| # taz.de -- Warteschlangen sind menschlich: Immer schön einreihen | |
| > Wo muss mensch nicht alles anstehen? Und wofür? Schnell ist man da Teil | |
| > einer (un-)freiwilligen Wartegemeinschaft. Fünf | |
| > Warteschlangen-Innenansichten. | |
| Bild: Großes Warten vor der Neuen Nationalgalerie wegen der MoMA-Ausstellung 2… | |
| ## Beispiel Eins: Warten auf Mustafa | |
| Zwei Stunden, 17 Minuten, 58 Sekunden: So steht es auf Elias Sayds | |
| Handydisplay. Worauf er so lange wartet? Auf einen Gemüsekebab natürlich. | |
| Und er ist nicht mal ganz vorne in der Schlange. Eine junge Frau ist ihm | |
| schon ein paar Meter voraus. Stolz blickt sie auf das Ergebnis der | |
| zweieinhalbstündigen Wartezeit in ihrer Hand: ein Brot mit etwas | |
| Hähnchenfleisch, Gemüse und drei Kartoffelscheiben, die nicht mal ganz | |
| durchgebraten aussehen. Dafür hat sie den beiden betont langsam arbeitenden | |
| Mitarbeitern [1][7,10 Euro gezahlt]. Auch sie hat die Wartezeit auf dem | |
| Handy gestoppt, man braucht ja Beweise. | |
| „Dieser Imbiss ist kein schöner Ort“, steht ganz richtig auf der Website | |
| des Kebabladens am Mehringdamm. Regnen tut es auch. Aber Lilly und ihre | |
| Freund*innen aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Hannover hatten | |
| trotzdem eine richtig gute Zeit in der Schlange. „Wir haben neue Freunde | |
| gefunden“, erzählen sie. Die haben dann ihren Platz freigehalten während | |
| der kurzen Shopping-Pause in einem nahen Second-Hand-Laden. | |
| Aber dass der Imbiss nicht so schön ist, die Preise hoch und die Wartenden | |
| direkt vor dem U-Bahn-Ausgang suboptimal platziert sind, ist egal: „Mustafa | |
| weiß, dass ihm die Konkurrenz nicht den Spieß reichen kann.“ So begründet | |
| die Website den Erfolg des wohl berühmtesten Dönerladens in ganz Berlin. | |
| Ist das Essen denn gut? Sayd antwortet mit einem engagierten Nicken. „Aber | |
| echt keine zweieinhalb Stunden wert. Für so einen Döner, für jeden Döner | |
| eigentlich, würde ich höchstens 20 Minuten warten.“ | |
| Ganz hinten in der ungefähr 35 Schritte langen Schlange ist das die | |
| Wartezeit, mit der ein junges Paar aus Schweden rechnet. Große Augen und | |
| erstaunte Gesichter machen sie, als sie hören, dass sie sechsmal so lange | |
| warten müssen. Bleiben wollen sie trotzdem. „Wir sind ja extra | |
| hergekommen.“ | |
| Es scheint, als wäre das Schlangestehen hier eine Art Statussymbol – je | |
| länger, desto besser. „Das gehört dazu, wenn man in Berlin ist“, sagen | |
| Tourist*innen. Sogar vereinzelte Berliner*innen warten in der Schlange. | |
| Ob auch sie Kameras dabei haben? Kajo Roscher | |
| ## Beispiel Zwei: Siechen, jammern, warten | |
| Es gibt Sachen, für die ich mich gerne anstelle. Bei mir um die Ecke ist | |
| ein Blumenladen, der nur ab und an öffnet. Mehr als zwei Leute passen nicht | |
| in den Verkaufsraum, inklusive Verkäuferin. Ohne Schlangestehen läuft hier | |
| nichts, aber immer geht man mit vielen Blumen für wenig Geld heim. Ich weiß | |
| also: Lohnt sich. | |
| In eine andere Schlange reihe ich mich nicht aus freien Stücken ein, | |
| sondern weil es für mich lebensnotwendig ist. Ohne meine Tabletten ist es | |
| nämlich aus mit mir, um es mal drastisch auszudrücken. Schon deswegen mag | |
| ich die Apotheken-Schlange nicht, und dann wird da auch noch vor sich hin | |
| gesiecht, bisweilen gejammert, oft viel geredet – über Dinge, von denen ich | |
| gar nichts wissen will. Wer wo welche Art von Ausschlag hat, zum Beispiel. | |
| Mein einziger Trost war, dass ich viele Jahre verlässlich mit ausreichend | |
| Medikamenten rauskam. Wusste also, es lohnt sich. Das ist aber vorbei. | |
| Denn seit Monaten sind viele Arzneimittel nicht zuverlässig lieferbar, | |
| Schmerztabletten, Krebspräparate, aber auch Cortison, Insulin oder | |
| Hustenstiller – die Liste ist in vielen Apotheken lang. Zuletzt bestanden | |
| laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Lieferengpässe bei | |
| fast 500 Arzneimitteln. In der Praxis bedeutet das: Meine Apothekerin hat | |
| mich schon wegschicken müssen, weil meine Tabletten nicht vorrätig waren. | |
| Was, wenn das schlimmer wird? In der vergangenen Woche ist nun das | |
| [2][Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und | |
| Versorgungsverbesserungsgesetz] – kurz: ALBVVG – in Kraft getreten, | |
| verbunden mit der Hoffnung, dass die Versorgung wieder besser wird. Diese | |
| Hoffnung teile ich. | |
| Mein Trick fürs Apotheken-Schlangestehen ist nun, dass ich mir etwas | |
| preppermäßig einen kleinen Tablettenvorrat angelegt habe. Seither warte ich | |
| wieder etwas geduldiger in der Apotheke, lohnte es sich nicht, komme ich | |
| halt nächste Woche wieder. Ilka Kreutzträger | |
| ## Beispiel Drei: Bloß nicht anstellen! | |
| Ich hasse Schlange stehen und stelle mich nicht mehr an, wenn es nicht | |
| unbedingt sein muss, wie zum Beispiel in der Warteschlange an der | |
| Supermarktkasse oder früher in vordigitalen Zeiten an der Theaterkasse – | |
| heute geht das ja glücklicherweise fix online zu erledigen. | |
| Das hat mit meiner DDR-Vergangenheit zu tun. Schon als Kind stand ich | |
| stundenlang montags und mittwochs am Dorfkonsum in | |
| [3][Mecklenburg-Vorpommern] (damals „Bezirk Schwerin“) an; nur mal als | |
| Beispiel. Der machte nach einer Mittagspause um 15 Uhr wieder auf und über | |
| Mittag kam die Fleisch-und Wurstlieferung. Und nur die ersten zehn Kunden | |
| (damals genderte man noch nicht) bekamen Kotelett oder Schnitzel, also | |
| edlere Stücke, für mehr reichte die Lieferung einfach nicht, für | |
| Zu-spät-Kommende gab es dann noch Rippchen, Leber, Nieren oder so. Das mit | |
| dem Anstehen galt auch für die vielleicht zwei, drei Tage im Sommer, wenn | |
| es mal Wassermelone gab oder um die Weihnachtszeit herum so rare | |
| Konsumgüter wie Apfelsinen und Bananen … Ich habe Jahre meines Lebens mit | |
| Anstehen verbracht. | |
| Die Wende hat dieses Problem nicht wirklich gelöst. Schlange stehen gibt es | |
| auch im Kapitalismus. Nur eben anders. Ich fand für mich aber eine Lösung: | |
| Ich stelle mich einfach nicht mehr an. Nicht bei der hippen Eisdiele, beim | |
| angesagten Restaurant, bei der Dönerbude mit der irre langen Wartereihe … | |
| Da verzichte ich lieber oder gehe zum nächsten Angebot. Geht ja auch leicht | |
| in Berlin, die große Stadt bietet genug Alternativen, ohne dass man | |
| anstehen muss. Dafür ist mir meine Zeit einfach viel zu schade. Andreas | |
| Hergeth | |
| ## Beispiel Vier: Der Darm der Bestie | |
| Klassischer asymmetrischer Konflikt“, meint der nervös grinsende | |
| Schülerjobber vom Gymnasium, „blöde Scheiße“ nennt’s die [4][Vollzeitk… | |
| auf Mindestlohn] – und recht haben irgendwie beide. Wir stehen zu dritt vor | |
| der Schlange, ihr gegenüber, um all diese Leute mit schnellem Essen zu | |
| versorgen. Und wichtiger noch: um die Schlange abzuarbeiten, bevor sie sich | |
| bis nach draußen schlängelt, auf die Straße. Denn ist die Schlange erst | |
| durch die Tür, bricht dank exponentiellem Wachstum die Hölle los: Mehr und | |
| immer mehr Vollidiot:innen stellen sich hinten an, statt zur Konkurrenz | |
| nebenan zu gehen. Muss ja gut sein, wenn alle drauf warten. Das ist wie die | |
| meisten Gesetze: ärgerlich, dumm und ungerecht – aber eben doch bindend. | |
| Die Mittagszeit sind zwei heftige Stunden für Systemgastronom:innen | |
| wie uns: die tägliche Bewährungsprobe für Nerven und Kraft. Und für die | |
| Planung, weil wir heute Morgen eine gewisse Menge Zutaten aufgetaut, | |
| gewaschen, geschnitten und verrührt haben, die jetzt bis zur Spätschicht | |
| reichen muss. Denn wo die Schlange erst da ist, sagt der überreizte | |
| Store-Manager, „geht hier keiner mehr in die Küche nach hinten“. | |
| Dieser Store Manager bin ich, und es muss ein Mittagsmoment wie dieser | |
| gewesen sein – im Angesicht der Schlange –, in dem ich entschied, dass | |
| umzusatteln auf „irgendwas mit Medien“ doch nicht das Schlechteste wäre. | |
| Denn die Schlange heißt nicht nur so, sie ist tatsächlich ein Ungeheuer, | |
| ein Menschen fressendes noch dazu: Potenziell angenehme | |
| Einzelkund:innen verwandelt sie in eine Art kollektive Bio- und | |
| Kaufkraftmasse, die es ähnlich der mythologischen Hydra zu zerhacken gilt, | |
| Kopf für Kopf. | |
| DDR hin, Russland her: Für mich ist die Warteschlange am Fast-Food-Counter | |
| der (Billig-)Fleisch gewordene Kapitalismus. Und das sogar inklusive dieser | |
| hübsch subversiven Solidaritätsmomente: wenn unter dem nächsten Kopf an der | |
| Spitze der Menschenwurst auch so ein Plastikschildchen baumelt, mit | |
| Firmenlogo und einem Vornamen drauf. Oder unter der Trainingsjacke der | |
| übernächsten Kundin die charakteristische Uniformfarbe der | |
| Fressbudenkonkurrenz aufblitzt. Dann spart man sich die Mühe, den | |
| Genoss:innen noch überteuerte Extras oder sinnlose Kundenkarten | |
| anzudrehen. Man nickt sich zu, sagt „ça ira“ und „guten Appetit“ und f… | |
| sich gemeinsam auf bessere Zeiten. | |
| Es gibt gute und wichtige Bücher über die Klassenfrage, aber einen | |
| gehörigen Teil davon kann sich ganz wirklich sparen, wer einfach mal | |
| zwischen 13 und 14 Uhr der Schlange ins Auge geblickt hat. Jan-Paul | |
| Koopmann | |
| ## Beispiel Fünf: Stress am Anleger | |
| Am Bahnhof [5][Cuxhaven] sind alle Taxis weg. Also rennen wir zum Hafen, | |
| bis uns unterwegs gnädigerweise ein Taxi aufliest und für gutes Geld am | |
| Anleger absetzt, um 9.10 Uhr. Das ist an sich nicht zeitkritisch. Bis zur | |
| Abfahrt nach Helgoland sind es noch 20 Minuten. Noch liegt die „Helgoland“ | |
| ruhig am Kai. | |
| Weil aber starker Wind kommen soll, fährt heute nur dieses eine Schiff. Und | |
| wer raufwill, muss erst das Gepäck abgeben: Seeleute hiefen die vollen | |
| Koffergestelle per Kran an Bord. Um ihnen unsere Koffer in die Hand zu | |
| drücken, brauchen wir ein grünes Etikett. Das gibt es für 3 Euro an einem | |
| Kassenhaus, vor dem eine lange Schlange steht, gefühlt 50 Leute. | |
| Die Uhr tickt. Und die Schlange steht fast still. 9.12 Uhr, eine Frau löste | |
| sich aus dem Pulk vor der Kasse und rollert ihren Koffer, ein Etikett | |
| haltend, zum Schiff. Dann, nach gefühlt zwei Minuten, die nächste. „Malen | |
| die da jedes Etikett einzeln?“, sage ich laut und rechne im Kopf, was 50 | |
| mal zwei Minuten sind. Eine Dame dreht sich um. „Sie fahren nach Helgoland. | |
| Da dauert alles ein bisschen länger.“ Okeh. Aber wieso wird es 9.20 Uhr, | |
| 9.25, 9.28 Uhr, und es stehen immer diese vielen Leute vor uns. Um 9.30 Uhr | |
| tutet auch noch das Schiff. Fährt es ohne uns weg? Nein. Aber weiß man’s? | |
| Als wir am Kassenhaus sind, sehen wir die kleine Etiketten-Maschine, die | |
| gerade von einem Seemann per Knopfdruck neu gestartet wird. Auch wir kommen | |
| an Bord. Als die „Helgoland“ ablegt, eine halbe Stunde zu spät, sagt der | |
| Kapitän über Lautsprecher: Das kam wegen der vielen Fahrgäste. Kaija Kutter | |
| 6 Aug 2023 | |
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| [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Cuxhaven | |
| ## AUTOREN | |
| Kajo Roscher | |
| Ilka Kreutzträger | |
| Andreas Hergeth | |
| Jan-Paul Koopmann | |
| Kaija Kutter | |
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