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# taz.de -- Neues Album von Noga Erez: Beats für die Konflikte der Jugend
> Die Popmusikerin Noga Erez spricht im Videochat aus Tel Aviv mit der taz.
> Die Songs ihres Albums „Kids“ sind zum Teil in Berlin entstanden.
Bild: Exzellentes Rhythmusgefühl: Noga Erez
Bläserarrangements, durchdringende Beats und ein Chor bringen die Sache ins
Rollen. Dann setzt Gesang ein, gleitet durch die Takte, rhythmisch präzise,
inhaltlich auf den Punkt. „I’ve been deep, deep, deep, deep-ly depressed/
Get help, they might suggest/ Trash talk, I take offence“, lauten die
ersten Worte, die Noga Erez auf ihrem neuen Album mehr spricht als singt.
Es klingt wie Scat-Gesang. Damit hat die israelische Künstlerin den Ton
gesetzt, der erste Aufschlag sitzt.
„Cipi“ heißt der Song, in ihm besingt Erez das in Israel geläufige
Antidepressivum Cipralex (im Volksmund „Cipi“). „Cipi, I’m a pessimist /
but you think you can mess with me / You think you are the boss of me / But
most the time you’re my bitch!“, heißt es im Refrain, der schon fast einer
Anrufung entspricht. Dazu erklingen wider Erwarten euphorisierende Beats,
eine hochmelodische Hookline, Staccato-Synthiemelodien. Es ist Musik, die
einen – in normalen Zeiten – augenblicklich auf die Tanzfläche ziehen
würde.
Musik und Texte bilden für Noga Erez bewusst einen Gegensatz. „Die Themen
auf dem Album sind zum Großteil düster und abgründig. Die inhaltliche
Bandbreite ist sicher auch deshalb größer geworden, weil wir alle im
vergangenen Jahr völlig neue, heftige Erfahrungen gemacht haben. Auf der
anderen Seite aber klingt die Musik positiv, sie ist fröhlich und tanzbar“,
sagt sie im Interview.
Die 31-jährige Musikerin ist in der Nähe von Tel Aviv geboren und
aufgewachsen. In der internationalen Popszene ist sie bestens vernetzt,
Teile des neuen Albums, das „Kids“ heißt, sind in Berlin und Los Angeles
entstanden. Ihr Debütalbum „Off The Radar“ veröffentlichte Erez 2017. Mit
ihrem frischen Popentwurf zwischen HipHop, R & B und Dancefloor gewann sie
viele Fans und [1][tourte durch Europa].
## Die Jugend heutzutage
„Kids“ klingt in vielerlei Hinsicht eine Nummer größer. Der Sound erinnert
an dick aufgetragene US-Pop-Produktionen. Inhaltlich liefert Erez eine so
kluge wie knappe Bestandsaufnahme der Gegenwart. Ihre Songtexte handeln
zudem von Generationenkonflikten – wie ein roter Faden zieht sich das
Sample eines Ausspruchs ihrer Mutter durch das Album: „Kids these days“.
Die Jugend heutzutage.
In was für eine mediale Totalgegenwart die Generation Z hineinwächst,
erklärt Erez’ Song „Views“ sehr anschaulich. Darin erzählt sie von
Onlinediensten, mit denen man sich Follower, Shares oder eben „Views“
kaufen kann („People buy views / I know it’s old news / But I got bad news
for everybody“, heißt es darin).
„Dass wir von Zahlen, Scores und Likes besessen sind, war mir bewusst, das
habe ich schließlich schon auf ‚Off The Radar‘ thematisiert. Dass Menschen
aber bereit sind, dafür zu bezahlen, um sich erfolgreicher darzustellen,
als sie wirklich sind, musste ich erst begreifen“, sagt Noga Erez. „Den
gekauften Views liegt ja ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach
Anerkennung zugrunde. Deshalb fand ich das Thema spannend. Andererseits
geht es mir auch darum zu zeigen, dass heute alles, wirklich alles
monetarisiert wird.“
Erez sitzt während des Videochat-Interviews in ihrer Wohnung im Süden von
Tel Aviv vor dem Computer. Ihre Fingernägel sind an einer Seite weiß, an
der anderen schwarz lackiert, als würden sie die helle und dunkle Seite
dieses Albums symbolisieren.
## Leben und Arbeiten in der Wohnung
Im Hintergrund sieht man ihren Freund und musikalischen Partner Ouri
Rousso, er sitzt mit dem Laptop auf den Knien auf dem Sofa. Rousso
produziert Erez’ Musik, manchmal ist er auch in Features zu hören und
dichtet an Songtexten mit. Im anderen Teil des Raums stehen Synthesizer und
weitere Instrumente: „Unsere Arbeitswohnung“, kommentiert Erez und läuft
mit Laptop durchs Zimmer.
Dass „Kids“ zu dem wurde, wonach es jetzt klingt, ist der Pandemie
geschuldet. Vor genau einem Jahr, so die Künstlerin, seien die Songs schon
fertig abgemischt gewesen. Dann brach Corona aus. Die geplante Tour fiel
aus, es habe keine Möglichkeit gegeben, das neue Material auf der Bühne zu
präsentieren. Also entschieden sich die beiden, noch weiter an den Songs zu
feilen.
Das Ausarbeiten der Arrangements hat sich gelohnt. Aus sehr
unterschiedlichen Genres werden Einflüsse bezogen. Einige Stücke erinnern
in ihrem Sound und Aufbau an [2][Hits der britischen Gorillaz]. Der
Sprechgesang in „Views“ kommt etwa mit einem ähnlichen Megafoneffekt
daher, wie Gorillaz-Mastermind Damon Albarn ihn gern nutzt.
„End Of The Road“ und „Fire Kites“ wiederum scheinen von
[3][(süd-)afrikanischem Dancefloor jüngerer Jahre wie dem Gqom-Stil]
beeinflusst zu sein. Das Stück „Kids“, das Erez zusammen mit der
US-Rapperin Blimes singt, hat dagegen eher etwas vom gegenwärtigen
US-HipHop, und die Synthies klingen streckenweise nach Pompöspop à la
Britney Spears.
Erez selbst nennt so unterschiedliche Künstler:innen wie Tyler, the
Creator, Radiohead und Nancy Sinatra als Inspiration. „Fire Kites“ ist auch
inhaltlich ein Schlüssel, um Noga Erez’ künstlerischen Ansatz zu verstehen.
Er spielt auf den israelisch-palästinensischen Konflikt und die
beidseitigen Attacken rund um das 70. Jubiläum der Staatsgründung Israels
im Jahr 2018 an. Damals setzten Palästinenser neben anderen Waffen erstmals
großflächig Feuerdrachen und -ballons ein.
## Feuerdrache und Indoktrination
„We don’t need bombs we got fire kites / Don’t need nobody, we don’t ne…
your money“, textet Erez. „Die Feuerdrachen sind deshalb ein starkes Bild,
weil ein Drache definitiv keine Waffe ist. Es ist ein Spielzeug, mit dem
Kinder spielen. Nachdem Trump Ende 2017 Jerusalem als Hauptstadt Israels
anerkannt hat, entfachte er das Feuer“, meint sie. Dabei handelt der Song
auch von Indoktrination („(Jew Jew) / Balagan / Little girl became a
monster“) und beschreibt insgesamt die völlig aussichtslose und verfahrene
Situation in dem Konflikt.
Politiker:Innen auf beiden Seiten seien dafür verantwortlich, keine
radikalen Schritte Richtung Frieden zu unternehmen, zudem sei der
Friedensdiskurs innerhalb der Bevölkerungen auf beiden Seiten nicht
populär. Schon für diese wenig kontroversen Ansichten werde sie
angefeindet, erzählt Erez.
Persönlich wichtig ist der Songtext von „You So Done“. Darin erzählt Erez
von einer lange zurückliegenden Beziehung mit einem manipulativen Mann, der
ihr als junge Frau psychische Gewalt antat. Der Song wurde vorab
veröffentlicht, in einem öffentlichen Statement erklärte sie, welch langer
therapeutischer Prozess es war, diese Erfahrung hinter sich zu lassen.
Musikalisch liefert „You So Done“ dazu empowernde Elemente: Die emotionale
Kälte jener gescheiterten Beziehung nimmt eine trockene Bassdrum auf,
klingt mal wie ein Pulsschlag, dann wie ein Stich ins Herz. Dazu kommen
Reime, die auf wenig Raum sehr viel aussagen: „What a joke you made me /
What’s a queen to a joker? / Tell me.“ Am Ende stehen die Verse: „Shut up…
One way to make it stop“.
Diese Verdichtung von lyrischen und klanglichen Versatzstücken sind ein
Merkmal der 13 Songs. Ob beim bouncenden Beat von „End of the Road“, im
coolen und lässigen „Story“ oder in „Knockout“, in dem Erez ihr traumh…
Rhythmusgefühl unterstreicht. Dem Sog, den dieses Album vom ersten Moment
an erzeugt, kann man sich erst nach 37 Minuten wieder entziehen. Dann ist
es leider zu Ende.
10 Apr 2021
## LINKS
[1] /Festival-Pop-Kultur-vom-15-bis-17-August/!5524421
[2] /Neues-Album-der-Gorillaz/!5722732
[3] /Buch-Ten-Cities-ueber-Clubkultur/!5735257
## AUTOREN
Jens Uthoff
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