# taz.de -- Choreographin über Dekolonisierung: „Es ist auch eine Emanzipati… | |
> Die Hamburger Choreografin Yolanda Gutiérrez will koloniale Orte | |
> umdeuten. Dafür hat sie die Performance „Decolonycities Kigali – Hamburg… | |
> entworfen. | |
Bild: Gesichtslosigkeit dekolonisieren: Babou Thight King (l.) und Eliane Umuhi… | |
taz: Frau Gutiérrez, was haben deutsche KolonisatorInnen in Ruanda | |
angerichtet, bevor es an die Belgier fiel? | |
Yolanda Gutiérrez: Einerseits haben sie sich 1884 bei der Kongo-Konferenz | |
unter [1][Bismarck] an der Aufteilung des Landes beteiligt, das sie von | |
1884 bis 1916 „besaßen“, bevor es nach dem Ersten Weltkrieg 1919 belgische | |
Kolonie wurde. Das Land hatten sich die Deutschen durch Verträge mit den | |
Königen angeeignet. Es war also eine relativ gewaltfreie „Übernahme“, die | |
funktionierte, weil die Deutschen den wohlhabenden Tutsi schmeichelten. | |
… und sie gegen die Hutu aufhetzten? | |
Nein. Im Zuge der kolonialen Rassenforschung haben sie die [2][Ruander] | |
aber nach Ethnien sortiert und in Tutsi, Hutu und Twa unterteilt. Dies | |
wurde, als die Belgier Kolonialherrn wurden, in den Personalausweis | |
eingetragen. Damit will ich nicht sagen, dass die Deutschen den Genozid von | |
1994 verschuldet hätten. Sie haben aber eine Saat gesät. | |
Auch von Hamburg aus. | |
Ja. Im dortigen Kolonialinstitut wurden Beamte ausgebildet, die | |
[3][wissenschaftlich begründen] sollten, dass die Weißen überlegen seien – | |
und damit berechtigt, Kolonien auszubeuten. | |
Und an welche Orte wird Ihre Performance „Decolonycities Kigali – Hamburg“ | |
führen? | |
Die [4][Orte,] die die ruandischen TänzerInnen sowie ein in Hamburg | |
lebender togolesischer Tänzer bespielen werden, liegen zwischen dem | |
ethnografischen Museum MARKK und der Hamburger Universität, die aus dem | |
Kolonialinstitut hervorging. Dort werden sie kurze, von uns geschaffene | |
Choreografien zu Stücken tanzen, die das mitlaufende Publikum über | |
Kopfhörer wahrnimmt. Zwischen den Tracks haben wir Fakten, Interviews und | |
Reflexionen auch über koloniale Straßennamen zwischen dem Campus und dem | |
MARKK eingespielt. | |
Bespielen Sie auch die Hafencity? | |
Nein. Das habe ich bereits 2019 im ersten Teil meines | |
„Decolonycities“-Projekts getan, das sich Tansania widmete. Diesmal habe | |
ich mich für die Kooperation mit dem MARKK entschieden, weil wir uns mit | |
kulturellen Archiven befassen wollen. Schon 2018 hat mir das MARKK eine | |
Liste ruandischer Objekte gegeben, und ich habe mich gefragt: Was machen | |
diese Dinge hier? Wie nehmen wir sie wahr? | |
Die Antwort? | |
Auf koloniale Art „objektiv“, ihres Sinns entkleidet. In der ersten Hälfte | |
des 20. Jahrhunderts arbeiteten auch im MARKK Inventar-Zeichnerinnen, die | |
die Objekte originalgetreu wiedergeben sollten. Aber sie wussten nichts | |
über deren Bedeutung. Um diesen Vorgang zu dekolonisieren, hatte ich Ende | |
Mai den ruandischen Illustrator Dolph Banza eingeladen, um die Objekte aus | |
seiner Sicht zu zeichnen. | |
Was für Objekte waren es? | |
Alltagsgegenstände, handwerklich so fein gearbeitet, dass sie | |
hochgestellten Persönlichkeiten gehört haben müssen. Da waren zum Beispiel | |
Milchbehälter mit hohen Bastdeckeln. Sie können durchaus Statusobjekte | |
gewesen sein, denn Milch war im alten Ruanda so wertvoll, dass die Könige | |
eigene Milchhäuser hatten. | |
Haben diese Objekte Ihre Choreografie inspiriert? | |
Nein. Dieses Nach- und Neuzeichnen war ein weiterer Teil meines Projekts, | |
in dessen Verlauf ich auch nach Kigali gereist bin, um das Haus von Richard | |
Kandt zu bespielen, des – so die Homepage des Auswärtigen Amts – „ersten | |
kaiserlichen Residenten der deutschen Kolonialzeit“. Es ist das letzte | |
Gebäude, das von der deutschen Kolonialzeit zeugt und heute Museum. Wir | |
haben dort getanzt, und die ruandischen KünstlerInnen haben sich gefragt, | |
warum es immer heißt, dass Kandt der Gründer Kigalis sei, obwohl es schon | |
vorher eine 2.000-EinwohnerInnen-Stadt war. Im Zuge der Recherche unseres | |
Projekts ist den KünstlerInnen stärker bewusst geworden, dass alle ein | |
kulturelles Archiv in sich tragen, das die Art beeinflusst, wie sie die | |
Welt sehen und bewerten. | |
Wissen Sie etwas über die Provenienzen der ruandischen Objekte im MARKK? | |
Leider nein. Umso bemerkenswerter fand ich die Reaktion der ruandischen | |
KünstlerInnen: Da war kein Groll, keine Wut. Das zeigt, dass man auch ohne | |
diese Gefühle mit der gemeinsamen Geschichte umgehen kann. Wichtig ist, | |
dass wir einen Dialog eröffnet haben – wobei ich glaube, dass wir mithilfe | |
der Kunst eine andere Form der Annäherung schaffen können: Wir können die | |
Geschichte zwar nicht ändern, aber wir können unsere Perspektive darauf | |
ändern. Das fängt schon im deutschen Geschichtsunterricht an, wo die | |
Kolonialgeschichte teils nicht erwähnt wird. Und es gibt AbsolventInnen der | |
[5][Hamburger Uni,] die nicht wissen, dass im Hauptgebäude eine Büste | |
Werner von Melles steht. Er hat dort 1908 das Kolonialinstitut eröffnet, | |
aus dem 1919 die Universität hervorging. | |
Wie begegnen die ruandischen KünstlerInnen solchen Orten? | |
Dass sie nach Hamburg kommen und sagen können: „Schaut mal, was hier | |
passiert ist, während bei uns eine ganz andere Geschichte geschrieben | |
wurde“ – das verändert etwas in beide Richtungen. Natürlich, wir | |
KünstlerInnen sind keine HistorikerInnen. Wir können uns nur unsere eigenen | |
Gedanken machen. Aber das ist ja nicht weniger wert. Ich habe ihnen gesagt: | |
Auch ihr tragt Wissen in euch. Dass ich Tanz mit einbaue, ist für mich eine | |
Möglichkeit, die Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen. | |
Ist das Betanzen solch belasteter Orte auch ein Reinigungsritual, ein | |
Überschreiben? | |
Ja, es ist eine Umdeutung und das Setzen einer Aktion, auch einer | |
Erinnerung. Deshalb nenne ich es „tänzerische Interventionen im | |
öffentlichen Raum“. Für einen bewusst kurzen Moment besetzen wir einen Ort | |
und deuten ihn um. Wenn Sie später wieder dorthin kommen, werden Sie sich | |
erinnern, dass die TänzerInnen dort waren. Diese Erinnerung bleibt als Bild | |
ins ganz persönliche kulturelle Archiv eingeschrieben. | |
Haben die Performances auch etwas Versöhnliches? | |
Das ist von Ort zu Ort verschieden. Aber immer hat es mit Emanzipation zu | |
tun. Ein Tänzer hat mir gesagt: „Ich merke jetzt, dass auch das | |
Geschichtswissen, das ich in Ruanda in der Schule vermittelt bekam, die | |
Sicht der Kolonisatoren transportierte. Ich muss aufhören, das zu glauben, | |
muss meine eigene Geschichte erforschen und meine eigene Sicht auf die | |
Dinge finden.“ So etwas zeigt mir, wie wichtig meine Projekte auch fürs | |
Empowerment der KünstlerInnen sind. Sie emanzipieren sich dadurch nicht nur | |
kognitiv, sondern auch physisch: im Tanz. | |
18 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Historiker-ueber-Bismarck-Verehrung/!5709404 | |
[2] /Voelkermord-in-Ruanda/!5758154 | |
[3] /Schau-ueber-koloniale-Wissenschaft/!5650969 | |
[4] /Hamburg-ehrt-bis-heute-Kolonialisten/!5691779 | |
[5] https://www.uni-hamburg.de/newsroom/19neunzehn/2020/0415-universitaetswerdu… | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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