# taz.de -- Vormarsch der Online-Supermärkte: Schöne neue Shoppingwelt | |
> Noch ist ihr Marktanteil klein, doch Online-Supermärkte werden sich | |
> durchsetzen. Für die Dörfer muss das keine schlechte Nachricht sein. | |
Bild: Für den ländlichen Raum mit seiner Unterversorgung an Einkaufsmöglichk… | |
Müssen wir um unsere guten alten Supermärkte trauern? Oder wäre es der | |
Anfang von etwas Neuem, Gutem, Besseren und Schöneren im Digitalen? | |
Allmählich verlagert sich nämlich [1][auch der Alltags- und Wocheneinkauf | |
ins Netz]. Das Online-Segment „Lebensmittel inklusive Getränke, Tabak- | |
und Drogeriewaren“ erlebt irre Zuwächse. Ja, es dauert noch. Aber absehbar | |
wird er, der Tag, wo du echt nicht mehr schnell noch nach Aldi fahren | |
kannst. Weil: Hat schon zu. Und zwar für immer. | |
In Großbritannien ist der Trend schon weit fortgeschritten. Corona hat ihm | |
aber auch in Frankreich und Deutschland einen Schub gegeben. Und während | |
die Machtverhältnisse im stationären Einzelhandel und Lebensmitteldiscount | |
stabil wirken, balgen sich hier neben den etablierten Größen wie Rewe und | |
Edeka – ja doch, die arbeiten selbst mit daran, den Filialsupermarkt | |
abzuschaffen – auch neue Unternehmen ums Online-Krümelchen von mittlerweile | |
3,98 Milliarden Euro Umsatz. Denn ihm ist prophezeit, dass es dank | |
ökonomischer Magie irgendwann fast die ganze | |
Brot-Butter-Bier-und-Klopapier-Torte von 260 Milliarden sein wird. | |
Einkaufen geht dann so: Schöne Werbebilder von Auberginen, Pilzen und | |
Joghurt anschauen. Häkchen setzen, Gebindegröße und Stückzahl wählen. Zur | |
digitalen Kasse gehen. Liefertermin und Zahlung bestätigen. Fertig. | |
Allerdings oft nur, wenn man im richtigen Postleitzahlengebiet wohnt und | |
Zugriff auf die entsprechenden Zahlungsmittel hat: ohne Konto kein | |
Online-Shopping. Irgendwo geht dann in einer Halle in einem | |
Industriegelände, in Garching, in Braunschweig-West die Bestellung ein, | |
oder eben jetzt hier bei My Enso, die im Bremer Güterverkehrszentrum liegt | |
und mindestens an diesem sonnigen Junitag ihren kompletten Strom vom Dach | |
erntet. | |
Ein Arbeiter – Warnweste, Helm, Sicherheitsschuhe sind Pflicht – | |
übermittelt der Spezialsoftware die Einkaufsliste und tritt an die | |
Packstation. Die besteht aus einem Stahlregal mit geschrägten Gefachen, | |
direkt an einer der türgroßen Öffnungen, die hin zu dem mit einem | |
Metallgitter abgetrennten Bereich führen. In dem, tatsächlich wie in einem | |
Supermarkt, nur völlig werbefrei, ohne Preisschildchen und komplett | |
menschenleer, eine Landschaft aus Regalen aufgebaut ist – das „Warehouse“, | |
so heißt das echt. Und jetzt geht’s los. | |
## Ballett der Roboter | |
Leise sirrend sausen 20 Zentimeter hohe superelliptische Scheiben – ihr | |
Grundriss ist so ein Mix aus Oval und Rechteck – durch die Gänge. Jeder der | |
aktivierten Picking-Robots – an den Seiten leuchten sie bläulich – fährt | |
unter eins der Metallregale. Und wie in einem irren Ballett gleiten diese | |
nun, über QR-Codes am Boden in der Bahn gehalten, mit den mannshohen | |
Gestellen auf ihrer Tragfläche, scharf aneinander vorbei – alle auf dem Weg | |
zu der richtigen Gitteröffnung. Dort bieten sie, einer nach dem anderen, | |
den Inhalt der Regale dar: Online-Supermarkt heißt wirklich, die Ware kommt | |
zu dem Menschen. | |
Auf dem Monitor an der Packstation erscheint nun eine Übersicht der Gefache | |
und gelb hinterlegt das, in dem der angeforderte Artikel liegt. Ein Foto | |
von ihm erleichtert die Kontrolle. Der Arbeiter nimmt die gewünschte Anzahl | |
heraus, scannt den Strichcode, legt das Produkt in die Versandbox. Und ab | |
geht die Post. | |
Zu den Neuen zählt Knuspr, ein Ableger der Firma Rohlík.cz aus Prag, die zu | |
drei Vierteln dem strikt neoliberalen Unternehmer Tomáš Čupr gehört: Seit | |
2021 in Deutschland aktiv, hat es bereits Jeff Bezos’ Amazon Fresh von | |
Platz zwei des jährlichen Branchentests des Computermagazins Chip | |
verdrängt. Noch liegt Rewe in Führung, aber da will Čupr hin. Er tritt mit | |
Regionalitäts- und Frischeversprechen an und gehört zu denen, die mit | |
Nachhaltigkeitsthemen auf sich aufmerksam zu machen versuchen, ähnlich wie | |
das norwegische Online-only-Unternehmen Oda, seit Januar in Deutschland | |
aktiv, oder eben, noch stärker, die Bremer Genossenschaft My Enso. „Deine | |
Wünsche werden wahr“, verspricht sie ihren Kund*innen. „Ich möchte mich | |
komplett nach dir richten und dein besserer Online-Supermarkt werden.“ | |
## Menschliches Zusammensein | |
In den USA hat man den Trend etwas schwülstig als „retail apocalypse“ | |
bezeichnet, na ja. Aber tu das mal bloß nicht gleich als lächerliche | |
Übertreibung ab: Außer für ein paar Snobs ist der Supermarkt, wie [2][Annie | |
Ernaux] mal geschrieben hat, ein Ort, „dessen Nutzung zum Leben gehört, | |
ohne dass man ermessen würde, welche Bedeutung er für unsere Beziehung zu | |
anderen Menschen und die Art und Weise hat, wie wir mit unseren | |
Zeitgenossen im 21. Jahrhundert Gesellschaft bilden“. | |
Genau besehen, so die Literaturnobelpreisträgerin, gebe es gegenwärtig | |
„keinen anderen öffentlichen oder privaten Raum, in dem sich so viele | |
unterschiedliche Menschen bewegen und begegnen“. So heißt es in „Regarde | |
les lumières mon amour“ (2013) – das leider nicht übersetzt ist – in et… | |
„Schau dir die Lichter an, Schätzchen“. Dabei stimmt auch in Deutschland | |
der Befund, dass, wer noch nie einen Supermarkt betreten hat, die soziale | |
Realität des Landes nicht kennt. Können wir dem Verschwinden dieses „grand | |
rendez-vous humain“, dieses großen menschlichen Zusammenseins einfach | |
zuschauen, es sogar wollen? | |
Oda will es. „Mach Schluss mit Supermarkt“ lautet, gar nicht so | |
unaggressiv, der Claim der Norweger, der seit Jahresbeginn auch in | |
Deutschland Fuß fasst. Vom ersten Logistikzentrum in Ragow, das zwischen | |
Rangsdorf und Königs Wusterhausen liegt, beliefert man Berlin, plus ein | |
paar Landkreise Brandenburgs und mittlerweile auch Potsdam. Das zweite | |
Verteilzentrum ist im Mai bei Braunschweig in Betrieb genommen worden: Bis | |
Göttingen im Süden, bis Hannover im Westen reicht der Vertrieb. Die | |
Werbekampagne für den Newcomer inszeniert das Bild der Einkaufshölle, die | |
herkömmliche Supermärkte eben auch sind – gerade wegen ihres Charakters als | |
sozialer Orte. | |
Wobei: Ist ein Ort schon deshalb sozial, weil dort Menschen | |
aufeinanderstoßen? Die Werber jedenfalls spielen gezielt mit negativen | |
Emotionen, die durch solche Begegnungen hervorgerufen werden, vom | |
„Schreikind in Gang acht“, von der „Endlosschlange an der Kasse“, und | |
beschwören den Hass auf „langsame Kleingeldzähler:innen“, immerhin bleibt | |
der Bettler vor der Tür unerwähnt. | |
## Der infernalische Andere | |
Drei Stunden pro Woche im Schnitt verbrächten die meisten im Lande in | |
diesem Albtraum, so hat es Oda-Deutschland-Manager Malte Nousch | |
vorgerechnet. Die würden die Menschen durchs Online-Shoppen sparen, bei dem | |
sie nicht auf die infernalischen Anderen treffen. „Wir schenken ihnen mehr | |
Zeit für die schönen Dinge im Leben“, behauptet Nousch. Mit den schönen | |
Dingen sei ausdrücklich nicht nur das Zusammensein mit Familie und Freunden | |
gemeint, übersetzt Oda-PR-Frau Timea Trüb den Spruch, „sondern auch das | |
ganze Thema Nachbarschaft“. | |
Deshalb also hat man in Berlin ein paar Kunden zusätzlich eine Packung | |
Gratis-Schokolade in die Lieferung gepackt mit der Aufforderung, sie | |
weiterzugeben an die Leute von nebenan, als kleine Aufmerksamkeit. Geile | |
Werbung. Den Begriff „schenken“ sollte man in der Businesswelt aber ohnehin | |
nie zu wörtlich nehmen: Umsonst ist hier nichts. Während Personal-, | |
Immobilien- und Betriebskosten im Online-Segment minimiert sind und | |
Ladendiebstahl ausbleibt, liegen die End-Preise so gut wie nie unter denen | |
des stationären Einzelhandels. | |
Aber noch mal: Lieben Sie Ihren Lidl? Schlendern Sie entspannt und | |
versonnen durch den Edeka? Schön für Sie. Wer allerdings im Hinblick auf | |
Online-Supermärkte das Lied von der Verödung der Städte anstimmt, liegt | |
falsch: Es sind eher die Einkaufszentren, [3][die sich leeren], die Malls, | |
die einst das Publikum aus dem Herzen der Stadt gesogen hatten. Nichts also | |
spricht dafür, den stationären Supermarkt zu überhöhen: Er ist kein | |
Paradies, noch nicht einmal das Einkaufsparadies, als das er in den 1960er | |
Jahren in die Welt gedrängt war. | |
## Totale Ökonomisierung | |
Seine bauliche Außenhülle gehorcht Prinzipien der totalen Ökonomisierung. | |
Die Gesellschaftsordnung bildet sich in seiner inneren | |
Überwachungsarchitektur ab. Die Auswahl und Disposition der Güter ist | |
manipulativ, ihre Fülle simuliert eine Vielfalt von | |
Entscheidungsmöglichkeiten. Dabei hat der freie Wille hier ausgespielt: | |
Genau besehen begeben sich die Kund*innen ja in einen bis ins Detail | |
strukturierten Durchlauf. | |
In seiner Gerichtetheit gleicht ihr Weg der maschinellen Fertigung eines | |
Industrieguts in einer Fabrik. Sie unterwerfen sich. Und es scheint, als | |
empfinde man, einmal in diesen Prozess eingespeist, alles, was ihn hemmt, | |
als Ärgernis. Supermärkte schaffen Begegnungen, die sich anfühlen wie | |
Unfälle. Sie sind weder gewalt- noch herrschaftsfrei: „Wenn ich aus dem | |
Supermarkt kam, hatte mich oft ein Gefühl der Ohnmacht und der | |
Ungerechtigkeit erfasst“, analysiert Ernaux das Shopping-Erlebnis. Und | |
hatte nicht seinerzeit der Supermarkt den familiären Kaufmannsladen | |
verdrängt? | |
Den gibt es ja fast nur noch, deshalb auch ungegendert, als nostalgisches | |
Spielzeug. Und geradezu paradoxerweise scheint es möglich, das Prinzip | |
Dorfladen mithilfe des immer so ein bisschen autistisch wirkenden | |
Online-Handels wiederzubeleben. | |
## Tante Enso aus Bremen | |
Das haben die Gründer der Bremer Genossenschaft My Enso, Norbert Hegmann | |
und Thorsten Bausch, hingekriegt. Wenn auch eher aus Versehen. Das | |
Hybrid-Modell aus bundesweitem Online-Supermarkt und sogenannten | |
Tante-Enso-Läden sei so gar nicht geplant gewesen, sagt Hegmann. Jetzt | |
wirkt es wie ein raffiniertes Konzept: In Orten wie Blender, Vögelsen, | |
Schnega und 17 weiteren Flecken hat man schon Niederlassungen gegründet, | |
also vor allem in der norddeutschen Tiefebene. Aber bald schon werden | |
Geschäfte in Poppenlauer, Axstedt und Ummen folgen, in Elfershausen und | |
Schwarzatal. Das sind durchweg Gemeinden, in denen es nichts mehr gibt, | |
keinen Bäcker, keine Verkaufsstelle – und im Umkreis von fünf Kilometern | |
keinen Supermarkt. | |
„Orte mit verletzter Seele“, nennt Bausch sie, und das klingt vielleicht | |
pathetisch, trifft aber den nüchternen Alltag dort. „Die Leute in den | |
Städten brauchen einen Online-Supermarkt, der primär alternative Produkte | |
anbietet“, erklärt Hegmann, der aus der Marktforschung kommt, „Produkte | |
neben Nestlé und Mondelez. Manufakturprodukte.“ Auf dem Land dagegen fehle | |
es an Grundversorgung – und an Räumen, in denen sich Gemeinschaft erfahren | |
lässt: „Die haben uns ganz klar gesagt: Wir wollen den [4][Laden als | |
Begegnungsstätte] zurück.“ | |
Nun sind die gescheiterten Wiederbelebungsversuche von Dorfläden Legion. | |
Die meisten, die auf dem Land leben, arbeiten eben doch in der Stadt – und | |
fahren dann auf dem Heimweg noch schnell bei Hit oder Norma vor, die mit | |
dem großen Kundenparkplatz, und erledigen den Wocheneinkauf. Weil’s | |
praktisch ist. Weil die Auswahl groß ist. Pech für den Dorfladen. | |
Hegmann und Bausch können da gegenhalten, weil sie ein konsequentes | |
Hybridmodell geschaffen haben: So halten sie im kleinen Tante-Enso-Laden | |
mit seinen vielleicht 200 Quadratmetern dank Online-Shop im Grunde ein | |
Sortiment von 20.000 Artikeln vor – natürlich nicht physisch, sondern per | |
Click-&-Collect-Methode. Dann haben sie Kernöffnungszeiten mit | |
übertariflich bezahltem Personal, mit dem sich auch mal klönen lässt, beim | |
Einkauf – sind aber in der übrigen Zeit per Kundenkarte als Automatenladen | |
zugänglich. Und schließlich eröffnet nur da eine Niederlassung, wo sich 300 | |
Leute finden, die mindestens einen Geno-Anteil für 100 Euro zeichnen. „Wenn | |
das geschafft ist, dann kommen wir garantiert“, sagt Hegmann. | |
Mit einem Stamm von 300 treuen Kund*innen zu starten, das minimiert das | |
unternehmerische Risiko. Es hilft aber auch, die Unabhängigkeit von | |
Investoren zu wahren, und es schützt vor der Konkurrenz auf Beutezug: Das | |
hochgejubelte Berliner „Gorillas“-Start-up, im Grunde auch ein | |
Online-Supermarkt, war im vergangenen Jahr vom türkischen Liefer-Riesen | |
Getir geschluckt worden, einfach so. Aber schon vorher hatten sich die | |
unterbezahlten Lebensmittel-Radkuriere eben auch für Hedgefonds wie die | |
Dragoneer Investment Group aus San Francisco abgestrampelt oder, anderes | |
Beispiel, für die Kapitalbeteiligungsgesellschaft mit dem schönen Namen Da | |
Vinci Capital. Die sitzt in Moskau. | |
„Unser Traum ist ja eigentlich“, sagt dagegen Hegmann, „dass wir es | |
schaffen, gar keine Investoren mehr zu brauchen“, abgesehen von den | |
Genoss*innen eben. Bei 25.000 Mitgliedern sei man jetzt. Mit einer | |
Million Mitgliedern, so seine Rechnung, „hätten wir genügend Kraft, dass | |
wir nicht betteln gehen müssten“. | |
13 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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