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# taz.de -- Die These: Mehr Missachtung geht nicht
> Wie die Gesellschaft in der Coronakrise mit Kindern und Jugendlichen
> umgeht, ist skandalös. Nun braucht es nichts Geringeres als einen
> Marshallplan für junge Menschen.
Bild: Beispiel für Missachtung der jungen Menschen: das drastisch unterfinanzi…
Eine aktuelle Diskussion hätte die Situation kaum schöner zuspitzen können:
Der Tübinger Bürgermeister sagte, es gebe Triage in den Kinder- und
Jugendpsychiatrien, nicht auf den Intensivstationen – und schon schwappte
Aufregung durch die Medienlandschaft.
Daraufhin verkündete die zuständige Fachgesellschaft, das stimme überhaupt
nicht. „Jedes notfallmäßig und dringlich vorgestellte Kind aus dem
zugehörigen Einzugsgebiet wird kinder- und jugendpsychiatrisch in jedem
Einzelfall sofort versorgt.“ [1][Darauf wiederum meldeten sich zahlreiche
Kolleg:innen bei der Fachgesellschaft, um zu sagen, das stimme seit
Jahren nicht mehr.] Wir alle haben ungeheure Probleme, suizidgefährdete
junge Menschen in stationäre Behandlungen zu bringen. Die Fachgesellschaft
ruderte ein bisschen zurück, und das Thema versandete. Schließlich hatte
inzwischen schon irgendein anderer Bürgermeister irgendwas anderes gesagt,
und außerdem ging es ja nur um Kinder.
Wir sparen uns unsere Zukunft. Und das geht über den Klimawandel hinaus:
Nicht nur die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist unterfinanziert, auch für
das Schulsystem, die Freizeitangebote, die Familienarbeit, die Ernährung
und die Spielplätze unserer Kinder gibt es nicht genug Geld.
Es ist jetzt sofort und dringend die Zeit, einen Marshallplan für die
Kinder aufzulegen! Also einen hervorragend finanzierten, klug überlegten
und mit Verve in die Zukunft gedachten Plan für unsere Kinder. Die
Begründung dafür ist nicht Corona, aber das Verhalten, das wir als
Gesellschaft in dieser Krise gegenüber unseren Kindern gezeigt haben,
sollte der Tiefpunkt sein, der deutlich macht: Mehr gesellschaftliche
Missachtung der Kinder geht nicht. Wir müssen alles ändern.
Schluss mit dem schamhaften Schmunzeln
Es gibt praktisch keine kostenlosen Freizeitangebote für Kinder und
Jugendliche. Ja, diese müssen kostenlos sein, nur dann sind sie
niedrigschwellig und inklusiv genug. Stattdessen läuft die Polizei durch
die Parks und vertreibt die Jugendlichen. Wohin sollen sie gehen? Nach
drüben?
Und wussten Sie, dass ausgerechnet Erzieher:innen kein Lehrlingsgehalt
bekommen?
Seit wie vielen Jahren schmunzeln wir schon leicht schamhaft über ein
zerfleddertes Schulsystem, das einen Umzug von Lübeck nach Hamburg für
Kinder erschwert und das den Aufbau eines Auslandsschulsystems für
Botschaften, Hilfsorganisationen und Mitarbeiter:innen deutscher
Unternehmen unmöglich macht? International arbeitende Familien entscheiden
sich lieber für das amerikanische oder französische Schulsystem, weil sie
damit Kontinuität für ihre Kinder wahren können. Interessant für ein Land,
das sich gern selbst den Exportweltmeistertitel verleiht.
Seit wie vielen Jahren schauen wir uns immer wieder Berichte über
zerfallende Schulgebäude an und hören von der Knappheit der
Kindergartenplätze? In vielen Schulen sind die Toiletten in miserablem
Zustand. Und aus der technischen Ausrüstung der Schulen sollte man
vermuten, das Zeitalter der Heimcomputer habe gerade begonnen.
Therapien wie im Mittelalter
Die Halbierung der jetzigen Klassenstärken würde nicht nur dazu führen,
dass das Potenzial von jeder und jedem angemessener gefördert werden würde.
Es würde auch die Arbeitszufriedenheit der Lehrkräfte stark verbessern,
sodass diese länger im Beruf bleiben könnten. Momentan gehören
Lehrer:innen zu den Gruppen, die am häufigsten vor dem gesetzlichen
Renteneintritt ihren Beruf verlassen.
Ein solch sinnvoller Schritt würde auch dazu führen, dass viel weniger
junge Menschen die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Anspruch nehmen
müssten. Einerseits könnten sie mit ihren Problemen besser und schneller
gesehen werden. Andererseits müssten aus ihren Handicaps, wie
beispielsweise einer Aufmerksamkeitsstörung, keine Behinderungen werden,
wenn ihnen individualisiert geholfen werden könnte.
Überhaupt ist das Schulsystem geeignet, einen medizinisch denkenden
Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Man hat riesige Zahlen von
Schüler:innen, die alljährlich mit ungefähr demselben Ziel das System
durchlaufen – eigentlich eine Idealbedingung für wissenschaftliche Studien.
Man probiert eine neue Idee aus, vergleicht sie mit dem Alten und misst das
Ergebnis. Dann setzt sich die bessere Idee durch und immer so weiter. In
der Medizin funktioniert es so.
Im Mittelalter behandelte man Gicht mit Brennnessel-Auspeitschungen, heute
mit Schmerzmitteln und Harnsäurehemmern. Doch unser Schulsystem entwickelt
sich nicht auf diese Art weiter. Auf die Medizin übertragen, werden im
Schulsystem immer wieder mittelalterliche Ansätze hervorgeholt, auch wenn
sich schon längst bessere Therapien bewährt haben. Mit unserer Gesundheit
nehmen wir es genau, was mit unseren Kindern passiert, ist mehr oder
weniger egal. Also, natürlich nicht mit unseren Kindern, die schicken wir
in die zunehmende Zahl von Privatschulen und -instituten. Es geht eher um
die Kinder der anderen.
## Wirtschaft über alles
Coronahilfen hat bekanntermaßen die Industrie bekommen, der Tourismus, die
Lufthansa, das Hotel- und Gastgewerbe. Selbst die Autoindustrie hat
Coronahilfen bekommen, obwohl deren Krise nichts mit einer
Infektionskrankheit, sondern mit dem langjährigen Beharren auf
Verbrennungsmotoren zu tun hat. Und natürlich wird sich Deutschland dem
2-Prozent-Ziel für Rüstungsausgaben weiter annähern, das haben wir unseren
Nato-Partnern versprochen. Und was sind schon 60 Milliarden Euro, wenn es
um ein Versprechen unter Freunden geht?
Corona hat uns gezeigt, wo die Schwachpunkte unserer Gesellschaft liegen,
wie die Interessen derzeit priorisiert werden. Die Wirtschaft wird es ganz
gut überstehen, das Gesundheitswesen erweist sich als leistungsfähig –
Kultur und Kinder waren letztendlich egal.
Statt sich künstlich über die Triagierung in Krankenhäusern zu erregen,
sollten wir tatsächlich damit aufhören, Kinder und Jugendliche als
unwichtige Personen zu behandeln. Es kann nicht nur darum gehen, dass diese
Menschen in ihren Einrichtungen – möglichst ganztägig – betreut werden,
damit ihre Eltern an der Wertschöpfung teilnehmen können. Es ist auch
wichtig, was in diesen Einrichtungen passiert.
Als die Kinder gegen wissenschaftliche Empfehlungen wieder in voller Stärke
in die Schulen geschickt wurden, wie im Herbst geschehen, fiel plötzlich
allen auf, was für wichtige soziale Orte die Schulen doch sind. Aber kaum
kann der reguläre Schulbetrieb wieder aufgenommen werden, ist diese
Weisheit vergessen. Wie wird denn konkret dafür gesorgt, den sozialen
Aspekt dieser Orte zu stärken? Wie viele Sozialarbeiter:innen gibt
es dort? Wie wird die soziale Arbeit dort gefördert?
## Hauptsache, es geschieht
So also sehen wir unsere Kinder: eine beliebig verschiebbare, eindeutig
verzichtbare und ohne Widerstand ausschaltbare Minderheit, die nicht in der
Lage ist, sich ausreichend Gehör zu verschaffen und die man deshalb
jederzeit noch in die dunkelsten Keller sperren kann, solange man dazu ein
paar bedauernde Worte spricht.
Wenn wir uns – gerade auch im Wahljahr – für die Zukunft entscheiden
wollen, dann sollten dabei die Menschen, die in dieser Zukunft leben
sollen, eine tragende Rolle spielen. Denn – um Gertrude Stein zu
paraphrasieren – Geld ist genügend vorhanden, es steckt nur leider in den
falschen Taschen.
Der deutsche Staat investiert in Flugzeuge, Kreuzfahrtschiffe und Tagebaue,
hat aber kein Geld für Schulen, Jugendclubs und kein Kindergeld, das diesen
Namen verdient. Irgendwelche halbherzigen, zeitlich begrenzten
Partikularprogramme zur Nachhilfe in ein paar Schulfächern werden sicher
nicht die Probleme der Jugend lösen, die in der Coronakrise grell sichtbar
geworden sind.
Ob wir aus Scham über die vergangenen 14 Monate oder aus Scham über die
vergangenen 14 Jahre oder aus Vorfreude auf eine gute und lebenswerte
Zukunft die Entwicklung der Kinder endlich adäquat fördern, ist zweitrangig
– Hauptsache, es geschieht.
5 Jun 2021
## LINKS
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-kinderaerzte-schuloeffnungen…
## AUTOREN
Jakob Hein
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