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# taz.de -- Bedürfnis nach Tante Emma-Läden: Mehr als nur Dorfromantik
> Studie übers Einkaufen im Dorf: Das Braunschweiger Institut für Ländliche
> Räume im Thünen-Institut hat erforscht, wie die Nahversorgung
> funktioniert.
Bild: Klönschnack ist auch wichtig: Im Dorfladen geht es nicht nur um den Eink…
Hannover taz | Alle paar Jahre wird sein Comeback beschworen: Der
Tante-Emma-Laden mitten im Dorf, möglichst urig und charmant und irgendwie
speziell, wo man mal eben zu Fuß einkaufen kann und nebenbei noch einen
kleinen Klönschnack halten. Ganz anders als beim seelenlosen Discounter an
der Ausfallstraße, wo die gestresste Kassiererin die Ware so schnell vom
Band schiebt, dass das Einpacken zum Hochleistungssport wird.
„Dorfromantik“ nennt Patrick Küpper das mit leisem Lächeln. Gegen die hat
er nichts, im Gegenteil. Als Wissenschaftler beim Institut für
Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen im Thünen-Institut hat er sich aber
sehr genau damit auseinandergesetzt, wann sie denn eigentlich funktioniert,
diese Art der Nahversorgung – und wann eher nicht.
Die Statistik ist ziemlich eindeutig: In den letzten 30 Jahren ist die
Anzahl der kleinen Lebensmittelgeschäfte bis 399 m2 dramatisch
zurückgegangen. 1990 war das noch die dominante Ladenform mit mehr als
65.000 Läden bundesweit. 2019 waren es schon nur noch 8.550.
Der Konzentrationsprozess weg von den kleinen inhabergeführten Läden hin zu
den großen Ketten führt dazu, dass viele Menschen im ländlichen Raum ihren
Einkauf eben nur noch mit dem Auto erledigen können. Pech für diejenigen,
die nicht so mobil sind, Pech unter Umständen auch für den sozialen
Zusammenhalt im Ort.
Weil diese Problematik mittlerweile vielen bewusst ist, formieren sich
immer wieder Gegenbewegungen, die zum Teil auch politisch gefördert werden.
Und genau das führt zu den wichtigsten Betätigungsfeldern der Forscher am
Thünen-Institut: Politik zu beraten, Fördermaßnahmen zu begleiten und
auszuwerten.
Vor allem Bürgerläden starten oft mit großem Elan. Da finden sich Menschen
zusammen, die etwas für die Lebensqualität in ihrem Dorf tun wollen. Das
ist ein starkes Motiv und es hat durchaus das Potenzial, Kaufkraft zu
binden, zeigen die Daten des Thünen-Instituts. Aber, sagt Küpper, die
Bedarfs- und Wirtschaftlichkeitsanalysen, die dann in Auftrag gegeben
werden, fallen oft zu optimistisch aus.
„Da greift im Grunde der Intention-Behaviour-Gap, den man aus der
klassischen Psychologie kennt“, sagt der Geograph. Wenn man vorher eine
Umfrage macht, sagen fast alle Haushalte, [1][sie würden im Dorfladen
einkaufen], aber nur ein Bruchteil kauft dann auch mehr als nur die
vergessene Milch.
Das Projekt sollte also auch dazu dienen, realistischere
Prognoseinstrumente zu entwickeln. Ergebnis: Es ist sinnvoller, nach den
täglichen Routinen, dem Pkw-Gebrauch und der Preisempfindlichkeit zu
fragen. Wer jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit fährt und sich angewöhnt hat,
auf dem Weg x Dinge gleich mit zu erledigen und beim Aldi im Angebot zu
kaufen, ist als Kunde für den Dorfladen schwer einzufangen.
Was dagegen gut funktioniert: Eine hohe Bindung an das Dorf, eine
Beteiligung an dem Projekt in Form von Anteilen oder ehrenamtlicher Arbeit,
ein gewisses Maß an sozialer Kontrolle oder auch ein Faible für regionale
Bioprodukte als Highlight im Sortiment.
## Die Wunschlisten sind auf dem Dorf lang
Überhaupt das Sortiment: „Um die 2.000 Produkte braucht man für ein solides
Grundsortiment unseren Erfahrungen zufolge schon“, sagt Küpper. Der
Grundkonflikt „bio gegen günstig“ ist dabei oft nicht ganz leicht
aufzulösen, das Zusammenstellen braucht Fingerspitzengefühl und große
Kundennähe. Das ist nämlich etwas, was bei der Tante-Emma-Laden-Romantik
oft nicht mitbedacht wird: Die Bereitschaft, sich mit dem bisschen
zufriedenzugeben, was halt gerade da ist, ist nicht mehr sehr ausgeprägt.
Auch andere Zusatzleistungen wollen vorsichtig kalkuliert werden, sagt
Küpper. Auf der Wunschliste landet da schnell vieles: Postshop, Lotto,
Reinigung, noch ein bisschen Gastronomie, ein Café oder vielleicht ein
Mittagstisch. Das kann wichtig sein, um die Besucherfrequenz zu erhöhen,
die soziale Funktion des Ladens zu stärken und wird oft auch von
Kommunalpolitikern sehr gewünscht. „Aber viele dieser Dinge stellen eben
auch hohe Anforderungen an Technik, Platz und Personal – und der Effekt auf
den Umsatz ist oft nicht so hoch, dass das wieder eingespielt wird.“
Schon 2011/2012 hatten die Forscher im Auftrag des Bundesbauministeriums
über 100 Betreiber von Dorfläden befragt. Jetzt – von September 2017 bis
Sommer 2021 – wurde diese Befragung noch einmal erneuert, erweitert und um
sechs Fallstudien ergänzt.
„Für die erste Befragung haben wir damals relativ hemdsärmelig per
Internetrecherche Dorfladenbetreiber ausfindig gemacht und befragt. Das
hatte allerdings den Nachteil, dass wir relativ viele neue Läden dabei
hatten – weil über die halt berichtet wird, im Gegensatz zu den
Alteingesessenen.“
Um das auszugleichen, kauften die Forscher für die zweite Projektrunde noch
einmal Daten von einem privaten Adressanbieter. Die allerdings in
wochenlanger mühevoller Kleinarbeit von einer studentischen Hilfskraft auch
erst überprüft und aufbereitet werden mussten. In den sechs Fallstudien
wurden schließlich noch jeweils drei Orte unter die Lupe genommen, in denen
Dorfläden eröffnet oder geschlossen wurden. Dort befragten die
Wissenschaftler nicht nur die Betreiber, sondern auch die Haushalte im
Einzugsgebiet – und zwar jeweils vor und nach der Schließung
beziehungsweise Eröffnung des Dorfladens.
Entstanden ist so [2][eine umfangreiche Broschüre], die als Handreichung
für Praktiker und Politiker gleichermaßen dienen soll und über die Webseite
des Thünen-Instituts heruntergeladen werden kann. Sie bündelt auch
Informationen zu Fördermöglichkeiten, die je nach Bundesland
unterschiedlich ausfallen. Weitere Analysen sind in Arbeit. Ob das Projekt
in ein paar Jahren eine Wiederbelebung erfährt, vermag Küpper nicht zu
sagen, will es aber auch nicht ausschließen.
Immerhin beschreiben die Forscher auch Ansätze, die für eine andere Dynamik
in diesem Markt sorgen könnten: Mit MyEnso gibt es beispielsweise ein
Start-up-Unternehmen, dass sich mit seinen „Tante Enso“-Läden an einer
Mischung aus Onlinelieferservice und stationärem Handel versucht.
[3][Verkaufsautomaten], gekühlte Click&Collect-Boxen, vollautomatisierte
Läden, die ohne Personal auskommen, sind weitere Varianten. Was davon
trägt, wird sich erst noch herausstellen müssen, zumal die wichtige soziale
Funktion der Läden hier sehr kurz kommt.
14 May 2022
## LINKS
[1] /Dokumentarfilm-Alles-was-man-braucht/!5851048
[2] https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/ministerien/bmub/versc…
[3] /Unterwegs-in-einem-Eierhaeuschen/!5789313
## AUTOREN
Nadine Conti
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