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# taz.de -- Mentalität Mecklenburg-Vorpommerns: Weit, eng und schön
> Mecklenburg-Vorpommern ist Land und Stadt. Die Leute wohnen im Eigenheim
> oder zur Miete in der Platte. Was ist eigentlich typisch da oben im
> Norden?
Bild: Manuelas Welt: Mecklenburg-Vorpommern zwischen Nordstream und Kegelrobbe
Da sitzen wir Ende August im Urlaub auf der Terrasse eines alten
Bauernhauses in einem Dorf nahe Münster und reden bei einem edlen
italienischen Wein über die Urlaubspläne in diesem Jahr, die gescheiterten.
Wir, mein Mann und ich, sind eben drum statt in Italien bei den guten
Freunden im Münsterland zu Besuch. Und da komme ich auf die Frage, was den
Gastgebern so auf die Schnelle an Assoziationen einfällt, wenn es um
Mecklenburg-Vorpommern geht.
Es purzeln ein paar Begriffe und Namen. Als Erstes – und unerwartet –
[1][der „Polizeiruf 110“ aus Rostock], mit das Beste, was die ARD an Krimis
zu bieten hätte, sagt der Freund; vor allem [2][Schauspieler Charly Hübner]
in der Rolle als Bukow hat es beiden angetan. Dann folgen „viel Landschaft
und Weite, die Seen, das Meer, Wind und Urlaub“. Dazu kommt
Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, „eine coole Frau“, wie die Freundin
erklärt. Und erwartungsgemäß erwähnen sie auch die „schweigsamen und rauen
Leute“. Aber keine Nazis, keine AfD-Wähler:innen? Nö. Mit diesen
Klischeebildern können sie nicht dienen.
Dieser Text schlägt einen anekdotenhaften Bogen, völlig subjektiv, auf der
Suche nach Deutungen. Vor allem war der Redaktion wichtig, dass da jemand
schreibt, der selbst aus Mecklenburg-Vorpommern stammt. Das Wort vom
„Stallgeruch“ passt hier ganz gut. Ich wurde 1966 ganz am westlichen Rand
des Bundeslandes geboren, das zu DDR-Zeiten in die drei Bezirke Schwerin
(wo ich in einem kleinen Dorf aufwuchs), Rostock und Neubrandenburg
aufgeteilt war. Und weil ich 1992 nach Berlin zog und seitdem dort lebe,
habe ich genug Abstand zur alten Heimat.
Man könnte damit anfangen, wo die Leute leben. Städtisch oder dörflich, das
macht einen Unterschied. Denn so ein eher dünnbesiedeltes Flächenland –
auch wenn die Weite ja gern romantisiert wird – hat seine Schattenseiten.
Die weiten Wege! Meck-Pom ist deshalb ein Autoland, Stichwort Baumalleen
(wunderschön, mitunter jedoch gefährlich). Es gibt menschenleere, dafür
tierreiche Gegenden, viele Wälder und Wiesen und Seen – und eben die
Ostsee. Und dann sind da riesige Felder, ein Erbe der DDR mit ihren
Großbetrieben. Zur Rapsblüte erstrahlt das halbe Land in sattem Gelb, wie
herrlich. Mecklenburg-Vorpommern gilt als beliebtestes Reiseziel innerhalb
Deutschlands!
## Eigenheim und Neubaublock
Man könnte damit fortfahren, wie die Menschen leben. Die einen sind in
alten Häusern aufgewachsen, die schon ihren Eltern und Großeltern gehörten.
Die anderen sind in Plattenbauten groß geworden, die in DDR-Zeiten überall
gebaut wurden – in fast jedem Dorf gab und gibt es ein paar Blöcke. Man
könnte also sagen, dass die einen Hausbesitzer sind, die ihre Immobilien
weitervererben können. Die anderen aber sind– überspitzt gesagt –
Habenichtse, die immer nur zur Miete wohnen. Diese Ungleichheit setzte sich
nach dem Fall der Mauer fort, nicht jede:r konnte sich den Bau eines
Hauses leisten.
Zur Mentalität des Landes gehört die Flüchtlingsfrage. Nicht die von 2015.
Schon eher die kurz nach der Wende, [3][als der rechte Mob Flüchtlingsheime
anzündete,] wie schrecklich, wie beschämend. Gemeint ist die vor über 70
Jahren. „1950 lag der Anteil der Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung
Mecklenburgs bei rund 46 Prozent“, ist im [4][Archiv der Schweriner
Volkszeitung] zu lesen. Die Einwohnerzahl hatte sich nach dem Zweiten
Weltkrieg nahezu verdoppelt. „Dieser Teil der sowjetischen Besatzungszone
nahm prozentual die meisten Vertriebenen auf – mehr als 980.000.“
Ich stamme von Vertriebenen ab (und bin in einem Neubaublock aufgewachsen),
meine Mutter musste aus Schlesien fliehen, mein Vater aus dem Sudetenland –
in Mecklenburg haben sie sich kennengelernt. Traumata aus Krieg und
Vertreibung hängen auch den nachwachsenden Generationen an, sie wirken
fort, das habe ich an meinen Eltern gesehen. Und das gilt auch für
seelische Verletzungen, die den Umsiedlern, so der DDR-Jargon für
Vertriebene, in der neuen Heimat von den Alteingesessenen zugefügt worden
sind.
## Von Slawen, Wikingern und Schweden
Ich habe die Erzählungen noch immer im Sinn, kann sie bei der Schwester
meiner Mutter bis heute abfragen. Wie unbeliebt die Flüchtlinge in den
ersten Jahren bei den Bauern und Fischern waren, wie verachtet und
verhasst. Wie bei Beerdigungen jahrzehntelang die Trauergemeinde
zweigeteilt am Grabe stand, auf der einen Seite die Einheimischen unter
sich, auf der anderen die Flüchtlinge.
Hinzu kommen das DDR-Bildungssystem und eben das ganz normale Leben im
realsozialistischen Alltag vier Jahrzehnte lang, in der Nische, in der
„kommoden Diktatur“.
All das steckt in den Menschen im östlichen hohen Norden drin. Mischpoke
ist ein passendes, aus dem Jiddischen stammendes Wort, wenn man die Leute
in Mecklenburg-Vorpommern mit all den Einflüssen slawischer Stämme (was man
noch heute an den vielen Ortsnamen, die auf -ow wie Warnow enden, erkennen
kann) oder skandinavischer Besetzungen (die Wikinger, die Schweden) und
nicht zuletzt durch die Flüchtlinge in früherer und jüngster Zeit
beschreiben soll.
Das geht auch kulinarisch. In meiner Person vereinen sich die Vorlieben für
Mohn (Schlesien) und Kümmel (Sudetenland) und Klöße (Schnittmenge beider
Regionen) mit Kartoffeln und Fisch in allen Varianten, egal ob geräuchert,
gebraten, in Aspik, sauer eingelegt oder als Heringssalat.
Die Vorliebe für Fisch ist vielen Menschen im hohen Norden in die Wiege
gelegt. Na ja, [5][Fischbrötchen] sind ja auch so ziemlich das genialste
wie praktischste und gesündeste Essen überhaupt. Fischbrötchen sind der
kleinste (oder besser größte) gemeinsame Nenner. Und schlimm in dieser
Saison: Wegen Arbeitskräftemangel gibt es hier und da Engpässe in der
Versorgung an der Ostseeküste. Wie das ZDF am 4. September in seiner
Nachrichtensendung „heute“ berichtete, kann man dienstags in der
„Fischkiste“ in Zinnowitz auf Usedom keine Fischbrötchen kaufen, weil der
bekannte Imbiss geschlossen ist.
Letztens hab ich bei einer Feier zur Einschulung einer meiner zahlreichen
Großnichten zum ersten Mal gegrillten Hecht gegessen, echt lecker. Der
stammte aus dem Schaalsee bei Zarrentin. Ein Bekannter hatte ihn geangelt,
ein patenter junger Mann, der sein Leben in Griff hat, gutes Geld für harte
Arbeit verdient, zwei kleine Kinder hat, zur Miete wohnt. Wir verstehen uns
gut. Nur politisch nicht. Er wählt die AfD, die laut Umfragen derzeit
[6][bei rund 17 Prozent] in Mecklenburg-Vorpommern liegt. Und warum? „Weil
die anderen Parteien es nicht hinkriegen“, hat er mir bei einem Cola-Whisky
erzählt.
## Der rechte Bruder
Das hat mich an meinen Bruder erinnert, der vor etlichen Jahren bei
Landtagswahlen stets die NPD wählte (die AfD gab es noch nicht). Ich war
geschockt. „Die da oben machen doch eh, was sie wollen“, das war sein
Argument für seine Art von Protest. Eins, das ich aus DDR-Zeiten kannte.
Ein Ohnmachtserleben gegenüber dem damals diktatorischen und heute
demokratischen Staat – ohne irgendeinen Unterschied machen zu wollen oder
zu können. Gang und gäbe in Mecklenburg-Vorpommern. Und nicht nur da.
Dabei sind die Leute in meiner alten Heimat liebenswert. Man muss sie nur
näher kennenlernen. Klar, das ist mitunter nicht einfach. Viele Menschen
geben sich zugeknöpft und Fremden gegenüber reserviert. Wer sich traut,
Leute anzusprechen, hat aber gute Karten, ins Gespräch zu kommen. Die
Menschen da oben sind hilfsbereit, sind gesellig und essen und trinken und
feiern gern.
Und wer Glück hat, erwischt jemanden, der Plattdeutsch sprechen kann. Das
klingt nicht nur ungemein sympathisch, mit Plattdeutsch lässt sich auch
Unangenehmes auf eine nette Art sagen. „Schietwetter“ klingt einfach
schöner als „Scheißwetter“.
Ja, mal stimmen die Klischees über die Einheimischen, mal sind sie einfach
Käse. Mecklenburg-Vorpommern ist vor allem überraschend. Es gibt kulturelle
Leuchttürme wie das Schweriner Theater oder die Kunsthalle Rostock – und
viel kulturelle Einöde. Es gibt Ökodörfer und Bioenergiedörfer wie
Bollewick – nominiert für den taz Panter Preis. Und ja, es gibt Dörfer, in
denen sich vermehrt Neonazis ansiedeln.
Dieses Jahr stand die Ostseeinsel Poel auf unserem Urlaubsprogramm. Mein
Mann und ich stiegen in einem kleinen Hotel mit 19 Zimmern ab. Oft ist man
dann das einzige schwule Paar in so einem Provinzhotel. Aber diesmal nicht.
Im Frühstücksraum saß schon ein schwules Pärchen, man sagte sich erkennend
„Hallo“. Und mehr noch: Das Hotel gehört sogar einem schwulen Paar, sie
führen es seit 2019 und wollen es demnächst um ein weiteres Haus in
unmittelbarer Nachbarschaft erweitern. „Schön ist es“, sagte der Hotelier
beim Auschecken, „wenn wir hier unsersgleichen empfangen können.“
10 Sep 2021
## LINKS
[1] https://www.ardmediathek.de/sammlung/polizeiruf-110-mit-bukow-koenig-oder-r…
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Charly_H%C3%BCbner
[3] /Baseballschlaegerjahre-in-Ostdeutschland/!5642847
[4] https://www.svz.de/regionales/mecklenburg-vorpommern/mecklenburg-magazin/er…
[5] /Fischhandel-Rasmus-in-Stralsund/!5771109
[6] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/3423/umfrage/sonntagsfrage-z…
## AUTOREN
Andreas Hergeth
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