| # taz.de -- Literaturfestival in Oslo: Bücher stehen ihnen gut | |
| > Norwegen ist Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Selbstbehauptung hat | |
| > das Land nicht nötig, Glamour ist nicht so wichtig. Ein Blick nach Oslo. | |
| Bild: Der weltweite Erfolg von Autoren wie Jo Nesbø scheint den Norwegern fast… | |
| Wir leben in einer postdigitalen Situation“, sagt Reinert Mithassel. Er | |
| blickt kurz prüfend auf, ob man auch tatsächlich verstanden hat, dass er | |
| keineswegs „postanalog“ sagte, sondern „postdigital“, bevor er erläute… | |
| „Die Leute wollen sich wieder real begegnen, öffentliche Räume werden | |
| wieder wichtig.“ | |
| Reinert Mithassel leitet die Biblio Tøyen in Oslo, die eigentlich nur eine | |
| Jugendbibliothek in einem Problemviertel, tatsächlich aber vielleicht sogar | |
| die Zukunft des Bibliothekswesens darstellt. Wie bibliotheksverrückt die | |
| Norweger sind, kann man am Hafen sehen. Dort wuchten die Osloer neben die | |
| architektonisch grandiose Oper samt ihrem begehbaren Dach gerade das neue | |
| Gebäude ihrer Zentralbibliothek an den Fjord. | |
| Merete Lie, die Direktorin, führt uns über die Baustelle. Großartige | |
| Sichtachsen gehen quer durch die fünf Etagen. Hell und luftig wirkt die | |
| Glasfassade. Toll ist das. Über zwei Millionen Besucher jährlich werden | |
| hier ab 2020 erwartet – die von 7 bis 23 Uhr Bücher entleihen, aber sich | |
| auch so treffen, ins Internet gehen und Veranstaltungen besuchen werden. | |
| Es soll also etwas heißen, wenn man die Jugendbibliothek in Tøyen als | |
| mindestens ebenso beeindruckend bezeichnet. Aber sie ist es. Die Bibliothek | |
| wurde zusammen mit Jugendlichen entworfen. In ausrangierten Kleinlastern, | |
| Seilbahnkabinen und Nestern aus Kissen wurden viele kleine Ecken gebaut, in | |
| denen die 10- bis 15-Jährigen ihr Ding machen können. Erwachsenen ist der | |
| Zugang ausdrücklich verboten, Handys sind ausdrücklich erlaubt. Im Zentrum | |
| der Bibliothek liegt eine Küche, und überall drumherum stehen Bücher | |
| bereit, die so als selbstverständlicher Teil des Heranwachsens erscheinen. | |
| Für uns, die Delegation des deutschen Literaturbetriebs, die im Vorfeld des | |
| norwegischen Gastland-Auftritts bei der [1][Frankfurter Buchmesse] in Oslo | |
| unterwegs ist, hat Reinert Mithassel dann noch eine tröstliche Botschaft: | |
| „Noch vor wenigen Jahren hatten wir Angst, dass Bücher verschwinden | |
| würden“, sagt er, „die Sorge haben wir inzwischen viel weniger. Bücher | |
| behaupten sich, man muss nur die Neugier auf Wissen vermitteln.“ | |
| Bücher und Literatur als Teil eines modernen, weltzugewandten Lebens, das | |
| ist so etwas wie der rote Faden dieses Oslobesuchs geworden. Beim | |
| Frankfurter Gastland-Programm geht es ja auch um mehr als um einzelne | |
| Bücher, es geht für die Gastnation darum, sich als Literaturgesellschaft zu | |
| präsentieren – und zwar auch sich selbst gegenüber. 2017 war Frankreich | |
| Gastland, man spürte das Bemühen, intellektuellen Glamour zu vermitteln. | |
| 2018 kam Georgien. Das kleine, tapfere Land im Zugriffsbereich Russlands | |
| wollte mit Kultur und Literatur zeigen, dass man Teil des Westens ist, und | |
| hat tatsächlich viel für sein Image getan. | |
| Norwegen hat ganz andere Ausgangsbedingungen. Glamour ist hier verdächtig, | |
| Selbstbehauptung hat das Land nicht nötig. Zugleich fußt sein beinhart | |
| positives Image auf der grandiosen Natur und skandinavischen | |
| Bullerbü-Klischees, die realen Norweger kommen darin eigentlich kaum vor. | |
| Außerdem ist Norwegen reich und selbstverständlicher Teil des Westens. Was | |
| also wollen die Norweger in Frankfurt? | |
| ## Judith Hermann kommt gut an | |
| Das Osloer Literaturhaus ist eine ehemalige Schule, schön umgebaut, | |
| modernst ausgestattet. Am vergangenen Wochenende fand dort ein | |
| Literaturfestival statt. Die Grundidee des Programms stammt von Helge | |
| Rønning, einem emeritierten Professor, und Erik Fosnes Hansen, dem | |
| Schriftsteller: Anlässlich des Gastlandprogramms soll keineswegs nur | |
| norwegische Literatur in Deutschland bekannt gemacht werden, sondern auch | |
| deutschsprachige Literatur in Norwegen. | |
| Der weltweite Erfolg norwegischer Autoren – man nehme nur Karl Ove | |
| Knausgård, Maja Lunde, Jostein Gaarder, Erik Fosnes Hansen, Jo Nesbø oder | |
| den ernsthaften [2][Nobelpreiskandidaten] Dag Solstad – scheint den | |
| Norwegern nachgerade etwas peinlich zu sein. Dagegen werden nur 20 | |
| deutschsprachige Titel jährlich ins Norwegische übersetzt, viele auf | |
| Eigeninitiative einiger Übersetzer. | |
| Und so präsentierten auf dem Festival also norwegische AutorInnen deutsche | |
| KollegInnen. Judith Hermann kam gut an. Volker Kutscher kannten viele wegen | |
| der Fernsehserie „Babylon Berlin“. Nora Gomringer war ein Erfolg – | |
| überhaupt gab es großes sprachexperimentelles Interesse bei den Lesungen. | |
| Marlene Streeruwitz, Theresia Enzensberger, Simon Strauß, Jan Wagner und | |
| 20 weitere deutsche Autorinnen waren da. Der nur vorsichtig ausgesprochene, | |
| durchaus politische Hintergedanke dabei: den Norwegern ein Gefühl dafür zu | |
| vermitteln, dass es interessant ist, über den eigenen Tellerrand | |
| hinauszublicken. Man ist sich, so die Befürchtung, seiner selbst und seiner | |
| eigenen Kultur vielleicht ein Stück weit zu sicher. Ein Gastlandauftritt in | |
| Frankfurt kann eben auch eine Selbsthinterfragung sein. Und siehe: 5.000 | |
| BesucherInnen kamen. Ein Erfolg. | |
| Fragt sich: Wie muss ein Literatursystem aufgebaut sein, um so viele | |
| erfolgreiche AutorInnen zu produzieren? Literaturstipendien können in | |
| Norwegen eine Laufzeit von fünf Jahren haben, nicht nur ein Jahr wie in | |
| Deutschland. „Aber Geld allein macht noch keine guten Künstler“, sagt der | |
| Autor Lars Saabye Christensen im Gespräch. Wichtig ist auch eine gute | |
| Ausbildung, die es in Norwegen nicht nur für SchriftstellerInnen gibt, | |
| sondern auch im Bereich des Jazz und der gestaltenden Künste. Und schon | |
| drei Tage Oslo boten einen Eindruck davon, wie attraktiv es in norwegischen | |
| Seelenhaushalten sein kann, AutorIn zu werden. In einer so egalitären und | |
| immer noch homogenen Gesellschaft bietet die Literatur eine anerkannte | |
| Rolle, um individuell auszuscheren. | |
| ## Literatur gegen die durchsozialisierte Gesellschaft | |
| Denn Oslo wurde natürlich mit Steinen und Beton erbaut – und wird mit den | |
| Zinsen, die die gut angelegten Ölmilliarden abwerfen, umgestaltet. Oslo | |
| gründet aber auch auf einem soliden Fundament von Erzählungen und | |
| literarischen Geschichten; man kann sie der Innenstadt förmlich ablesen. | |
| Vor dem Parlament steht mahnend eine Statue des Nationaldichters Henrik | |
| Wergeland. Auf das königliche Schloss schaut ein Denkmal seiner Schwester | |
| Camilla Collett, einer frühen Frauenrechtlerin. Ibsen-Zitate sind quer | |
| durch die Innenstadt in die Bürgersteige eingelassen. Und wenn man vom | |
| Schloss zum Rathaus und von der Universität zum Rathaus Linien zieht, | |
| findet man genau am Kreuzungspunkt das Nationaltheater. Norwegen, erst 1905 | |
| wieder vollständig unabhängig geworden, hat sich in Oslo den Traum einer | |
| aufgeklärten Handels- und Bildungshauptstadt erzählt. | |
| Weitere Erzählungen finden sich in den riesigen Fresken im Inneren des | |
| Rathauses. Fischer sieht man da, Arbeiter, Frauen als Mütter, aber auch als | |
| Wählerinnen – Selbstbildnisse einer liberalen Bürgergesellschaft, in der | |
| sich alle gesellschaftlichen Rollen ins Ganze einfinden. | |
| Karl Ove Knausgård ist das zuletzt prominenteste Beispiel, dass es für | |
| Schriftsteller auch interessant sein kann, gegen die ungeschriebenen | |
| Gesetze einer dermaßen durchsozialisierten Gesellschaft (im Schnitt ist | |
| jeder Norwegen Mitglied bei acht Vereinen oder Vereinigungen) | |
| anzuschreiben. In Johan Harstads aktuellem Roman „Max, Mischa und die | |
| Tet-Offensive“ kann man nachlesen, dass man behütete norwegische Kindheiten | |
| auch verlassen muss, um sein eigenes Leben zu finden. | |
| Literatur an den Reibungspunkten zwischen Individualität und Gesellschaft. | |
| Das Ganze mag gut eingerichtet sein, aber ist es das auch für mich? | |
| Vielleicht wird man von solchen Fragestellungen im Herbst in Frankfurt noch | |
| viel hören. | |
| 10 May 2019 | |
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| Dirk Knipphals | |
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| Jila Mossaed | |
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