# taz.de -- 3 Jahre Mobilitätsgesetz: In Schrittgeschwindigkeit | |
> Am 28. Juni 2018 war es da und versprach Großes für den Radverkehr: das | |
> Mobilitätsgesetz. Drei Jahre später ist die Bilanz von AktivistInnen | |
> düster. | |
Bild: Wollen alle, kriegen sie aber nicht (so schnell) | |
„Unerträglich“, „Versagen“, „der Verantwortung nicht nachgekommen“… | |
die Mobilitäts-AktivistInnen von Changing Cities e. V. die Berliner | |
Verkehrspolitik nicht mit Samthandschuhen anfassen, ist längst bekannt. Bei | |
ihrer Bilanz am Montag um 11.26 Uhr – auf die Minute genau drei Jahre nach | |
der Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes durch das Abgeordnetenhaus – | |
holte die Nachfolge-Organisation des „Volksentscheids Fahrrad“ aber | |
besonders weit aus. | |
„Wenn es in diesem Tempo weitergeht mit der Umsetzung, haben wir die vom | |
Gesetz vorgeschriebene Rad-Infrastruktur in 200 Jahren“, so das | |
sarkastische Fazit von Sprecherin Ragnhild Sørensen. [1][Die präsentierten | |
Zahlen] wirken ja auch ärmlich: 2.778 Kilometer sichere Radwege an | |
Hauptstraßen strebe die Senatsverkehrsverwaltung bis 2030 an, so Sørensen, | |
fertiggestellt seien gerade mal 39,5 Kilometer oder 1,4 Prozent. Bei den | |
auszubauenden Nebenstraßen seien sogar nur 0,4 Prozent geschafft und beim | |
Leuchtturmprojekt der „Radschnellverbindungen“ noch gar nichts. | |
Die Streckenlängen, auf denen diese Rechnung aufbaut, stammen im Übrigen | |
aus einem Planwerk, das es offiziell noch gar nicht gibt: dem | |
„Radverkehrsnetz“. Laut Mobilitätsgesetz müsste es seit zwei Jahren | |
vorliegen, aufgrund diverser Verzögerungen ist es aber immer noch nicht | |
fertig. Dasselbe gilt für den Radverkehrsplan, mit dem die Verwaltung von | |
Senatorin Regine Günther (Grüne) immerhin nur ein Jahr im Verzug ist. Ein | |
Verkehrssicherheitsprogramm, das die „Vision Zero“ mit perspektivisch null | |
Toten und Schwerverletzten konkretisiere, sei offenbar nicht einmal in | |
Arbeit, so Changing-Cities-Vorstand Denis Petri. | |
Sørensens und Petris Fazit lautet deshalb: „Die Verantwortlichen | |
legitimieren permanent einen gesetzeswidrigen Zustand.“ Die beiden machen | |
die „unerträgliche Langsamkeit“ bei der Umsetzung des deutschlandweit | |
ersten Gesetzes seiner Art am Personal auf Landes- und Bezirksebene fest. | |
Das sind neben Günther und ihrem Staatssekretär Ingmar Streese immerhin | |
sechs weitere Grüne auf Stadtratsposten. Von denen hätten die AktivistInnen | |
deutlich mehr erwartet. | |
Bei der Suche nach den Ursachen macht Changing Cities schwere Defizite in | |
der politischen Kultur aus: Das Führungspersonal habe „den Geist des | |
Mobilitätsgesetzes und die Größe der Aufgabe nicht verstanden“, es dulde | |
ineffizientes Verwaltungshandeln und: „Es stärkt nicht denjenigen in der | |
Verwaltung den Rücken, die ein entsprechendes Verständnis mitbringen.“ | |
Auf Nachfrage sagt Petri, man wisse von PlanerInnen, die das Bezirksamt | |
gewechselt haben oder dies versuchten – „weil sie sagen: Wo ich arbeite, | |
bekomme ich immer nur Bedenken in den Weg gelegt“. In dieselbe Richtung | |
weise für ihn die Entscheidung, die Erarbeitung des Radverkehrsplans einem | |
„traditionellen deutschen Konsortium“ zu übertragen anstatt einem | |
konkurrierenden niederländisch-dänischen. „Diese Firmen hätten neue Impulse | |
gebracht, das wäre ein Signal an diejenigen in den Verwaltungen gewesen, | |
die wirklich etwas ändern wollen.“ | |
## Motivierend: Friedrichshain-Kreuzberg | |
Dass es [2][zumindest ein bisschen anders] geht, wenn man nur will, zeigt | |
nach Ansicht von Changing Cities der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg: Zwar | |
liege auch der „deutlich unter dem Soll gemäß Mobilitätsgesetz“. Dem | |
Bezirksamt sei es aber gelungen, mit einem „kooperativen Planungsansatz“, | |
der Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Expertise und „attraktiven | |
Arbeitsbedingungen jenseits hoher Gehälter“, die für eine „hohe | |
intrinsische Motivation“ sorgten, deutlich mehr auf den Weg zu bringen als | |
andere Bezirke. | |
„Wir brauchen innovatives, lern- und gestaltungsfreudiges Personal in allen | |
Bereichen“, findet Denis Petri. Das sei „das Anforderungsprofil an künftige | |
Senator*innen, Staatssekretär*innen und Stadträt*innen, die die | |
Verkehrswende glaubhaft vertreten möchten“. | |
Wäre es nicht angemessen, gleich eine Wahlempfehlung auszusprechen? | |
Sørensen und Petri schütteln energisch die Köpfe: Nein, das werde man nicht | |
tun. Programmatisch sei Changing Cities ganz nah bei den Grünen und Linken, | |
auch die SPD habe „kluge Dinge“ in ihr Programm geschrieben, so Denis Petri | |
– letztlich komme es aber auf die Umsetzung an. „Und da empfehlen wir den | |
Parteien, genau zu schauen, wen sie an die entscheidenden Stellen setzen.“ | |
## Kronzeuge für die CDU | |
Von der Opposition erwartet der Verein nicht viel in Sachen | |
Mobilitätswende. Was die CDU umgekehrt nicht daran hindert, ihn als | |
Kronzeugen heranzuziehen: „Vor drei Jahren hat Rot-Rot-Grün ein | |
Mobilitätsgesetz durchgedrückt, das auch heute nicht mehr ist als | |
Augenwischerei“, erklärt der verkehrspolitische Fraktionssprecher Oliver | |
Friederici, „selbst die größten Unterstützer der Verkehrswende wie Changing | |
Cities wenden sich völlig enttäuscht von der Grünen-Senatorin Günther ab.“ | |
Eine Stellungnahme von deren Verwaltung zu den Vorwürfen wäre interessant | |
gewesen – ferienbedingt gab es allerdings am Montag bis Redaktionsschluss | |
keine. | |
28 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://changing-cities.org/drei-bzw-200-jahre-mobilitaetsgesetz-eine-bilan… | |
[2] /Protected-Bike-Lanes/!5777401 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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