| # taz.de -- Island auf der Frankfurter Buchmesse: Auf Wiesen und mit Worten | |
| > Warum schreiben ausgerechnet die wenigen Isländer so viele Bücher? Ein | |
| > Besuch im Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. | |
| Bild: Lange Winter, wenig Tageslicht: Das sind beste Voraussetzungen, um sich m… | |
| Hier also wurde Gunnar von den Pfeilen seiner Feinde durchbohrt. Und | |
| Hallgerdur, seine Frau, sah dabei zu. Ja, sie verweigerte ihm sogar die | |
| Bitte, aus zwei Haarsträhnen eine neue Sehne für seinen kaputten Bogen zu | |
| flechten. Fast glaubt man, noch Blut zu sehen auf den sattgrünen Wiesen. | |
| Eine kleine rot-weiße Kirche steht da, Dotterblumen blühen, über sanfte | |
| Hügel fließt ein Flüsschen. Ein paar Steine liegen herum - sie könnten | |
| Überbleibsel von Gunnars Hof Hlidarendi sein. Dort, nahe Hvolsvöllur im | |
| Süden Islands, ist viel Blut geflossen. Doch der Mord ist inzwischen | |
| verjährt. Er geschah vor mehr als tausend Jahren und ist doch in Island so | |
| präsent wie der Zweite Weltkrieg. | |
| Gunnar ist einer der beliebtesten Helden der Isländer. Als bester Freund | |
| des drögen Rechtsgelehrten, der der Njáls Saga ihren Namen gibt, ist er der | |
| strahlende Kämpfer. "Er schwang das Schwert in der Luft so schnell, dass | |
| man drei zu sehen meinte", steht über ihn in einer der bedeutendsten Sagas, | |
| und: "Man sagt, es gebe niemand seinesgleichen." | |
| Gunnar ist heute noch ein beliebter Vorname, ebenso wie Egill, der Held | |
| einer anderen großen Saga. Geschichte heißt das isländische Wort Saga, und | |
| für die Isländer sind die rund 40 Prosaerzählungen über Fehden, Ehre, | |
| Überleben, die zur Zeit der Besiedelung der Insel um das Jahr 1000 spielen | |
| und etwa 200 Jahre später aufgeschrieben wurden, mehr als Geschichten und | |
| Geschichtstexte - es ist ihre Schöpfungsgeschichte. | |
| ## Woher kommen wir? | |
| Und die ist mit dem Land verwoben, mit dieser rauen, faszinierenden | |
| Landschaft - über die ganze Insel verteilt lassen sich Schauplätze der | |
| Sagas ausfindig machen. Für die rund 320.000 Isländer sind die Sagas so | |
| etwas wie ihr Stammbaum, die Antwort auf die Frage: Woher kommen wir? Ein | |
| kulturelles Erbe, das sich begehen lässt - auf Wiesen und mit Worten. Denn | |
| da das heutige Isländisch dem Altnordischen sehr ähnlich ist, können sie es | |
| sogar im Original lesen. Zitate daraus sind Allgemeinplätze in der | |
| Alltagssprache, etwa Gunnars letzte Worte an seine Frau, die ihm ihre Hilfe | |
| verwehrt: "Jeder verschafft sich Ruhm auf seine Weise." | |
| Hallgerdur rächt sich mit ihrem Weigern bei Gunnar für eine Ohrfeige, die | |
| er ihr verpasste, weil sie einfach nicht aufhörte, über ihre Sklaven einen | |
| blutigen Krieg mit Njáls Frau auszutragen. Es menschelt sehr in den Sagas, | |
| fast zu viel für heutige Leser. Die Helden, einflussreiche Bauern und | |
| starke Frauen, sind oft brutale Rächer, aber kaum einer ist nur gut oder | |
| nur schlecht. Die Umstände! Die Facetten machen die Texte spannend wie | |
| einen modernen psychologischen Roman und zeitlos. Vielleicht steigt deshalb | |
| das Interesse daran, gerade in den Nachwirtschaftskrisenzeiten. | |
| Magnus Jonsson gibt an der Universität Fortbildungskurse über die Sagas - | |
| für Junge und Erwachsene, die sich über die Wintermonate hinweg einmal in | |
| der Woche mit den Geschichten und der Geschichte auseinandersetzen möchten. | |
| Ein paar Hundert wollen das. Als er die Njáls Saga anbot, mussten sie ins | |
| Stadttheater ausweichen, weil der Zulauf so groß war. Magnus ist Ende 60 | |
| und erzählt wie ein kleiner Junge von den Helden, den Kämpfen und wird ganz | |
| eindringlich und ernst, wenn er davon spricht, was uns die Texte heute noch | |
| sagen können: "Die Isländer mussten sich damals entscheiden: Schließen wir | |
| uns dem Königreich Norwegen an oder bleiben wir Isländer? Heute heißt das: | |
| Treten wir der EU bei?" Es geht um die Frage: Was heißt Unabhängigkeit? Und | |
| warum wird ein Mensch zum Außenseiter, warum wird er böse? Wie können Recht | |
| und Gesetz funktionieren, für das die Menschen in den Sagas selbst sorgen | |
| mussten, ohne Gerichte, ohne Polizei? | |
| Die Zeit der Sagas, das war das Goldene Zeitalter Islands, sagt Magnus. | |
| "Unsere Geschichte manifestiert sich nicht in archäologischen Stätten oder | |
| Steinkathedralen. Wir haben sie in den Büchern und an den | |
| Saga-Schauplätzen." So wie in Deutschland jeder den Kölner Dom kennt, weiß | |
| der Isländer, wo Snorri, der einzige bekannte Autor der Sagas, starb - oder | |
| badete. | |
| Wenn Bücher das große Kulturerbe sind und die Geschichte und die | |
| Geschichten auf der Straße und den Wiesen liegen, vielleicht ist es dann | |
| kein Wunder, dass die Isländer so viel schreiben. Und lesen. 2,5 Millionen | |
| Bücher werden dort pro Jahr verkauft, das macht acht pro Isländer. Rund | |
| 1.500 Bücher erscheinen jährlich, die höchste Pro-Kopf-Zahl an | |
| Neuerscheinungen weltweit - und jeder zweite Isländer soll ein | |
| Schriftsteller sein. Sagt man. Selbst wenn das übertrieben ist (im Verband | |
| sind 400 Autoren organisiert), so sind die genannten Zahlen doch Grund | |
| genug, Island zum diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse zu | |
| machen. Aus diesem Anlass werden auch alle Sagas neu ins Deutsche übersetzt | |
| und im Fischer-Verlag erscheinen. | |
| ## Kreativität der Isländer | |
| Der lange, dunkle Winter, die Abgeschiedenheit auf der Insel, das sind | |
| weitere Gründe, die für die Schreib- und Leselust der Isländer oft | |
| aufgeführt werden. Sicher ist es auch die Selbstverständlichkeit, mit der | |
| Bücher dazugehören: als typisches Weihnachtsgeschenk, als Kulisse beim | |
| Kaffee in einer der drei großen Buchhandlungen in Reykjavik, als | |
| Sonntagsausflug mit der ganzen Familie in die städtische Bücherei. Und auf | |
| der kleinen Fjordinsel Flatey mit ihren kaum 30 Einwohnern steht die | |
| kleinste Bibliothek der Insel, fünf mal drei Meter groß. | |
| Die Kreativität der Isländer ist legendär: Musik, Mode - und eben auch | |
| Literatur. Vielleicht ist es leichter, etwas zu wagen als einer von 300.000 | |
| denn als einer von 82 Millionen. "Just do", heißt es in Island. Mach es | |
| einfach. Gudmundur Óskarsson hat es getan. Der 32-jährige Bankangestellte | |
| hat 2009 den wichtigsten isländischen Buchpreis erhalten, für "Bankster", | |
| sein Buch über die Finanzkrise, das nun auch auf Deutsch übersetzt wird. | |
| Gudmundur sitzt in Reykjaviks hippster Kneipe Kaffibarinn, ein junger | |
| Einstecktuch-Mann, der Sätze zum Einrahmen spricht. Sein Roman handelt von | |
| einem jungen Bankangestellten, der 2008 nach dem Finanzcrash seine Arbeit | |
| verliert und darüber Tagebuch führt. Es ist nicht Gudmundurs Geschichte, er | |
| arbeitet immer noch bei der Bank, als eine Art Sekretärin, wie er sagt. | |
| Aber das Buch half ihm, die Zeit damals zu verarbeiten. Er schrieb es in | |
| Echtzeit, in sein Tagebuch, die Hälfte davon musste er weglassen. "Da | |
| schrieb zu viel Ich und zu wenig der Charakter des Romans", sagt er. | |
| Angst hatte er damals, dass andere über das schreiben könnten, was er am | |
| Arbeitsplatz erlebt hat. Erst die Boomzeit, in der alle nach außen sahen | |
| und keiner nach innen, in der es in den animierten Bankkonzepten immer nur | |
| Sonne gab, nie Regen. "Die winkten immer mit der Zukunft vor uns rum, und | |
| schwupp, war da keine mehr", sagt er. Kollegen verloren von heute auf | |
| morgen ihren Job. Gudmundur scherzt, er hatte Angst, dass sie das Buch | |
| "Bankster" nennen würden, Bankgangster. Also hat er es lieber selbst | |
| geschrieben. | |
| Schreiben hat er sich erarbeitet, sagt er. Diszipliniert und intuitiv. | |
| Inzwischen hat er drei Bücher veröffentlicht, in drei Jahren, und da soll | |
| noch mehr kommen. Für die Schreibphasen bewirbt er sich für die staatlichen | |
| Stipendien, die Autoren projektbezogen unterstützen, von drei Monaten bis | |
| zu drei Jahren, mit dem Gehalt eines Gymnasiallehrers. Etwa hundert solcher | |
| Stipendien gibt es, inklusive jener für Mode, Kunst und Musik. Doch die | |
| Autoren machen bei weitem den größten Teil der Bewerber aus. Nur 15 Prozent | |
| von ihnen bekommen eine solche Förderung, die bei klammen Staatskassen | |
| immer wieder gestrichen werden soll. | |
| ## Nationalstolz | |
| Mit 8.000 verkauften Exemplaren gilt ein Buch in Island als Bestseller. Nur | |
| fünf Verlage haben einen Jahresumsatz von mehr als einer Million Euro, | |
| daneben gibt es mehr als 150 Kleinverlage. Einer davon ist Nyhil, ein Club, | |
| der das Poesiefestival in Reykjavik organisiert und Lyrik, kommunistische | |
| Manifeste und Wissenschaftstexte veröffentlicht. Kristín Svava Tómasdóttir | |
| sitzt bei Nyhil im Vorstand. Die 26-Jährige hat den Gedichtband "Blótgælur" | |
| (Liebkosung des Fluches) sowie in Anthologien und Zeitungen veröffentlicht, | |
| sie trat in Clubs auf und bei Festivals. | |
| Mit Lyrik landet man in Island zwar keinen Bestseller, die Gattung aber ist | |
| sehr geachtet. Für Kristín Svava ist es vor allem die Freiheit der Form, | |
| was sie an Lyrik reizt. Ihr Thema ist die Kritik an der Gesellschaft, am | |
| Nationalismus, der vor allem vor der Krise blühte. "Island über alles" | |
| heißt es in ihrem Gedicht "Mallorca". Als Austauschstudentin hat sie eine | |
| Zeit in Berlin gelebt, "es war so eine Erleichterung, dort auch mal | |
| kritisch über die eigene Geschichte reden zu können", sagt sie. | |
| Gerade die Sagas lassen sich auch leicht vereinnahmen vom Nationalstolz. | |
| Kristín Svava mag sie trotzdem. "Egill kotzt in den Mund seines Gegners, | |
| spuckt seinem Feind das Auge aus. Das ist Punk!" Alles eine Frage der | |
| Lesart. Und dann erzählt sie noch, dass ihr Vater ja aus der gleichen Ecke | |
| kommt wie der Held aus der Laxdæla Saga. | |
| 4 May 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniela Zinser | |
| Daniela Zinser | |
| ## TAGS | |
| Norwegen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Literatur aus Norwegen: Verdammt sympathische Spleens | |
| Der norwegische Schriftsteller Dag Solstad hat ein Herz für tragikomische | |
| Sonderlinge. Das dürfte auch Fans von Sven Regener gefallen. | |
| Der Buchmessen-Blog: Auf nach Frankfurt | |
| taz-Autor Detlef Kuhlbrodt war schon in den 1980er Jahren als | |
| Standmitarbeiter auf der Frankurter Buchmesse. Ab Mittwoch wird er von dort | |
| bloggen. |