# taz.de -- Essay Sprache und Geschlecht: Die Wirkungsmacht der Literatur | |
> Die Linke appelliert an den Verstand, die Rechte an den Bauch. Warum wir | |
> eine Poesie der gendergerechten Sprache brauchen. | |
Bild: Mögen die Sprachspiele beginnen | |
Pünktlich zum [1][Weltfrauentag am 8. März] setzten zahlreiche Männer und | |
einige Frauen ihre Namen unter Aufrufe gegen gendergerechte Sprache. Den | |
Anfang machte eine Onlinepetition, zu deren Erstunterzeichnenden der mit | |
der Identitären Bewegung fraternisierende Autor Matthias Matussek und der | |
seit 2017 in rechtem Fahrwasser segelnde Ingeborg-Bachmann-Preisträger Uwe | |
Tellkamp gehören. | |
Der Verein für deutsche Sprache [2][legte zwei Tage später nach] mit einem | |
von der Schriftstellerin Monika Maron gemeinsam mit dem Sprachkritiker Wolf | |
Schneider und anderen initiierten Aufruf, unterschrieben unter anderem von | |
der Autorin Sibylle Lewitscharoff, die dank der Kinderwunschmedizin | |
geborene Kinder als „kleine Monster“ bezeichnet hat. Sie alle tun, als gehe | |
es um den Verlust des Abendlandes, das in einem Meer von Gendersternchen zu | |
versinken drohe. | |
Warum gerade jetzt? Vielleicht aus einer Art Torschlusspanik heraus, weil | |
sich nach Jahrzehnten abzeichnet, dass es bald nicht mehr darum gehen | |
könnte, aus sicherer Herrenperspektive gönnerhaft „etwas für Frauen zu | |
tun“, sondern dass Frauen und sexuelle Minderheiten längst selbst bestimmen | |
– nicht zuletzt, da das Bundesverfassungsgericht kürzlich mit der „Dritten | |
Option“ den Auftrag erteilt hat, geschlechtliche Diversität anzuerkennen. | |
Bislang war die germanistische Zunft meist die Letzte, gesellschaftliche | |
Umbrüche zu kapieren und sich dazu zu verhalten – nun tun es ausgerechnet | |
ihre konservativsten Kräfte, die nicht ertragen können, dass neue Teilhabe | |
auch bedeutet, dass die bisherige Deutungsmehrheit Privilegien verliert. | |
Einerseits könnte man es bei dieser Erkenntnis bewenden lassen und die | |
Aufrufe als Problem vornehmlich alter Menschen nehmen (Maron, Krauss und | |
Krämer sind vor 1950 geboren, Schneider ist Jahrgang 1925), denen es immer | |
schwerer fällt, Gewohnheiten zu ändern. Doch es geht um mehr. Unsere Welt | |
wird durch Sprache gemacht und durch sie verändert. Nur wer sprachlich | |
anwesend ist, hat eine Stimme. Wer keine Stimme hat, bleibt ohne Teilhabe. | |
## Mit Literatur die Sprache umgestalten | |
Wir stehen daher vor dem größten Umbruch seit Luthers Bibelübersetzung. Für | |
die Etablierung gendergerechter Sprache braucht es Vorschläge schreibender | |
Menschen, die diese kreative Chance – das Gendersternchen ist ja [3][nur | |
eine Möglichkeit von vielen] – begreifen. Sie haben die Macht, und sie | |
stehen in der Verantwortung, mit ihrer Literatur die Sprache umzugestalten. | |
An zeitgenössischer Literatur kommt schließlich auch eine reaktionäre | |
Sprach- und Literaturrezeption nicht vorbei. | |
Bürokratisch genaue Sprache hat Vorzüge. Doch schön wie auch kulturell | |
wirksam wird sie erst durch Dichtung, wie in der Genese einer deutschen | |
Literatursprache aus dem Kanzleideutsch im sprachgeschichtlich | |
atemberaubend kurzen Zeitraum zwischen 1670 und 1770 nachzulesen ist. | |
Damals entstand die Sprache Wielands, Goethes und Schillers, die wir im | |
Prinzip bis heute schreiben. | |
Diese Sprache ist durch ihre Protagonisten eine der männlichen Stimme. An | |
ihr verzweifelten jahrzehntelang Frauen in der Literatur – Autorinnen wie | |
Irmgard Keun oder Ingeborg Bachmann, die in „Malina“ versuchte, für | |
weibliche Wahrnehmung eine weibliche Stimme zu finden. Wie sollte da | |
angesichts dieses über Jahrhunderte gewachsenen Ungleichgewichts | |
geschlechtergerechte Sprache über Nacht oder mit nur einer Maßnahme | |
erreicht werden? | |
Um die Zukunft der Sprache zu entwerfen, ist es zunächst wichtig, das | |
Fundament der aktuellen Angriffe zu verstehen. Denn auch diese gründen auf | |
Literatur. | |
## Verrat des „Deutschen“ | |
Antigenderismus kommt nie allein, sondern sprießt mit Nationalismus und | |
Antisemitismus aus gemeinsamer Wurzel. Für diese Erkenntnis brauchte es | |
Pegida und die AfD nicht. Ein solches Gedankengut war in Deutschland immer | |
da: Nach dem Fall der Mauer in Gesamtdeutschland, vor dem Fall der Mauer in | |
Ost und West, nach 1945, vor 1933. Nach 1871, vor 1871, nach 1848 und vor | |
1848; gravierend ab 1819, spätestens ab 1772. | |
Just die Rechte hatte dabei stets ein besonderes Vertrauen in die | |
Wirkungsmacht der Literatur. Als Bezugstexte fallen immer wieder dieselben | |
Namen: Botho Strauß und Ernst Jünger, Adalbert Stifter, mitunter der | |
Mussoliniverehrer Rilke und das Arsenal der nationalromantischen Dichter. | |
Verrat des „Deutschen“ warfen bereits die Mitglieder des | |
Göttinger-Hain-Bundes Christoph Martin Wieland vor. Sein „vaterlandsloser“ | |
Internationalismus (der Begriff der „Weltliteratur“ stammt ursprünglich von | |
Wieland), seine Frankophilie und seine sexuell aktiven Frauenfiguren | |
führten 1772 zu einer der ersten politisch motivierten Bücherverbrennungen | |
der deutschen Geschichte. Denn Wielands Figuren Lais („Aristipp und einige | |
seiner Zeitgenossen“) und Danae („Geschichte des Agathon“) sind Hetären, | |
gebildete und unabhängige Edelprostituierte der Antike und zugleich Schöne | |
Seelen. | |
Wenngleich in der Sprache eines männlichen Erzählers, sind sie doch | |
eigenständig handelnde Subjekte – solange sie sich nicht in einen Mann | |
verlieben. Für Naturschwärmerei und ein eher diffus verstandenes | |
Germanentum standen Klopstock und der radikale Misogyn Jean-Jacques | |
Rousseau. Mit ihm zogen Sturm und Drang – von der internationalen | |
Germanistik zur Frühromantik gezählt – und Romantik andere Saiten auf. | |
Frauen werden zu auf den Mann hin erzogen Objekten (Émile), deren | |
Bestimmung entweder der Liebestod (vorzugsweise nach Verführung, | |
Vergewaltigung und Kindsmord) oder die Rolle als Hausfrau und Mutter ist. | |
## Verbindung zur Antike | |
Botho Strauß, ein zeitgenössischer Autor, nennt „Rechts zu sein […] von | |
ganzem Wesen […] einen anderen Akt der Auflehnung: gegen die | |
Totalherrschaft der Gegenwart“. Er „bedarf keiner Utopie, sondern sucht den | |
Wiederanschluß an die lange Zeit“, die „ihrem Wesen nach Tiefenerinnerung�… | |
sei. Er zitiert dazu die „Vergangenheit, die nie war und welche die einzige | |
Zukunft ist, die ich ersehne“ des Frauenfeinds, Antisemiten und Vertreters | |
eines nationalexpansiven Christentums, Paul de Lagarde. Lagarde propagierte | |
die „Reinheit“ der „Volkstumsrechte“, die Auflösung des Vielvölkersta… | |
Österreich und ein Großdeutschland, das nur christliche Volksdeutsche | |
umfassen sollte. Heute heißt das „Ethnopluralismus“ und ist ein | |
Kampfbegriff der Rechten. | |
Faschistische ist immer auch patriarchale Ästhetik. Die Linke appelliert an | |
den Verstand, die Rechte an den Bauch und das, was unmittelbar | |
darunterliegt. Daher kommt die Klage über gendergerechte Sprache als | |
„besonders elende, öde, schlimme, überflüssige Abwegigkeit“ – so Heinz | |
Strunk, der 2016 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, im | |
Spiegel –, die den Poeten zu kastrieren trachte. | |
Es ist ein hartnäckiges Heldenbild, dessen Verbindung zur Antike Christa | |
Wolf in „Kassandra“ als Gründungsmythos des Patriarchats durch den Krieg in | |
den homerischen Epen ausmacht, deren Poetik die Literatur bis heute | |
bestimmt. Krieg und Patriarchat zerstören dort eine trojanische | |
Gesellschaft, die neben zahlreichen Makeln den Vorzug einer | |
Gleichberechtigung der Geschlechter aufweist. Anders als bei rechten | |
Autoren ist der Mythos hier kein Fixpunkt der Vergangenheit mit | |
Vorbildcharakter für die Gegenwart. Er steht für die heutige und künftige | |
Aufgabe, das „nie Geschriebene“ zu formulieren: die Utopie einer | |
geschlechtlich egalitären Gesellschaft. | |
Vorbild für „Kassandra“ war Ingeborg Bachmanns Frankfurter Poetik-Vorlesung | |
mit dem bezeichnenden Titel „Literatur als Utopie“ und einer vornehmlich | |
von Musil her entwickelten Apotheose der Liebe, aus der neue Formen der | |
Geschlechterordnung hervorgehen könnten, als die auch ihr Roman „Malina“ | |
lesbar ist. Als „einzige[n] Hoffnung“, dass die Literatur eine | |
ganzheitliche Individualität bewirken könne, in der „höchste Emotion“ und | |
„höchste Vernunft“ endlich zueinanderfinden. Zu einem aufklärerischen | |
Pathos als „Nachahmung“ einer „erahnten Sprache“, „die noch nie regie… | |
hat“. | |
## Das Omni in der Sprache | |
Diese gilt es nun gegen das reaktionäre Denken zu finden. Denn | |
gendergerechte Sprache gehört nicht nur zu den Voraussetzungen für eine | |
weibliche literarische Stimme. Sie steht für das Ziel einer | |
zukunftsoptimistischen Gesellschaft. | |
Wie könnten wir in Zukunft sprechen und schreiben? Sprache an sich neigt | |
sich allen Geschlechtern zu, ist omnigender und omnisexuell, ein Begriff, | |
der alle biologisch beschreibbaren und individuell empfindbaren | |
Geschlechter zusammenfasst. „Omni“ ist synonym mit einem „Wir“, aus dem | |
niemand mehr ausgeschlossen werden kann. Aber für das Omni in der Sprache | |
gibt es viele Gestaltungmöglichkeiten – und sie werden sowohl | |
sprachlich-grammatikalischer als auch inhaltlicher Natur sein müssen. | |
Eine so einfache wie wirkungsvolle Strategie könnte sein, möglichst konkret | |
statt verallgemeinernd zu schreiben. In literarischen Texten kann die | |
„Du-Form“ nicht nur „man“, sondern auch Distanz auflösen. Doch was ist… | |
Begriffen wie „Bürger“ und in sich widersprüchlichen Komposita wie | |
„Bürgermeisterin“? Das hängt davon ab, was für den Text an dieser Stelle | |
wichtiger ist: ein alternativer, gerechter Begriff – oder der alte, der die | |
jahrhundertelange bürgerliche Emanzipationsbewegung transportiert. Egal wie | |
die Entscheidung ausfällt, der „Bürger“ als Einzelnes in einem | |
gendergerecht formulierten Text transportiert unweigerlich, dass Frauen von | |
den an ihn gekoppelten Rechten über die meiste Zeit der Begriffsgeschichte | |
ausgeschlossen waren. Vielleicht sind es künftig gerade diese Findlinge, | |
die unsere Sprache hellhörig für ihre eigene Ausgrenzungsgeschichte machen? | |
In diesem Sinne: Mögen die Sprachspiele beginnen – und die besten | |
Vorschläge gewinnen, mit welchen in vielleicht einer literarischen | |
Generation feststeht, wie omni die unendlich vielen Möglichkeiten | |
geschlechtlicher, sexueller und emotionaler Lebensformen sprachlich | |
formulieren wird. Eine Poesie der gerechten Sprache wird jedenfalls | |
radikale, spielerische, lustvolle, anarchische Texte produzieren, die | |
polemisch und poetisch dem generativen Maskulinum beizukommen streben – um | |
hoffentlich einmal als zweite literarische Moderne in die | |
Literaturgeschichte einzugehen. | |
28 Apr 2019 | |
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## AUTOREN | |
Tina Hartmann | |
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