugte, die Tür aufmachte und das leckerste Brot herausholte, das | |
perfekt aufgegangen war.“) Auch wie der Autor mit Zeitdehnung und | |
Zeitraffung spielt, ist toll, er kann ein Geschehen von wenigen Sekunden | |
über viele Seiten strecken und überspringt dann ein paar ganze Jahre in | |
einem kurzen Absatz. | |
Den Büchern von Solstad wird manchmal vorgeworfen, in ihnen geschehe zu | |
wenig, die Figuren seien passiv und resignativ gezeichnet. Bei T. Singer | |
aber sind die scheinbare Ereignislosigkeit und Redundanz des Geschehens | |
Konzept. Natürlich geht es Solstad auch darum zu zeigen, wie klein, | |
unbedeutend und kontingent das Leben eines Einzelnen ist. Zugleich aber | |
setzt er eben auch all den ganz normal Scheiternden, die da draußen | |
herumlaufen, ein liebevolles literarisches Denkmal. | |
13 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
## TAGS | |
Norwegen | |
Reiseland Norwegen | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2023 | |
Sven Regener | |
Gegenwartsroman | |
Roman | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2023 | |
Maja Lunde | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2023 | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2023 | |
Schwedische Akademie | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neuer Roman von Sven Regener: Herumrudern im Leben | |
In „Glitterschnitter“ baut Sven Regener den Herr-Lehmann-Kosmos in Richtung | |
Punks und Frauen aus. Sein Schreiben zeugt von tiefer Menschenkenntnis. | |
Eröffnung der Frankfurter Buchmesse: Wachrüttelnde Worte | |
Die Frankfurter Buchmesse eröffnet mit Reden zur Verteidigung der | |
Demokratie. Norwegen ist das richtige Gastland zur richtigen Zeit. | |
„Literaturzug“ zur Buchmesse: Überall Kameraauflauf | |
Unser Autor fährt im ICE mit Kronprinzessin Mette-Marit, Prinz Haakon und | |
19 norwegischen Autorinnen und Autoren zur Frankfurter Buchmesse. | |
Beate Uhses Biografie: Die gewiefte Unzüchtige | |
„Ehehygiene“-Unternehmerin und Vorkämpferin für sexuelle Selbstbestimmung. | |
Beate Uhse ist ein Stück bundesdeutsche Geschichte. Eine Biografie. | |
Gastland Norwegen auf der Buchmesse: Hoher Besuch aus dem hohen Norden | |
Norwegen ist Ehrengast bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Das | |
bietet eine Gelegenheit, die vielfältige Literatur des Landes zu entdecken. | |
Reform des Literaturnobelpreis-Komitees: Alles sauber in Stockholm? | |
Die beiden Literaturnobelpreise sind vergeben. Die Diskussion über die | |
Schwedische Akademie und über die Vergabe aber beginnt gerade erst. | |
Literaturfestival in Oslo: Bücher stehen ihnen gut | |
Norwegen ist Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Selbstbehauptung hat | |
das Land nicht nötig, Glamour ist nicht so wichtig. Ein Blick nach Oslo. | |
Island auf der Frankfurter Buchmesse: Auf Wiesen und mit Worten | |
Warum schreiben ausgerechnet die wenigen Isländer so viele Bücher? Ein | |
Besuch im Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. |