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# taz.de -- Als Schwarzes Kind auf dem Dorf: Die Wut kam später
> Sprüche im Bus, AfD-Plakate vor der Haustür: Als Schwarze Person auf dem
> Dorf aufzuwachsen ist nicht einfach. Aber es gibt auch gute Seiten.
Das typische deutsche Dorfkind läuft barfuß durch Wald und Wiese. Das
typische deutsche Dorfkind trägt kurze Hosen und friert als letztes – auch
im Winter. Es klettert liebend gern auf Bäume, sammelt Steine und andere
Dinge, kennt sich super mit Tieren aus und trinkt in Jugendjahren auf
Partys alle anderen unter den Tisch. Und das typische deutsche Dorfkind ist
natürlich weiß.
Auf mich trifft eigentlich nur eines dieser Klischees zu: Ich würde
behaupten, dass ich mich gut mit Tieren und Pflanzen auskenne. Ansonsten
bin ich kein typisches deutsches Dorfkind. Und ich bin Schwarz.
Vielleicht überrascht es Sie, dass ich Schwarz großschreibe. Das tue ich
deshalb, weil Schwarz in diesem Zusammenhang ein politischer Begriff ist,
der nicht auf den Hautton abhebt, sondern auf die
Diskriminierungserfahrungen, die Schwarze Menschen erleben und erlebt
haben.
[1][Laut deutschland.de] leben 15 Prozent der Menschen hierzulande in Orten
unter 5.000 Einwohner*innen. Erhebungen dazu, wie viele Schwarze Personen
darunter sind, gibt es nicht. Das [2][Statistische Bundesamt zählte] 2018
über 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. 12,7
Prozent von ihnen wohnten [3][laut Bundeszentrale für politische Bildung]
in ländlichen Regionen.
Zu „Menschen mit Migrationshintergrund“ zählen auch die, die einen
deutschen Pass und eine Migrationsgeschichte haben. Wie meine Familie und
ich.
„Ach krass, du kommst vom Dorf? Wie war es da so?“, werde ich oft von
Leuten aus der Stadt gefragt, mit denen ich die Diskriminierungserfahrung
teile, nicht weiß zu sein. Und ein kurzes Zögern meinerseits wird auch
schon als negative Reaktion gewertet. Trotzdem habe ich auf diese Frage bis
heute keine Antwort.
Denn insbesondere die letzten beiden Sommer in der Coronapandemie haben mir
vor Augen geführt, wie schön und wertvoll meine Kindheit auf dem Dorf war –
weil ich gerne dorthin zurückkehre. Dabei spreche ich natürlich nicht für
jede nichtweiße Person, die in einem Dorf aufwächst. Ich hatte das Glück,
in einem kleinen Ort groß zu werden, in dem die Menschen zum größten Teil
nett und freundlich zu mir waren. Doch gibt es eben auch die anderen
Erfahrungen; je nachdem, in welchem Umfeld und in welcher Region man groß
geworden ist.
Bisher gibt es noch keine Studien, die die Erfahrungen und Gefahren
erfassen, denen Schwarze Menschen und Menschen of Color ausgesetzt sind,
die auf dem Dorf aufwachsen. Doch dass sich diese Erfahrungen von denen der
weißen Mehrheitsgesellschaft unterscheiden, das weiß ich – aus meiner
eigenen Kindheit, aus Gesprächen mit meinen Geschwistern und aus Gesprächen
mit Miri, Kofi, Virginnia, Josephine und Stephanie, die in verschiedenen
ländlichen Regionen Deutschlands groß geworden sind und die ich bei der
Recherche zu diesem Artikel befragt habe. Zu ihrem persönlichen Schutz
nenne ich nur ihre Vornamen und benenne auch nicht die Dörfer, in denen sie
ihre Kindheit verbracht haben.
Hier will ich unsere Geschichten erzählen, die sich weit entfernt von
belebten Stadtzentren zugetragen haben. Wie ist es also, als Schwarzes Kind
in einem kleinen Dorf in Deutschland groß zu werden?
Meine Familie zog in den späten 1990er Jahren aufs Land. Meine Familie, das
sind mein Schwarzer Vater, meine weiße Mutter, meine ältere Schwester und
meine beiden älteren Brüder. Mein Vater war damals Schichtleiter in einer
Getränkefirma, die ihren Standort gewechselt hatte. Nach zwei Jahren, in
denen mein Vater pendelte, entschieden sich meine Eltern, der Firma
hinterherzuziehen.
Also ging es aus der Millionenstadt Berlin in ein niedersächsisches Dorf
mit 600 Einwohner*innen zwischen Wolfsburg und Hannover. Aber auch aus
einer Vierzimmerwohnung in ein Haus mit großem Hof und Garten. Ein Jahr
lebte meine Familie schon dort, dann wurden meine Zwillingsschwester und
ich geboren.
Wir wuchsen in einem Dorf auf, durch das man in weniger als zehn Minuten
gehen kann. Drumherum alles grün, viele Felder, auf denen Raps, Mais,
Weizen oder Gerste wachsen, ein paar Wiesen, auf denen Pferde grasen oder
Gänse watscheln, dazu viel Wald. Auch das Dorf selbst ist nicht gerade
hässlich, wenn man sich auf die Fachwerkhäuser konzentriert und die grau
verputzten Fassaden außer Acht lässt. Und das Beste ist, dass mittendurch
ein kleiner Bach fließt, in dem wir den ganzen Sommer über in unseren
Gummistiefeln planschen und kleine Fische fangen konnten.
## Der Bus fuhr nur stündlich
Nicht so schön fanden wir hingegen, dass der Bus nur stündlich fuhr –
obwohl wir uns eigentlich nicht beklagen konnten, immerhin fuhr er damit
deutlich häufiger als in den Nachbardörfern. Dafür findet sich bei uns weit
und breit kein Supermarkt, sodass meine Zwillingsschwester, meine beste
Freundin und ich die Tankstelle ansteuern mussten, wenn wir
Hubba-Bubba-Kaugummis und Lakritzlollis wollten. Zum Glück gab es damals
schon den Tennisplatz, wo ich die Massen an Zucker in Energie umsetzen
konnte, außerdem Fußballturniere, ein kleines Festival, Freibadpartys,
Dorf- und Schützenfeste – irgendwas war immer los.
Auf dem Dorf hatten wir mehrere Banden: In der Grundschule waren wir „Die
Wilden Kerle“. Wir hatten sogar Ausweise, auf denen die Namen der
Charaktere standen. Ich war Fabi, „der schnellste Rechtsaußen der Welt“.
Zwei Jahre später habe ich mich mit meiner Zwillingsschwester und unserer
besten Freundin zu den „Wilden Hühnern“ zusammengeschlossen. Mit
Bandenbuch! Während die anderen Dorfkinder in größeren Gruppen zusammen im
Garten spielten oder ins Freibad fuhren, blieben wir zu dritt und zogen auf
unseren Fahrrädern durch den Ort.
Da hatte meine Entfremdung von dem Dorf schon begonnen. Sie passierte
schleichend und lässt sich am besten am Musikgeschmack festmachen: Ich weiß
noch, wie irritierend ich es fand, wenn auf den Dorffesten Mickie Krauses
„Geh mal Bier hol’n“ gespielt wurde. Während die meisten anderen Kinder
solche Ballermann-Hits leidenschaftlich mitsingen konnten, ging ich lieber
vor die Tür und schnappte frische Luft.
Bei uns zu Hause wurde andere Musik gehört. In Videos aus unserer Kindheit
sieht man meine Schwester und mich mit drei oder vier Jahren zu R&B-Songs
von Whitney Houston, Usher und D’Angelo tanzen. Diese Künstler*innen
prägten mich, und so kommt es auch nicht von ungefähr, dass mein erstes
Konzert nicht von Helene Fischer war, sondern von Alicia Keys. Durch ihre
Musik lernte ich auch Klavier spielen, „If I Ain’t Got You“ war der erste
Song, den ich singen und wozu ich mich selbst begleiten konnte.
Mit zehn Jahren fing ich außerdem an, Geige zu spielen. Erst unfreiwillig,
dann mit immer mehr Begeisterung. Weil meine Mutter im Dorfkindergarten
arbeitete, war sie gut vernetzt, sie hatte Kontakt zum Bürgermeister, und
so kam es, dass meine Zwillingsschwester und ich öfters als Streichduo für
Senior*innenfeiern engagiert wurden. Zwei Schwarze Kinder, die für
eine Gruppe alter weißer Menschen Musik machen: Das mag aus heutiger Sicht
wie eine exotisierende Zurschaustellung wirken – doch das war es bei uns
nicht. Als viel unangenehmer sind mir die Auftritte beim Musikwettbewerb
„Jugend musiziert“ in Erinnerung geblieben. Der machte seinem Ruf, eine
klassische weiße und elitäre Musikszene zu repräsentieren, alle Ehre. Wir
waren die einzigen Schwarzen Kinder dort und konnten die Blicke der anderen
Teilnehmer*innen auf unseren Körpern förmlich spüren.
Bis auf die Sache mit der Musik war das Dorfleben für mich und meine
Geschwister als akzentfrei sprechende light-skinned Personen, also Schwarze
mit hellerem Hautton, aber eigentlich ziemlich gut. Andere hatten da
weniger Glück, wie ich aus dem Gespräch mit Miri erfahre.
Miri wuchs, ebenfalls in den späten 1990er Jahren, in einem Dorf mit 800
Einwohner*innen in Thüringen auf. Sie hat eine Schwarze Mutter, einen
weißen Vater und einen jüngeren Bruder.
Im Dorf zog sich die rechte politische Gesinnung deutlich durch die
Gesellschaft und äußerte sich auch ihr gegenüber, erzählt sie mir am
Telefon. Zum Beispiel, als ihr kleiner Bruder aus dem Schulbus stieg und
vor der Schule von Nazikindern in den Schwitzkasten genommen wurde, weil
seine Schwester – im Gegensatz zu ihm – „nicht deutsch“ aussieht. Es ze…
sich auch in der Schule: Ein Mitschüler und Kind von NPD-Wähler*innen
beleidigte sie über Jahre hinweg im Unterricht. „Ich bin immer ruhig
geblieben, aber als er das N-Wort zu mir sagte, da musste der Frust raus
und ich habe zurückgeschrien“, sagt Miri. Die Lehrer*innen machten
nichts, und am Ende bekam sie Ärger und musste zur Schulleitung. Für ihren
Mitschüler gab es keine Konsequenzen.
## Sie kann es nicht ignorieren
Miris Mutter, die in den 1970er Jahren ebenfalls auf dem Dorf aufwuchs,
sagte ihr stets: „Du musst es ignorieren, irgendwann hört es auf.“ Für die
Mutter hat das vielleicht funktioniert, für deren Schwester, Miris Tante,
allerdings nicht. Sie kam nicht mit den rassistischen Äußerungen zurecht
und verließ das Dorf, in dem sie groß wurde, sobald es ging. Sie konnte die
rassistischen Erfahrungen nicht ignorieren.
Denn es hörte nicht einfach auf. Damals nicht und auch nicht später, wie
Miri erzählt. Wie sollte sie auch darüber hinwegsehen, dass ihre weißen
Kolleginnen und Kollegen vor ihrer geplanten Reise nach Australien zu ihr
sagten: „Wenn das so weitergeht mit den ganzen Flüchtlingen, dann kannst du
gleich in Australien bleiben.“ Das war 2015, als vermehrt Menschen nach
Deutschland geflüchtet sind und sich der Hass auf die, die nicht der
typischen Vorstellung vom „Deutschsein“ entsprachen, auch in Miris Umfeld
verstärkte.
Auch Kofi fühlte sich während seiner Kindheit und Jugend unwohl, wie er mir
erzählt. Er wuchs in einem Dorf in Brandenburg auf, das in den 2000er
Jahren Schwerpunkt der rechten Szene war. Auch wenn er damit
glücklicherweise selten direkt konfrontiert wurde, beeinflusste allein das
Wissen darum sein Lebensgefühl.
Josi hingegen empfindet das Dorf, in dem sie aufwuchs, als einen Ort, an
den sie auch heute gerne zurückkommt. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schule,
die sie als einen Ort des Unwohlseins beschreibt, der von rassistischen
Sichtweisen geprägt war.
In Josis Schilderungen finde ich mich wieder. Denn sobald ich mich aus der
Geborgenheit meines Dorfes hinausbewegte, wurde ich mit rassistischen
Übergriffen konfrontiert. Das fing schon mit der Busfahrt zur Schule an, wo
immer mindestens zwei Schüler*innen meine Zwillingsschwester und mich
beleidigten. Entweder bewarfen sie uns mit Murmeln oder flüsterten das
N-Wort und andere rassistische Beleidigungen. Ich trainierte mir anfangs
an, alles zu ignorieren, so zu tun, als hörte ich es nicht. Aber in mir
brodelte es. Und das Brodeln wurde immer lauter. Kochte hoch, flachte ab
und nahm wieder zu.
Witze über meinen Namen führten so weit, dass meine Schwester vorschlug,
einen anderen Bus zu nehmen, um diese Kinder zu meiden. Irgendwann konnte
ich die Wut nicht mehr unterdrücken und wollte sie rauslassen. Ich wollte
mich wehren und warf die Murmeln zurück. Es fühlte sich gut an, nicht alles
herunterzuschlucken, es war erleichternd: wie eine Last, die abfiel. Danach
warfen sie nicht mehr mit Murmeln und ließen uns in Ruhe.
Doch selbst in meinem Dorf änderte sich die Stimmung. Eines Tages
entdeckten wir, wie jemand ein AfD-Wahlplakat an die Laterne direkt vor
unserem Grundstück gehängt hatte. Es folgten viele weitere. Meine
Zwillingsschwester und ich entfernten sie ein ums andere Mal, um unserer
Wut Luft zu machen, auch wenn es nur eine kleine Aktion war. Meine Familie
fasste es zwar als Provokation auf, wir machten uns aber eher darüber
lustig, als uns Sorgen zu machen. Trotzdem gab es mir ein Gefühl von
Unwohlsein: Durch die Plakate war die Bedrohung näher gerückt und
sichtbarer geworden.
Wut verspürte ich auch, als mein Lehrer im Sportleistungskurs beim Thema
Doping die kenianischen Langstreckenläufer*innen als Beispiel nahm
und sagte: „Die ernähren sich da unten auch nicht nur von Reis und Wasser“
– mit einem Lächeln im Gesicht, weil er schon wusste, dass ein paar meiner
Mitschüler*innen über seine Bemerkung lachen würden. Denn, ja klar, in
„Afrika“ gibt es nur Reis und Wasser und sonst nichts – da müssen die
„Afrikaner*innen“ ja irgendetwas Leistungssteigerndes genommen haben, um
gute Läufer*innen zu sein.
## Die Wut orchestrieren
Ich wollte damals etwas erwidern, aber ich schwieg. Ich hatte keine
Begriffe, um zu sagen, was an seinen Aussagen falsch war. Alles spannte
sich in mir auch an, als Mitschüler*innen beim Thema Kolonialismus in
Geschichte das N-Wort benutzten und danach diskutierten, was denn die
„politisch korrekte“ Bezeichnung für Schwarze Menschen wäre. Ich bekam
alles mit, hörte, wie meine weißen Mitschüler*innen über
Begrifflichkeiten redeten, die mich betrafen, aber konnte nichts sagen,
weil ich selbst noch keinen Begriff dafür hatte. Auch das machte mich
wütend.
Die Schwarze Schriftstellerin Audre Lorde beschrieb, was in uns brodelte,
in ihrem Essay „Vom Nutzen unseres Ärgers“ so: Wir mussten lernen, schrieb
sie, „unsere Wut zu orchestrieren, damit sie uns nicht zerriß. Wir mußten
lernen, uns durch sie hindurchzubewegen und sie zu nutzen: wir mußten Kraft
und Stärke und Einsicht für unser tägliches Leben aus ihr ziehen.“
Ich war in meinem zweiten Studienjahr, als ich auf den Text aufmerksam
wurde. Er war eine Erleuchtung für mich, ein Aha-Moment. Denn endlich
erfuhr ich, dass meine Wut berechtigt ist und es auch gut ist, sie zu
zeigen. Seitdem halte ich, wenn es mir das wert ist, bei rassistischen
Bemerkungen verbal dagegen. Denn Wut zu unterdrücken hat das Potenzial,
sich selbst zu erdrücken.
Wut wird oft mit Aggression gleichgesetzt, aber es gibt noch so viele
andere Arten, sie zu äußern – und sie ist nicht immer laut. Man kann sie
auch durchs Schreiben ausdrücken, durch Proteste, Demos, durchs
Aussprechen. Wut ist wichtig. Wut auszudrücken ist wichtig. Wut hat eine
Daseinsberechtigung, und sie ist auch politisch.
Das alles erfuhr ich, als ich nach Bremen gezogen war, um dort Germanistik
und Musikwissenschaften zu studieren. In einem Germanistikseminar sprach
mich die einzige Schwarze Kommilitonin außer mir auf die Black Student
Union (BSU) Bremen an. Nach dem ersten Treffen war ich überwältigt, so
viele Schwarze Menschen in einem Raum zu sehen, die sich aktivistisch
engagierten! Ich lernte tolle Menschen kennen, unter denen ich mich schnell
wohlfühlte und die ich bewunderte. Seitdem wusste ich, was Empowerment
bedeutet.
Die BSU Bremen war die erste ihrer Art in Deutschland und wurde von
Schwarzen Studierenden gegründet. Sie veranstaltete Lesekreise, in denen
wir Texte von Frantz Fanon, dem Combahee River Collective oder Audre Lorde
lasen. Texte von Schwarzen Aktivist*innen und Schriftsteller*innen, die
die Mehrheit von uns im sonstigen Universitätsalltag vermisste. So auch
Sojourner Truth’ beeindruckende Rede „Ain’t I a Woman?“. Die Schwarze
Frauenrechtlerin und Abolitionistin thematisierte darin zum ersten Mal die
Mehrfachdiskriminierung von Schwarzen Frauen, die etwa von weißen
Feminist*innen rassistische und aus der eigenen Community sexistische
Diskriminierung erfuhren.
In der BSU lernte ich, dass die Phänomene, die ich in meiner Schulzeit
erlebt hatte, tatsächlich Dinge sind, die benannt werden können. Im Laufe
meines Studiums, als ich anfing, strukturelle Diskriminierung zu sehen und
durch Gruppen Empowerment und Bestätigung bekam, lernte ich Begriffe wie
Intersektionalität, also die Verschränkung von verschiedenen
Diskriminierungsformen, zu verstehen und zu nutzen. Rückblickend kann ich
einige Erfahrungen nun benennen und habe verstanden, wie wichtig Community
ist und welches Glück ich hatte, dass ich in meiner Kindheit und Jugend
nicht alleine war.
## In Gemeinschaft stärker
Denn ich hatte meine Eltern und meine älteren Geschwister, die mir sagten,
was ich erwidern konnte, wenn mich eine Person beleidigte. Ich hatte meine
Schwestern, die genau wussten, von welchen Gefühlen ich sprach, wenn ich
erzählte, dass mir wieder mal fremde Kinder in die Haare gefasst hatten.
Und ich hatte meine Zwillingsschwester immer um mich. Wir waren immer zu
zweit und mussten die Rassismuserfahrungen nicht alleine durchstehen.
Miri konnte ihre Erfahrungen und ihre Gedanken dazu nicht mit ihrer Familie
teilen. Sie war die Einzige, die sie nicht ignorierte. Ihr Vater und ihr
Bruder konnten sie nicht verstehen. Ihre Mutter wollte sie nicht verstehen.
Nur mit ihrer Tante konnte sie sich austauschen.
Auch Stephanie empfindet so. Sie wuchs in einem Dorf in Schleswig-Holstein
mit ihrer Mutter, einer Person of Color, und ihrem weißen Vater auf.
Dadurch, dass sie die Rassismuserfahrungen mit ihrer Mutter teilen konnte
und Unterstützung von ihr erhielt, wuchsen die beiden enger zusammen.
Virginnia wurde als einzige Schwarze Person in einer weißen Pflegefamilie
in einem nordrhein-westfälischen Dorf groß. Für sie war ein anderes
Schwarzes Mädchen im Dorf eine Bezugsperson, sagt sie. Sie waren zwar nicht
befreundet, aber immer, wenn sie bei ihr und ihrer Schwarzen Familie zu
Besuch war, spürte sie ein anderes Gefühl von Zugehörigkeit – das war ihre
„Community“.
Und jede Community braucht ihren Safe Space. Unserer war unser Zuhause, wo
wir tun und lassen konnten, was wir wollten; der Hof, auf dem meine
Zwillingsschwester und ich mit unserem Vater Fußball spielten, auf dem ich
von meinen Geschwistern Basketball lernte, ohne dass ältere Jugendliche
kamen und den Platz für sich beanspruchten oder dumme Sprüche machten. Wir
hatten viele Bäume, auf die wir klettern konnten, und einen Garten hinter
dem Haus, der von Bäumen und Büschen gesäumt war, sodass wir dort unter uns
waren. Hier konnte ich abschalten von allem, was sonst um mich herum
passierte. Hier konnte ich herumalbern, diskutieren, lachen, Freundschaften
vertiefen, die bis heute anhalten. Sie sind neben dem Besuch meiner Eltern
ein Grund, warum ich immer wieder aufs Dorf fahre.
## Nicht den Mund halten
„Wenn ich mit dem Wissen und Selbstbewusstsein von heute noch mal in der
Schule wäre, dann würde ich meinen Mund aufmachen und viel mehr
kritisieren“, sagen meine Schwarzen Freund*innen, Freund*innen of Color
und ich heute. „Wenn ich mit dem Wissen, das ich heute habe, noch mal in
mein elfjähriges Ich vom Dorf in Thüringen schlüpfen würde, wäre ich der
unglücklichste Mensch auf Erden“, sagt Miri. Denn die rassistischen
Strukturen, die für sie als Kind noch nicht zu überblicken waren, hätten
sie zerrissen: zu wissen, dass man eigentlich nicht erwünscht ist, sondern
nur geduldet wird – oder nicht einmal das.
Miri würde ihre Kinder, wenn sie welche bekommt, deshalb auch in einer
Stadt großziehen, sagt sie. Die Freiheit und Unbeschwertheit, die man auf
dem Dorf genießen kann, wiegen weniger als die Aussicht, sich die Leute,
mit denen man sich umgibt, aussuchen zu können. Denn das Dorf ist eine Welt
für sich, die oft noch nach Regeln funktioniert, die in den Städten
längst gestrig sind. „Selbst wenn man seine Kinder dann antirassistisch
und feministisch erzieht, läuft man im Dorf gegen eine Wand. Das Denken ist
da immer noch genauso wie vor zwanzig Jahren“, sagt Miri. Und auch die
meisten anderen meiner Gesprächspartner*innen schildern, dass bei
ihnen auf dem Land eher eine „Früher war alles besser“- oder „Das war sc…
immer so“- Stimmung vorherrsche.
Doch es gibt auch heute noch Schwarze Menschen, die ganz bewusst wieder
raus aufs Dorf ziehen. Meine ältere Schwester lebte über 20 Jahre in Berlin
und entschied sich vor einigen Jahren, aufs Land zurückzugehen, wo sie
jetzt mit ihrer Familie lebt. Sie kann sich inzwischen nicht mehr
vorstellen, in einer Stadt zu wohnen. Auch mein Vater, der in einem kleinen
Dorf in Gambia aufwuchs, würde nur noch in eine Stadt ziehen, wenn er dort
seine Kumpel hätte. Die Gartenarbeit würde ihm fehlen und auch die Ruhe und
entspannte Atmosphäre.
Würde ich meine Kinder auf dem Dorf großziehen? Will ich noch mal auf dem
Land leben? Würde ich anderen Menschen raten, ihre Schwarzen Kinder auf dem
Dorf großzuziehen, wenn sie mich fragen?
Das weiß ich noch nicht. Ich weiß aber, dass ich es nicht bereue, auf dem
Land aufgewachsen zu sein – im Gegensatz zu den Annahmen vieler. Für mich
war mein Dorf der schönste und sicherste Platz der Welt.
Niemand kann sich aussuchen, an welchem Ort sie oder er geboren wird. Ich
hatte Glück, dass es in einem guten Dorf war, und ich wünschte, dass noch
mehr Schwarze Menschen und Menschen of Color so schöne Erinnerungen mit
einem Landleben in Deutschland verbinden wie ich.
1 Aug 2021
## LINKS
[1] https://www.deutschland.de/de/topic/leben/stadt-und-land-fakten-zu-urbanisi…
[2] https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/Downloads/d…
[3] https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deut…
## AUTOREN
Neneh Sowe
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Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Rassismus
Braunkohledörfer
Initiative Schwarze Menschen in Deutschland
Dorfleben
IG
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Schwerpunkt Landtagswahl Thüringen
Dorfleben
Lettland
Schwerpunkt AfD
Schwarze Deutsche
Annalena Baerbock
Kreativwirtschaft
Kamerun
Schwerpunkt Rassismus
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