| # taz.de -- Kunst gegen Gentrifizierung: Eine Demo-Oper durch Kreuzberg | |
| > „Lauratibor“ agitiert mit Witz, Gesang, Tragik und ein bisschen Dada | |
| > gegen Verdrängung im Kiez. Das Publikum hat dabei die Straße für sich. | |
| Bild: Stimmgewaltiger Protest – mal nicht als Slogan, sondern als Opernarie | |
| Berlin taz | Die Reichenberger Straße und ihre BewohnerInnen haben schon | |
| viel gesehen; aber so etwas noch nicht. Überall hängen Menschen aus | |
| Fenstern oder haben sich auf Balkons versammelt, um zu verfolgen, was unten | |
| auf der Straße vor sich geht: eine Demonstration ganz neuer Art. Sie ist so | |
| friedlich, wie man es sich nur vorstellen kann, und dabei laut auf | |
| ungewohnt angenehme Weise. Es ist Berlins erste Opern-Demo, und sie bewegt | |
| sich mit selbstgebauten fahrbaren Bühnen die Reichenberger Straße hinunter. | |
| „Lauratibor“ haben die InitiatorInnen ihr Projekt genannt, der Name eine | |
| Reverenz an die [1][Ratiborstraße 14], ein Kreuzberger Gewerbeareal in | |
| Kanalnähe, dessen PächterInnen sich seit Jahren gegen ihre drohende | |
| Verdrängung stemmen: Der Senat hat angekündigt, auf dem Gelände | |
| [2][modulare Unterkünfte für Flüchtlinge] bauen zu wollen. Die PächterInnen | |
| befürchten, dass dieses Vorhaben nur ein erster Schritt zur dauerhaften | |
| Umwidmung des Filetstücks in ein gehobenes Wohnareal für Betuchte sein | |
| könnte. | |
| Immerhin musste der Kiez in den vergangenen Jahren den unglaublichen | |
| Aufstieg einer Gegend von „einfacher Wohnlage“, wie es zu Zeiten des | |
| seligen Berliner Mietspiegels noch hieß, zu einem der für Neuvermietungen | |
| teuersten Pflaster der Hauptstadt erleben. Jede einzelne Immobilie hier ist | |
| ein lohnendes Spekulationsobjekt für internationale Investoren, und | |
| Beispiele für Verdrängung waren in den letzten Jahren in der Nachbarschaft | |
| zuhauf mitzuerleben. Als vor wenigen Monaten unter großem Polizeiaufgebot | |
| das Kneipenkollektiv „Meuterei“ geräumt wurde, waren zwei Tage lang große | |
| Teile der Reichenberger Straße komplett gesperrt. | |
| ## Symbolischer Sieg | |
| Und so ist es doch ein größerer symbolischer Sieg, wenn die BewohnerInnen | |
| an diesem windigen Samstagnachmittag die Straße immerhin für die Dauer von | |
| ein paar Stunden zurückerobern. Und das hat tatsächlich etwas von einem | |
| Sit-in: Die ZuschauerInnen (geschätzt insgesamt mehr als 1.000) lassen sich | |
| nämlich an den Stationen, wo die Opernwagen anhalten, auf dem Pflaster | |
| nieder, über das sonst der motorisierte Verkehr poltert, um im Sitzen die | |
| Geschichte von Laura und Tibor zu verfolgen. | |
| Letzteres ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach, denn wie immer in der | |
| Oper ist der Text schlecht zu verstehen; das Libretto kann aber gegen eine | |
| Spende erworben werden. Die Dramatikerin Tina Müller – für ihre | |
| Jugendtheaterstücke mehrfach ausgezeichnet – hat es verfasst und damit eine | |
| Idee weiterentwickelt, die auf die Opernsängerin Marieke Wikesjo | |
| zurückgeht: Sie fand, die Tragik der Verdrängung passe sehr gut zur | |
| Opernform. | |
| Wikesjo verkörpert auch die Hauptrolle in „Lauratibor“ – nämlich die der | |
| Laura, der „Patronin der Lausitzer Straße“, wie es im auf der Demo | |
| verteilten Handzettel heißt, die mithilfe ihres einstigen Geliebten Tibor | |
| ihr Haus gegen den gierigen Investor Maximilius Profitikus verteidigen | |
| will. Tibor allerdings, seinerseits Patron der Ratiborstraße 14, glaubt | |
| eigentlich den Kampf schon verloren gegen den dreiköpfigen Dichtifikator, | |
| der bereits vor seiner Tür steht. | |
| ## Zaubertrank des Widerstands | |
| Ach, hätte man doch noch den Zaubertrank des Widerstands! Doch der Trank | |
| scheint verloren, denn niemand kennt noch das Rezept. Oder doch? Laura und | |
| Tibor machen sich gemeinsam auf den Weg in die Lausitzer Straße. – Dieser | |
| Gang dauert, denn zwischen Ratibor und Lausitzer begegnen den GefährtInnen | |
| allerlei symbolische Figuren und Chöre mit insgesamt sehr widerstreitenden | |
| Interessen. Auch eine Göttin der Hoffnung tritt auf, mit deren Hilfe ein | |
| „Chor der Versteinerten“ wiederbelebt werden kann. | |
| Eine Menge los ist an der Kreuzung Reichenberger-/Glogauer Straße, um die | |
| normalerweise lärmend der M29er-Bus biegt. Heute hat er Pause, denn unten | |
| steht das Opernpublikum, und aus mehreren Fenstern rund um die Kreuzung | |
| entrollen sich Stoffbahnen. „Umut“ steht auf einer, also „Hoffnung“ auf | |
| Türkisch. „Das Huhn ist tot“ ist auf einem Balkon zu lesen, und gegenüber | |
| auf der anderen Straßenseite „Es lebe das Huhn“. Auch von diesen Balkons | |
| wird gespielt und gesungen. Es ist durchaus recht unübersichtlich, | |
| insbesondere die Sache mit den Hühnern, und überhaupt hängt dem Ganzen | |
| etwas dezent Dadaistisches an. | |
| An der nächsten Kreuzung treten SenatsvertreterInnen mit ulkigen | |
| Kopfbedeckungen auf, denen es tatsächlich gelingt, die – psychisch wohl | |
| generell nicht sehr gefestigte – Laura mit schönen Worten einzulullen. Auf | |
| dem Weg zur letzten Station, der Ecke zur Lausitzer Straße, scheint das | |
| Publikum sowohl auf der Straße als auch an den Fenstern deutlich | |
| angeschwollen zu sein. | |
| ## Immobilienhai fordert Hausschlüssel | |
| Ein großes Finale kündigt sich an. Tibor stirbt, und Laura singt eine | |
| ergreifende Trauerarie (für die Musik zeichnet der Komponist Anders Ehlin | |
| verantwortlich, und der Dirigent Norbert Ochmann hat die musikalische | |
| Leitung souverän im Griff), nach der sie ein wenig den Verstand verliert. | |
| „Nein, tu’s nicht!“, ruft das Publikum, als sie sich anschickt, den | |
| Schlüssel für ihr Haus freiwillig an den Immobilienhai abzugeben. Doch | |
| auch da ist die Handlung noch nicht zu Ende, denn der Zaubertrank wird | |
| wiedergefunden. Aber ach, wer wird ihn trinken? | |
| Tatsächlich sind am Ende fast vier Stunden vergangen. Die Sonne hat sich | |
| längst verzogen, Abendbrotzeit ist schon vorbei. Geradezu stürmisch ist es | |
| geworden, und die Menschen sind vom nunmehr kühlen Straßenpflaster | |
| aufgestanden, um ihre Jacken enger um sich zu wickeln. Vereinzelt müssen | |
| frierende Kleinkinder nach Hause gebracht werden. „Ich will das aber | |
| unbedingt zu Ende gucken!“, sagt der Kleinkindvater hinter mir energisch | |
| zu seiner Frau. Frau und Kind verpassen danach das Finale, das nur furios | |
| genannt werden kann. Denn zum Abschluss singen alle DarstellerInnen ein | |
| Widerstandslied in mehreren Sprachen, das geradezu körperlich zum | |
| Mitmarschieren aufruft. Danach will der Schlussapplaus kein Ende nehmen. | |
| Das hängt bestimmt auch damit zusammen, dass diesmal – anders als sonst im | |
| Theater – auch das Publikum das Gefühl haben kann, zu den Mitwirkenden zu | |
| gehören. Klar: Nicht alle, die mitgelaufen sind, haben etwas zur | |
| eigentlichen Opernproduktion beigetragen. Aber alle, die hier dabei waren, | |
| waren Teil der allerersten Berliner Opern-Demonstration. Und gefühlt | |
| gehörte den ZuschauerInnen dabei die Straße. | |
| 14 Jun 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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