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# taz.de -- Klimabewusstsein und kein Handeln: Hedonistischer Suizid
> Immer mehr Menschen kapieren, dass Klimaschutz nicht mit Wachstum
> einhergeht. Aber nur wenige sind bereit, die Konsequenzen einzufordern.
Bild: Und sie wissen, dass es falsch ist: Konsum statt Nachhaltigkeit
Bei einem jener Gespräche über Nachhaltigkeit zwischen Menschen aus
Wirtschaft und Kultur fragte ich einen netten Herrn, der Firmen mit
ökologischem Anspruch berät, ob wir zur Bewältigung der Probleme nicht das
Dogma des Wirtschaftswachstums überwinden und neue Formen des Wirtschaftens
entwickeln müssten. Seine Antwort lautete: Ja, und ja.
Ich war von seiner affirmativen Entschiedenheit so überrascht, dass ich
nachfragte, was er denn meine. Er wiederholte, zum Mitschreiben: Ja, wir
müssen uns vom Wirtschaftswachstum verabschieden, und ja, wir brauchen eine
andere Wirtschaft. Nur hatte er in der Stunde davor mit keinem einzigen
Wort auf diese Notwendigkeit hingewiesen.
Das Gespräch erscheint mir symptomatisch für die Schizophrenie unserer
ökologischen Diskurse. Eine wachsende Zahl von Menschen hat verstanden,
dass es so nicht weitergeht, aber ein erheblich geringerer Prozentsatz
fordert die offensichtliche Konsequenz: grundlegende Transformation.
Stattdessen durchwurschteln, auch und besonders in der Politik.
Da fordert eine [1][Kanzlerkandidatin die leichte Erhöhung des
Benzinpreises]. Worauf sich aus den Reihen der „Volksparteien“ ein Sturm
der Entrüstung erhebt. Die „Argumente“ lohnen einer näheren Betrachtung:
„[2][Solche Manöver führen womöglich dazu, dass sich die Bürgerinnen und
Bürger vom gemeinsamen Engagement für unser Klima abwenden]“, warnt
SPD-Chefin Saskia Esken. „Das wäre ein Bärendienst für unsere Umwelt.“
Solche Sätze ergeben nur vor dem Nachdenken Sinn.
## Schizophrener ökologischer Diskurs
Es geht nicht um „Engagement für das Klima“ – das klingt wie
Schwimmbadgymnastik im Club Med –, sondern um den Erhalt unserer
Lebensgrundlagen. Davon sollte sich niemand „abwenden“ können. Genauso wie
niemand sich hierzulande von Menschenrechten oder dem Schutz des
Privateigentums je nach Unlust und Misslaune abwenden darf. Wer eine
ökologische Maßnahme einführe, schade der Umwelt, weil es Menschen gebe,
denen diese Maßnahme zu weit gehe.
Das ist die Logik der Apathie, weswegen Ihre Partei, Frau Esken – zieht man
die aktuellen Umfragen heran –, nur mehr von den Depressiven gewählt wird.
Der [3][Bundestagspräsident] wiederum appelliert, beim Klimaschutz die
Situation der Menschen im Blick zu behalten (kleine Erklärung für Herrn
Schäuble: Beim Umweltschutz geht es um die Situation der Menschen!): „Wir
müssen auf diesem anstrengenden Weg allein in Deutschland schon 83
Millionen Bürger mitnehmen – und unsere Wirtschaft.“
Bei welchem anderen Thema fordert ein führender Politiker, alle 83
Millionen Deutschen „mitzunehmen“? Und die Wirtschaft ebenso (die ist wohl
außerirdisch). Das bedeutet ins Ehrliche übersetzt: Das Profitinteresse der
Wirtschaft muss befriedigt werden, bevor wir dubiose Experimente vornehmen,
nur weil wir überleben wollen.
Ein Beispiel für solche krummen Prioritäten sind die internationalen
Schiedsgerichte, vor denen [4][Unternehmen auf Milliardenentschädigung
klagen] können, wenn Parlamente Klimaschutzgesetze verabschieden. Wir alle
werden auch noch teuer dafür zahlen müssen, nur weil wir überleben wollen.
In letzter Zeit wird bei diesem Thema bevorzugt die soziale Karte
ausgespielt, von Politikerinnen, die seit Jahrzehnten Maßnahmen zum
sozialen Ausgleich torpedieren.
Jene also, die mitverantwortlich sind für die wachsende Ungleichheit im
Land, entdecken auf einmal ihre soziale Ader, just wenn es um unser aller
existenzielle Interessen geht. Das ist infam, weil die notwendige
gesamtgesellschaftliche Solidarität auf dem Altar perfider Demagogie
geopfert wird. Natürlich müssen wir Mechanismen der Solidarität entwickeln,
um alle notleidenden Menschen „mitzunehmen“, aber doch nicht nur bei Fragen
des Umweltschutzes und nicht erst seit gestern.
## Hoffen auf den Heiligen Geist
Schäuble, ein gläubiger Christ, verkündet zudem zuversichtlich, „dass wir
auch klimaneutral Wachstum und Wohlstand schaffen können“. Nun, der Heilige
Geist möge sich anstrengen; in dieser Welt, also in der Welt von Coltan,
Glyphosat und Kohlendioxid, ist klimaneutrales Wachstum weniger
wahrscheinlich als die zweite Wiederauferstehung. Wer solche
Phantasmagorien verbreitet, verabreicht Schlaftabletten: Lehnt euch zurück,
alles wird gut.
Letztlich zeigen solche Diskussionen, dass der Ökozid weiterhin als
Kavaliersdelikt angesehen wird. Wer einem einzigen Menschen die
Lebensgrundlage wegnimmt (etwa durch Diebstahl), wird streng bestraft. Wer
die Lebensgrundlagen aller zerstört, wird ermahnt oder verwarnt, worauf
sich gleich ein Sturm der Entrüstung aufbauscht, man solle doch nicht die
Moralkeule schwingen. Die Forderung nach Umweltschutz ist keine Frage der
Moral.
Sie hat NICHTS mit Moral zu tun, sondern alles mit Selbstschutz,
Zukunftsplanung und Vernunft. Zu zerstören, wovon unser Leben abhängt, ist
eine hedonistische Form des Suizids. Intelligenz und Moral sind zwei völlig
verschiedene Konzepte. Intelligenz bedeutet, über den Schwemmbauch der
eigenen Gier hinausblicken zu können. Moral ist die Frage, ob man mit einem
Maulesel Sex haben sollte oder nicht. Ökologische Folgen sind dabei eher
überschaubar.
Zum Thema „mitnehmen“. Die meisten Menschen laufen unreflektiert mit und
akzeptieren – nur so ein Beispiel – den Fetisch des Privateigentums in
unserem Rechtssystem. Sogar unter Jurastudentinnen ist das
Einführungsseminar „Rechtsphilosophie“ wenig beliebt, die Grundlagen
unseres Rechtssystems werden also selbst von den Fachkräften a priori
akzeptiert. Deswegen erscheint der Status quo einleuchtend, jeder
Veränderungsvorschlag hingegen als radikale Zumutung.
Das ist tragisch, denn manchmal repräsentieren die herrschenden
Verhältnisse einen katastrophalen Irrweg, und die Vorschläge zur
Transformation sind Ausdruck eines gesunden Menschenverstands.
18 Jun 2021
## LINKS
[1] /Debatte-ueber-hoehere-Benzinpreise/!5771701
[2] /Streit-ueber-Benzinpreis-Erhoehung/!5776408
[3] /Wolfgang-Schaeuble-ueber-Zustand-der-Union/!5770691
[4] https://www.investigate-europe.eu/de/2021/energiecharta-vertrag
## AUTOREN
Ilija Trojanow
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