# taz.de -- Als Schwarzes Kind auf dem Dorf: Die Wut kam später | |
> Sprüche im Bus, AfD-Plakate vor der Haustür: Als Schwarze Person auf dem | |
> Dorf aufzuwachsen ist nicht einfach. Aber es gibt auch gute Seiten. | |
Das typische deutsche Dorfkind läuft barfuß durch Wald und Wiese. Das | |
typische deutsche Dorfkind trägt kurze Hosen und friert als letztes – auch | |
im Winter. Es klettert liebend gern auf Bäume, sammelt Steine und andere | |
Dinge, kennt sich super mit Tieren aus und trinkt in Jugendjahren auf | |
Partys alle anderen unter den Tisch. Und das typische deutsche Dorfkind ist | |
natürlich weiß. | |
Auf mich trifft eigentlich nur eines dieser Klischees zu: Ich würde | |
behaupten, dass ich mich gut mit Tieren und Pflanzen auskenne. Ansonsten | |
bin ich kein typisches deutsches Dorfkind. Und ich bin Schwarz. | |
Vielleicht überrascht es Sie, dass ich Schwarz großschreibe. Das tue ich | |
deshalb, weil Schwarz in diesem Zusammenhang ein politischer Begriff ist, | |
der nicht auf den Hautton abhebt, sondern auf die | |
Diskriminierungserfahrungen, die Schwarze Menschen erleben und erlebt | |
haben. | |
[1][Laut deutschland.de] leben 15 Prozent der Menschen hierzulande in Orten | |
unter 5.000 Einwohner*innen. Erhebungen dazu, wie viele Schwarze Personen | |
darunter sind, gibt es nicht. Das [2][Statistische Bundesamt zählte] 2018 | |
über 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. 12,7 | |
Prozent von ihnen wohnten [3][laut Bundeszentrale für politische Bildung] | |
in ländlichen Regionen. | |
Zu „Menschen mit Migrationshintergrund“ zählen auch die, die einen | |
deutschen Pass und eine Migrationsgeschichte haben. Wie meine Familie und | |
ich. | |
„Ach krass, du kommst vom Dorf? Wie war es da so?“, werde ich oft von | |
Leuten aus der Stadt gefragt, mit denen ich die Diskriminierungserfahrung | |
teile, nicht weiß zu sein. Und ein kurzes Zögern meinerseits wird auch | |
schon als negative Reaktion gewertet. Trotzdem habe ich auf diese Frage bis | |
heute keine Antwort. | |
Denn insbesondere die letzten beiden Sommer in der Coronapandemie haben mir | |
vor Augen geführt, wie schön und wertvoll meine Kindheit auf dem Dorf war – | |
weil ich gerne dorthin zurückkehre. Dabei spreche ich natürlich nicht für | |
jede nichtweiße Person, die in einem Dorf aufwächst. Ich hatte das Glück, | |
in einem kleinen Ort groß zu werden, in dem die Menschen zum größten Teil | |
nett und freundlich zu mir waren. Doch gibt es eben auch die anderen | |
Erfahrungen; je nachdem, in welchem Umfeld und in welcher Region man groß | |
geworden ist. | |
Bisher gibt es noch keine Studien, die die Erfahrungen und Gefahren | |
erfassen, denen Schwarze Menschen und Menschen of Color ausgesetzt sind, | |
die auf dem Dorf aufwachsen. Doch dass sich diese Erfahrungen von denen der | |
weißen Mehrheitsgesellschaft unterscheiden, das weiß ich – aus meiner | |
eigenen Kindheit, aus Gesprächen mit meinen Geschwistern und aus Gesprächen | |
mit Miri, Kofi, Virginnia, Josephine und Stephanie, die in verschiedenen | |
ländlichen Regionen Deutschlands groß geworden sind und die ich bei der | |
Recherche zu diesem Artikel befragt habe. Zu ihrem persönlichen Schutz | |
nenne ich nur ihre Vornamen und benenne auch nicht die Dörfer, in denen sie | |
ihre Kindheit verbracht haben. | |
Hier will ich unsere Geschichten erzählen, die sich weit entfernt von | |
belebten Stadtzentren zugetragen haben. Wie ist es also, als Schwarzes Kind | |
in einem kleinen Dorf in Deutschland groß zu werden? | |
Meine Familie zog in den späten 1990er Jahren aufs Land. Meine Familie, das | |
sind mein Schwarzer Vater, meine weiße Mutter, meine ältere Schwester und | |
meine beiden älteren Brüder. Mein Vater war damals Schichtleiter in einer | |
Getränkefirma, die ihren Standort gewechselt hatte. Nach zwei Jahren, in | |
denen mein Vater pendelte, entschieden sich meine Eltern, der Firma | |
hinterherzuziehen. | |
Also ging es aus der Millionenstadt Berlin in ein niedersächsisches Dorf | |
mit 600 Einwohner*innen zwischen Wolfsburg und Hannover. Aber auch aus | |
einer Vierzimmerwohnung in ein Haus mit großem Hof und Garten. Ein Jahr | |
lebte meine Familie schon dort, dann wurden meine Zwillingsschwester und | |
ich geboren. | |
Wir wuchsen in einem Dorf auf, durch das man in weniger als zehn Minuten | |
gehen kann. Drumherum alles grün, viele Felder, auf denen Raps, Mais, | |
Weizen oder Gerste wachsen, ein paar Wiesen, auf denen Pferde grasen oder | |
Gänse watscheln, dazu viel Wald. Auch das Dorf selbst ist nicht gerade | |
hässlich, wenn man sich auf die Fachwerkhäuser konzentriert und die grau | |
verputzten Fassaden außer Acht lässt. Und das Beste ist, dass mittendurch | |
ein kleiner Bach fließt, in dem wir den ganzen Sommer über in unseren | |
Gummistiefeln planschen und kleine Fische fangen konnten. | |
## Der Bus fuhr nur stündlich | |
Nicht so schön fanden wir hingegen, dass der Bus nur stündlich fuhr – | |
obwohl wir uns eigentlich nicht beklagen konnten, immerhin fuhr er damit | |
deutlich häufiger als in den Nachbardörfern. Dafür findet sich bei uns weit | |
und breit kein Supermarkt, sodass meine Zwillingsschwester, meine beste | |
Freundin und ich die Tankstelle ansteuern mussten, wenn wir | |
Hubba-Bubba-Kaugummis und Lakritzlollis wollten. Zum Glück gab es damals | |
schon den Tennisplatz, wo ich die Massen an Zucker in Energie umsetzen | |
konnte, außerdem Fußballturniere, ein kleines Festival, Freibadpartys, | |
Dorf- und Schützenfeste – irgendwas war immer los. | |
Auf dem Dorf hatten wir mehrere Banden: In der Grundschule waren wir „Die | |
Wilden Kerle“. Wir hatten sogar Ausweise, auf denen die Namen der | |
Charaktere standen. Ich war Fabi, „der schnellste Rechtsaußen der Welt“. | |
Zwei Jahre später habe ich mich mit meiner Zwillingsschwester und unserer | |
besten Freundin zu den „Wilden Hühnern“ zusammengeschlossen. Mit | |
Bandenbuch! Während die anderen Dorfkinder in größeren Gruppen zusammen im | |
Garten spielten oder ins Freibad fuhren, blieben wir zu dritt und zogen auf | |
unseren Fahrrädern durch den Ort. | |
Da hatte meine Entfremdung von dem Dorf schon begonnen. Sie passierte | |
schleichend und lässt sich am besten am Musikgeschmack festmachen: Ich weiß | |
noch, wie irritierend ich es fand, wenn auf den Dorffesten Mickie Krauses | |
„Geh mal Bier hol’n“ gespielt wurde. Während die meisten anderen Kinder | |
solche Ballermann-Hits leidenschaftlich mitsingen konnten, ging ich lieber | |
vor die Tür und schnappte frische Luft. | |
Bei uns zu Hause wurde andere Musik gehört. In Videos aus unserer Kindheit | |
sieht man meine Schwester und mich mit drei oder vier Jahren zu R&B-Songs | |
von Whitney Houston, Usher und D’Angelo tanzen. Diese Künstler*innen | |
prägten mich, und so kommt es auch nicht von ungefähr, dass mein erstes | |
Konzert nicht von Helene Fischer war, sondern von Alicia Keys. Durch ihre | |
Musik lernte ich auch Klavier spielen, „If I Ain’t Got You“ war der erste | |
Song, den ich singen und wozu ich mich selbst begleiten konnte. | |
Mit zehn Jahren fing ich außerdem an, Geige zu spielen. Erst unfreiwillig, | |
dann mit immer mehr Begeisterung. Weil meine Mutter im Dorfkindergarten | |
arbeitete, war sie gut vernetzt, sie hatte Kontakt zum Bürgermeister, und | |
so kam es, dass meine Zwillingsschwester und ich öfters als Streichduo für | |
Senior*innenfeiern engagiert wurden. Zwei Schwarze Kinder, die für | |
eine Gruppe alter weißer Menschen Musik machen: Das mag aus heutiger Sicht | |
wie eine exotisierende Zurschaustellung wirken – doch das war es bei uns | |
nicht. Als viel unangenehmer sind mir die Auftritte beim Musikwettbewerb | |
„Jugend musiziert“ in Erinnerung geblieben. Der machte seinem Ruf, eine | |
klassische weiße und elitäre Musikszene zu repräsentieren, alle Ehre. Wir | |
waren die einzigen Schwarzen Kinder dort und konnten die Blicke der anderen | |
Teilnehmer*innen auf unseren Körpern förmlich spüren. | |
Bis auf die Sache mit der Musik war das Dorfleben für mich und meine | |
Geschwister als akzentfrei sprechende light-skinned Personen, also Schwarze | |
mit hellerem Hautton, aber eigentlich ziemlich gut. Andere hatten da | |
weniger Glück, wie ich aus dem Gespräch mit Miri erfahre. | |
Miri wuchs, ebenfalls in den späten 1990er Jahren, in einem Dorf mit 800 | |
Einwohner*innen in Thüringen auf. Sie hat eine Schwarze Mutter, einen | |
weißen Vater und einen jüngeren Bruder. | |
Im Dorf zog sich die rechte politische Gesinnung deutlich durch die | |
Gesellschaft und äußerte sich auch ihr gegenüber, erzählt sie mir am | |
Telefon. Zum Beispiel, als ihr kleiner Bruder aus dem Schulbus stieg und | |
vor der Schule von Nazikindern in den Schwitzkasten genommen wurde, weil | |
seine Schwester – im Gegensatz zu ihm – „nicht deutsch“ aussieht. Es ze… | |
sich auch in der Schule: Ein Mitschüler und Kind von NPD-Wähler*innen | |
beleidigte sie über Jahre hinweg im Unterricht. „Ich bin immer ruhig | |
geblieben, aber als er das N-Wort zu mir sagte, da musste der Frust raus | |
und ich habe zurückgeschrien“, sagt Miri. Die Lehrer*innen machten | |
nichts, und am Ende bekam sie Ärger und musste zur Schulleitung. Für ihren | |
Mitschüler gab es keine Konsequenzen. | |
## Sie kann es nicht ignorieren | |
Miris Mutter, die in den 1970er Jahren ebenfalls auf dem Dorf aufwuchs, | |
sagte ihr stets: „Du musst es ignorieren, irgendwann hört es auf.“ Für die | |
Mutter hat das vielleicht funktioniert, für deren Schwester, Miris Tante, | |
allerdings nicht. Sie kam nicht mit den rassistischen Äußerungen zurecht | |
und verließ das Dorf, in dem sie groß wurde, sobald es ging. Sie konnte die | |
rassistischen Erfahrungen nicht ignorieren. | |
Denn es hörte nicht einfach auf. Damals nicht und auch nicht später, wie | |
Miri erzählt. Wie sollte sie auch darüber hinwegsehen, dass ihre weißen | |
Kolleginnen und Kollegen vor ihrer geplanten Reise nach Australien zu ihr | |
sagten: „Wenn das so weitergeht mit den ganzen Flüchtlingen, dann kannst du | |
gleich in Australien bleiben.“ Das war 2015, als vermehrt Menschen nach | |
Deutschland geflüchtet sind und sich der Hass auf die, die nicht der | |
typischen Vorstellung vom „Deutschsein“ entsprachen, auch in Miris Umfeld | |
verstärkte. | |
Auch Kofi fühlte sich während seiner Kindheit und Jugend unwohl, wie er mir | |
erzählt. Er wuchs in einem Dorf in Brandenburg auf, das in den 2000er | |
Jahren Schwerpunkt der rechten Szene war. Auch wenn er damit | |
glücklicherweise selten direkt konfrontiert wurde, beeinflusste allein das | |
Wissen darum sein Lebensgefühl. | |
Josi hingegen empfindet das Dorf, in dem sie aufwuchs, als einen Ort, an | |
den sie auch heute gerne zurückkommt. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schule, | |
die sie als einen Ort des Unwohlseins beschreibt, der von rassistischen | |
Sichtweisen geprägt war. | |
In Josis Schilderungen finde ich mich wieder. Denn sobald ich mich aus der | |
Geborgenheit meines Dorfes hinausbewegte, wurde ich mit rassistischen | |
Übergriffen konfrontiert. Das fing schon mit der Busfahrt zur Schule an, wo | |
immer mindestens zwei Schüler*innen meine Zwillingsschwester und mich | |
beleidigten. Entweder bewarfen sie uns mit Murmeln oder flüsterten das | |
N-Wort und andere rassistische Beleidigungen. Ich trainierte mir anfangs | |
an, alles zu ignorieren, so zu tun, als hörte ich es nicht. Aber in mir | |
brodelte es. Und das Brodeln wurde immer lauter. Kochte hoch, flachte ab | |
und nahm wieder zu. | |
Witze über meinen Namen führten so weit, dass meine Schwester vorschlug, | |
einen anderen Bus zu nehmen, um diese Kinder zu meiden. Irgendwann konnte | |
ich die Wut nicht mehr unterdrücken und wollte sie rauslassen. Ich wollte | |
mich wehren und warf die Murmeln zurück. Es fühlte sich gut an, nicht alles | |
herunterzuschlucken, es war erleichternd: wie eine Last, die abfiel. Danach | |
warfen sie nicht mehr mit Murmeln und ließen uns in Ruhe. | |
Doch selbst in meinem Dorf änderte sich die Stimmung. Eines Tages | |
entdeckten wir, wie jemand ein AfD-Wahlplakat an die Laterne direkt vor | |
unserem Grundstück gehängt hatte. Es folgten viele weitere. Meine | |
Zwillingsschwester und ich entfernten sie ein ums andere Mal, um unserer | |
Wut Luft zu machen, auch wenn es nur eine kleine Aktion war. Meine Familie | |
fasste es zwar als Provokation auf, wir machten uns aber eher darüber | |
lustig, als uns Sorgen zu machen. Trotzdem gab es mir ein Gefühl von | |
Unwohlsein: Durch die Plakate war die Bedrohung näher gerückt und | |
sichtbarer geworden. | |
Wut verspürte ich auch, als mein Lehrer im Sportleistungskurs beim Thema | |
Doping die kenianischen Langstreckenläufer*innen als Beispiel nahm | |
und sagte: „Die ernähren sich da unten auch nicht nur von Reis und Wasser“ | |
– mit einem Lächeln im Gesicht, weil er schon wusste, dass ein paar meiner | |
Mitschüler*innen über seine Bemerkung lachen würden. Denn, ja klar, in | |
„Afrika“ gibt es nur Reis und Wasser und sonst nichts – da müssen die | |
„Afrikaner*innen“ ja irgendetwas Leistungssteigerndes genommen haben, um | |
gute Läufer*innen zu sein. | |
## Die Wut orchestrieren | |
Ich wollte damals etwas erwidern, aber ich schwieg. Ich hatte keine | |
Begriffe, um zu sagen, was an seinen Aussagen falsch war. Alles spannte | |
sich in mir auch an, als Mitschüler*innen beim Thema Kolonialismus in | |
Geschichte das N-Wort benutzten und danach diskutierten, was denn die | |
„politisch korrekte“ Bezeichnung für Schwarze Menschen wäre. Ich bekam | |
alles mit, hörte, wie meine weißen Mitschüler*innen über | |
Begrifflichkeiten redeten, die mich betrafen, aber konnte nichts sagen, | |
weil ich selbst noch keinen Begriff dafür hatte. Auch das machte mich | |
wütend. | |
Die Schwarze Schriftstellerin Audre Lorde beschrieb, was in uns brodelte, | |
in ihrem Essay „Vom Nutzen unseres Ärgers“ so: Wir mussten lernen, schrieb | |
sie, „unsere Wut zu orchestrieren, damit sie uns nicht zerriß. Wir mußten | |
lernen, uns durch sie hindurchzubewegen und sie zu nutzen: wir mußten Kraft | |
und Stärke und Einsicht für unser tägliches Leben aus ihr ziehen.“ | |
Ich war in meinem zweiten Studienjahr, als ich auf den Text aufmerksam | |
wurde. Er war eine Erleuchtung für mich, ein Aha-Moment. Denn endlich | |
erfuhr ich, dass meine Wut berechtigt ist und es auch gut ist, sie zu | |
zeigen. Seitdem halte ich, wenn es mir das wert ist, bei rassistischen | |
Bemerkungen verbal dagegen. Denn Wut zu unterdrücken hat das Potenzial, | |
sich selbst zu erdrücken. | |
Wut wird oft mit Aggression gleichgesetzt, aber es gibt noch so viele | |
andere Arten, sie zu äußern – und sie ist nicht immer laut. Man kann sie | |
auch durchs Schreiben ausdrücken, durch Proteste, Demos, durchs | |
Aussprechen. Wut ist wichtig. Wut auszudrücken ist wichtig. Wut hat eine | |
Daseinsberechtigung, und sie ist auch politisch. | |
Das alles erfuhr ich, als ich nach Bremen gezogen war, um dort Germanistik | |
und Musikwissenschaften zu studieren. In einem Germanistikseminar sprach | |
mich die einzige Schwarze Kommilitonin außer mir auf die Black Student | |
Union (BSU) Bremen an. Nach dem ersten Treffen war ich überwältigt, so | |
viele Schwarze Menschen in einem Raum zu sehen, die sich aktivistisch | |
engagierten! Ich lernte tolle Menschen kennen, unter denen ich mich schnell | |
wohlfühlte und die ich bewunderte. Seitdem wusste ich, was Empowerment | |
bedeutet. | |
Die BSU Bremen war die erste ihrer Art in Deutschland und wurde von | |
Schwarzen Studierenden gegründet. Sie veranstaltete Lesekreise, in denen | |
wir Texte von Frantz Fanon, dem Combahee River Collective oder Audre Lorde | |
lasen. Texte von Schwarzen Aktivist*innen und Schriftsteller*innen, die | |
die Mehrheit von uns im sonstigen Universitätsalltag vermisste. So auch | |
Sojourner Truth’ beeindruckende Rede „Ain’t I a Woman?“. Die Schwarze | |
Frauenrechtlerin und Abolitionistin thematisierte darin zum ersten Mal die | |
Mehrfachdiskriminierung von Schwarzen Frauen, die etwa von weißen | |
Feminist*innen rassistische und aus der eigenen Community sexistische | |
Diskriminierung erfuhren. | |
In der BSU lernte ich, dass die Phänomene, die ich in meiner Schulzeit | |
erlebt hatte, tatsächlich Dinge sind, die benannt werden können. Im Laufe | |
meines Studiums, als ich anfing, strukturelle Diskriminierung zu sehen und | |
durch Gruppen Empowerment und Bestätigung bekam, lernte ich Begriffe wie | |
Intersektionalität, also die Verschränkung von verschiedenen | |
Diskriminierungsformen, zu verstehen und zu nutzen. Rückblickend kann ich | |
einige Erfahrungen nun benennen und habe verstanden, wie wichtig Community | |
ist und welches Glück ich hatte, dass ich in meiner Kindheit und Jugend | |
nicht alleine war. | |
## In Gemeinschaft stärker | |
Denn ich hatte meine Eltern und meine älteren Geschwister, die mir sagten, | |
was ich erwidern konnte, wenn mich eine Person beleidigte. Ich hatte meine | |
Schwestern, die genau wussten, von welchen Gefühlen ich sprach, wenn ich | |
erzählte, dass mir wieder mal fremde Kinder in die Haare gefasst hatten. | |
Und ich hatte meine Zwillingsschwester immer um mich. Wir waren immer zu | |
zweit und mussten die Rassismuserfahrungen nicht alleine durchstehen. | |
Miri konnte ihre Erfahrungen und ihre Gedanken dazu nicht mit ihrer Familie | |
teilen. Sie war die Einzige, die sie nicht ignorierte. Ihr Vater und ihr | |
Bruder konnten sie nicht verstehen. Ihre Mutter wollte sie nicht verstehen. | |
Nur mit ihrer Tante konnte sie sich austauschen. | |
Auch Stephanie empfindet so. Sie wuchs in einem Dorf in Schleswig-Holstein | |
mit ihrer Mutter, einer Person of Color, und ihrem weißen Vater auf. | |
Dadurch, dass sie die Rassismuserfahrungen mit ihrer Mutter teilen konnte | |
und Unterstützung von ihr erhielt, wuchsen die beiden enger zusammen. | |
Virginnia wurde als einzige Schwarze Person in einer weißen Pflegefamilie | |
in einem nordrhein-westfälischen Dorf groß. Für sie war ein anderes | |
Schwarzes Mädchen im Dorf eine Bezugsperson, sagt sie. Sie waren zwar nicht | |
befreundet, aber immer, wenn sie bei ihr und ihrer Schwarzen Familie zu | |
Besuch war, spürte sie ein anderes Gefühl von Zugehörigkeit – das war ihre | |
„Community“. | |
Und jede Community braucht ihren Safe Space. Unserer war unser Zuhause, wo | |
wir tun und lassen konnten, was wir wollten; der Hof, auf dem meine | |
Zwillingsschwester und ich mit unserem Vater Fußball spielten, auf dem ich | |
von meinen Geschwistern Basketball lernte, ohne dass ältere Jugendliche | |
kamen und den Platz für sich beanspruchten oder dumme Sprüche machten. Wir | |
hatten viele Bäume, auf die wir klettern konnten, und einen Garten hinter | |
dem Haus, der von Bäumen und Büschen gesäumt war, sodass wir dort unter uns | |
waren. Hier konnte ich abschalten von allem, was sonst um mich herum | |
passierte. Hier konnte ich herumalbern, diskutieren, lachen, Freundschaften | |
vertiefen, die bis heute anhalten. Sie sind neben dem Besuch meiner Eltern | |
ein Grund, warum ich immer wieder aufs Dorf fahre. | |
## Nicht den Mund halten | |
„Wenn ich mit dem Wissen und Selbstbewusstsein von heute noch mal in der | |
Schule wäre, dann würde ich meinen Mund aufmachen und viel mehr | |
kritisieren“, sagen meine Schwarzen Freund*innen, Freund*innen of Color | |
und ich heute. „Wenn ich mit dem Wissen, das ich heute habe, noch mal in | |
mein elfjähriges Ich vom Dorf in Thüringen schlüpfen würde, wäre ich der | |
unglücklichste Mensch auf Erden“, sagt Miri. Denn die rassistischen | |
Strukturen, die für sie als Kind noch nicht zu überblicken waren, hätten | |
sie zerrissen: zu wissen, dass man eigentlich nicht erwünscht ist, sondern | |
nur geduldet wird – oder nicht einmal das. | |
Miri würde ihre Kinder, wenn sie welche bekommt, deshalb auch in einer | |
Stadt großziehen, sagt sie. Die Freiheit und Unbeschwertheit, die man auf | |
dem Dorf genießen kann, wiegen weniger als die Aussicht, sich die Leute, | |
mit denen man sich umgibt, aussuchen zu können. Denn das Dorf ist eine Welt | |
für sich, die oft noch nach Regeln funktioniert, die in den Städten | |
längst gestrig sind. „Selbst wenn man seine Kinder dann antirassistisch | |
und feministisch erzieht, läuft man im Dorf gegen eine Wand. Das Denken ist | |
da immer noch genauso wie vor zwanzig Jahren“, sagt Miri. Und auch die | |
meisten anderen meiner Gesprächspartner*innen schildern, dass bei | |
ihnen auf dem Land eher eine „Früher war alles besser“- oder „Das war sc… | |
immer so“- Stimmung vorherrsche. | |
Doch es gibt auch heute noch Schwarze Menschen, die ganz bewusst wieder | |
raus aufs Dorf ziehen. Meine ältere Schwester lebte über 20 Jahre in Berlin | |
und entschied sich vor einigen Jahren, aufs Land zurückzugehen, wo sie | |
jetzt mit ihrer Familie lebt. Sie kann sich inzwischen nicht mehr | |
vorstellen, in einer Stadt zu wohnen. Auch mein Vater, der in einem kleinen | |
Dorf in Gambia aufwuchs, würde nur noch in eine Stadt ziehen, wenn er dort | |
seine Kumpel hätte. Die Gartenarbeit würde ihm fehlen und auch die Ruhe und | |
entspannte Atmosphäre. | |
Würde ich meine Kinder auf dem Dorf großziehen? Will ich noch mal auf dem | |
Land leben? Würde ich anderen Menschen raten, ihre Schwarzen Kinder auf dem | |
Dorf großzuziehen, wenn sie mich fragen? | |
Das weiß ich noch nicht. Ich weiß aber, dass ich es nicht bereue, auf dem | |
Land aufgewachsen zu sein – im Gegensatz zu den Annahmen vieler. Für mich | |
war mein Dorf der schönste und sicherste Platz der Welt. | |
Niemand kann sich aussuchen, an welchem Ort sie oder er geboren wird. Ich | |
hatte Glück, dass es in einem guten Dorf war, und ich wünschte, dass noch | |
mehr Schwarze Menschen und Menschen of Color so schöne Erinnerungen mit | |
einem Landleben in Deutschland verbinden wie ich. | |
1 Aug 2021 | |
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