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# taz.de -- Schulen in China: Digital überwacht
> China treibt die Digitalisierung seiner Schulen auf die Spitze. Der Grat
> zwischen Utopie und Dystopie ist schmal.
Bild: Eine Kamera zählt jede Rotation des Springseils der Schüler in Guiyang
Guiyang taz | Wang Kun hat eine Vision. Er träumt von vollkommen objektiv
bewerteten Klausuren. „Wir wollen den menschlichen Fehler minimieren.
Keiner soll hier eine gute Note bekommen, nur weil er enge Beziehungen zum
Prüfer hat“, sagt der Sportlehrer mit der ernsten Miene und der
kerzengraden Körperhaltung. In Chinas ultrakompetetivem Bildungssystem kann
eine einzelne Schulnote schon mal über den gesamten weiteren Lebensweg
bestimmen. Deswegen lautet Wangs Devise: Nur Leistung zählt – und sonst
nichts.
Der Pädagoge steht in der riesigen Sporthalle der Qingzhen-Mittelschule,
hinter ihm haben sich bereits dutzende Teenager in Trainingskleidung auf
dem glatt geputzten Linoleumboden aufgereiht. Sie werden heute im
Seilspringen gegen die Zeit getestet.
Bewertet werden sollen die Schüler jedoch nicht vom fehlerhaften
menschlichen Auge, sondern von objektiver Technik: Eine Kamera,
ausgestattet mit künstlicher Intelligenz, zählt in Echtzeit jede Rotation
des Springseils. Später werden Computerchips, eingenäht in die Shirts der
Schüler, sicherstellen, dass niemand beim Ausdauerlauf auf der
400-Meter-Bahn seine Spur wechselt. Schummeln wird damit unmöglich gemacht.
Statt auf Vertrauen setzen die Lehrer der Qingzhen-Schule auf digitale
Kontrolle.
Es sind lediglich technische Spielereien, die die Lokalregierung den
Journalisten beim Ortsbesuch im südwestlichen Guiyang präsentiert. Mit
digitalen Hilfsmitteln soll hier, im chinesischen Mekka für Big Data, die
körperliche Fitness der Schüler verbessert werden. Mithilfe der
analysierten Daten liefert die Software etwa individuell angepasste
Ernährungspläne und Übungen für zu Hause mit.
## Sportunterricht nur Vorgeschmack
Von der ersten Klasse bis zum Abitur werden sämtliche Gesundheitsdaten ans
Bildungsministerium weitergeleitet. Dabei bietet der Sportunterricht nur
einen Vorgeschmack auf die umfassende Vision, die Chinas Regierung für ihre
[1][Jugend] hegt.
„Unsere Technologie kann natürlich auch auf andere Fächer angewandt
werden“, sagt Zhang Youyou, der für das staatsnahe Unternehmen mit dem
sperrigen Namen „Guizhou Jingshi City Investment Smart Education“ arbeitet.
Im zehnten Stock eines gläsernen Büroturms in Guiyang tüfteln Zhang und
seine Kollegen an der digitalen Revolution fürs Klassenzimmer.
„Im Chinesischunterricht können wir beispielsweise bei Gruppendiskussionen
die Antworten der Schüler filmen – und genau messen, wie konzentriert sie
sind.“ Man wolle mithilfe der Technik den neuesten Stand der
Neurowissenschaft mit digitaler Technologie verbinden, das Bildungssystem
effektiver gestalten und die Kosten für die Gesellschaft drosseln, sagt
eine Unternehmensmitarbeiterin im smarten Business-Look.
Nach wenigen Minuten wird deutlich, wie nah Utopie und Dystopie
beieinanderliegen. So experimentieren die Informatiker aus Guizhou
beispielsweise mit einer Art „Smart Desk“: Eine Lampe mit integrierter
Kamera leuchtet auf den Schreibtisch des Schülers, der dort etwa schreiben
lernt oder Mathematikaufgaben löst. Das Kamerabild wird gleichzeitig an die
Applikation eines Lehrers übertragen, der Hunderte Kilometer entfernt
Unterricht in Echtzeit halten kann.
## Jede Äußerung im Online-Archiv gespeichert
Für viele Experten ist dies ein Beleg dafür, wie smarte Lösungen die
wachsende Ungleichheit im Bildungssystem Chinas überwinden können. „Wenn
man sich anschaut, wo die guten Lehrer sind, dann ist das in den großen
Metropolen“, sagt Felix Liu, der für die Schweizer Großbank UBS zum
Bildungssektor in China forscht. 85 Prozent aller Schüler seien jedoch in
den ländlichen Gebieten. „Dieses strukturelle Ungleichgewicht kann von
Online-Unterricht gelöst werden.“
Doch gleichzeitig arbeiten die [2][Programmierer in Guiyang] auch an der
totalen Überwachung des chinesischen Klassenzimmers: „Smarte“ Kameras
sollen sämtliche Unterrichtseinheiten aufzeichnen, jedes gesagte Wort im
Online-Archiv speichern und die kleinste Unkonzentriertheit der Schüler
sofort bemerken. Anhand von Gesichtsausdruck, Gestik und Körpertemperatur
kann die Software Rückschlüsse auf den psychischen Gemütszustand der
Heranwachsenden ziehen.
Eine Zustimmung der Eltern bräuchte man nicht, denn die Schule sei in China
öffentlicher Raum, sagt Zhang von Guizhou Jingshi City Investment Smart
Education. Und auch in den eigenen vier Wänden soll die Beobachtung
weitergehen: Eine App kontrolliert mithilfe der Smartphone-Kamera, dass die
Hausaufgaben auch tatsächlich erledigt wurden.
Noch ist dies nur ein Pilotprojekt, das in neun Städten der Provinz
Guizhou ausprobiert wird. Doch schon bald sollen sieben Millionen Schüler
aus der Region von dem Softwareprogramm erfasst werden. Als nächster
Schritt könnte es dann flächendeckend im ganzen Land eingesetzt werden.
## Versuch, einen vorbildlichen Bürger zu erziehen
Beim Gespräch mit Ban Chao, dem Geschäftsführer des staatsnahen
Unternehmens, stellt sich heraus, dass man die moralische Problemstellung
nicht einmal wahrnimmt. Ob man Kinderpsychologen bei der Entwicklung des
Online-Klassenzimmers zurate gezogen hat? „Die Schüler stehen doch nicht
allzu lange unter Beobachtung. Die Intention der Software ist es lediglich,
die Handlungen der Schüler, ihre Wortmeldungen und ihre mentale Verfassung
zu messen“, sagt er mit entwaffnender Ehrlichkeit. Es ginge vor allem
darum, die akademische Leistung mit Hilfe der Technik zu verbessern.
Das digitale Klassenzimmer in Guiyang reiht sich dabei ein in ein
umfassendes gesellschaftliches Experiment, an dem Chinas Staatsführung
arbeitet. Am ehesten lässt es sich als Social Engineering umschreiben, dem
systematischen Versuch, mithilfe von künstlicher Intelligenz und
vollständiger Überwachung einen vorbildlichen Bürger zu erziehen.
Die Möglichkeiten der Gegenwart übersteigen bereits heute den
Vorstellungshorizont vieler Science-Fiction-Filme: Wer etwa in Shanghai bei
Rot über die Ampel geht, bekommt seine Strafe dank omnipräsenter
Gesichtserkennung automatisch zugestellt. Die biometrischen Daten werden
von den Chinesen ganz freiwillig aktualisiert: In vielen U-Bahnhöfen lässt
sich die Ticketschranke nämlich am effizientesten via Face Scan lösen.
Schon jetzt können die Sozialämter mit einem simplen Zugriff auf die
Überwachungskameras der Stadt abgleichen, ob etwa ein Bezieher von
Arbeitslosengeld nicht heimlich ein Luxusfahrzeug besitzt. Und wer das
Rauchverbot im öffentlichen Raum wiederholt missachtet, kann problemlos von
den Autoritäten gemaßregelt werden – etwa indem ihm für einen gewissen
Zeitraum verboten wird, Tickets für Hochgeschwindigkeitszüge zu kaufen.
## Jede Transaktion nachvollziehbar
Mit der ersten staatlichen Digitalwährung der Welt, die in China in
flächendeckenden Pilotprojekten eingesetzt wird, lässt sich jede einzelne
Transaktion der Bürger nachverfolgen. Die chinesische Gesellschaft der
Zukunft ist, wenn es nach den führenden Parteikadern in Peking geht, eine
Utopie ohne Sozialbetrug, Steuerhinterziehung und Gewaltverbrechen.
Doch ebenso ist sie eine Welt, in der es weder Privatsphäre gibt noch freie
Meinungsäußerung oder politische Opposition. Die Technologie soll helfen,
Armut zu bekämpfen. Andererseits hält sie ein autoritäres Regime an der
Macht.
Dabei ist Datenschutz innerhalb Chinas durchaus ein kontrovers debattiertes
Thema, zumindest, wenn es um die kommerziellen Absichten von Unternehmen
geht. Tatsächlich wahrt der Staat die Interessen der Bevölkerung, wie
zuletzt ein Gesetzesvorstoß der Stadtregierung Shenzhens beweist. Er
verbietet, dass Smartphone-Apps Benutzerprofile von Minderjährigen
erstellen und ihnen personalisierte Werbeempfehlungen schicken.
Gleichzeitig sorgen auch die Tech-Unternehmen immer wieder für
Kontroversen, wenn sie ihre Marktdominanz für intransparente bis unlautere
Geschäftspraktiken missbrauchen: Die führenden E-Commerce-Plattformen
beispielsweise haben immer wieder die Daten ihrer Konsumenten dazu
verwendet, ihnen – unwissentlich – unterschiedliche Preisangebote für
dieselben Produkte maßzuschneidern.
## Kritischer Diskurs über staatliche Überwachung unmöglich
Ebenso wurden mehrere Marken dabei überführt, wie sie in ihren Läden
Kameras mit Gesichtserkennungssoftware dazu verwendet haben,
Verhaltensmuster ihrer Kunden zu überwachen.
Im Frühjahr hat die Parteiführung erstmals ein umfassendes
Datenschutzgesetz ausgearbeitet, das insbesondere die boomenden
Tech-Imperien wie Alibaba oder Tencent an die Kandare nimmt. In seinen
Grundzügen orientiert sich das Gesetz am Vorbild der Europäischen Union.
Doch ein unlösbarer Widerspruch tritt ganz offen zutage: Während der Staat
seine Bürger vor den Unternehmen schützt, ist kein kritischer Diskurs über
die exzessive Überwachung seitens des Staates möglich.
Im Büro von Guizhou Jingshi City Investment Smart Education möchte man sich
offensichtlich nicht mit solch lähmenden Fragen aufhalten. Stattdessen
tüfteln die Programmierer im Namen des technologischen Fortschritts weiter
an der künstlichen Intelligenz fürs Klassenzimmer der Zukunft, die das
volle Potenzial eines jeden Schülers erkennen kann. Geschäftsführer Ban
Chao sagt: „Wir wollen erkennen, wie der weitere soziale Pfad eines jeden
Schülers aussehen kann“.
8 Jun 2021
## LINKS
[1] /China-geht-zur-Drei-Kind-Politik-ueber/!5771591
[2] /Big-Data-und-Ueberwachung-in-China/!5765958
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
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