| # taz.de -- Verfahren gegen „Bild“-Chef Reichelt: Viel größer als Julian | |
| > Da kommt was auf den Springer-Verlag zu. Etwas, das die ganze | |
| > Medienbranche betrifft. Mitarbeiter*innen lassen sich nicht mehr | |
| > alles gefallen. | |
| Bild: Es geht nicht nur um Springer: Neubau des Verlags in Berlin im Oktober 20… | |
| Wie es aussieht, könnte der Chefredakteur der größten deutschen Zeitung | |
| nach Beschwerden von Mitarbeiterinnen seinen Job verlieren. Wenn die | |
| Vorwürfe stimmen, ist das groß und wichtig für die gesamte Branche. | |
| Gleichzeitig fokussiert sich die Berichterstattung gerade dermaßen auf die | |
| Person Julian Reichelt, dass man meinen könnte, es gehe hier vor allem um | |
| das Fehlverhalten eines einzelnen Mannes. | |
| Der Spiegel-Artikel, mit dem der Fall um Reichelt ausführlich öffentlich | |
| wurde, ist überschrieben mit [1][„Vögeln, fördern, feuern“,] | |
| Anführungszeichen inbegriffen. Angeblich eine saloppe Formulierung, mit der | |
| man im Springer-Verlag Reichelts Umgang mit jungen Mitarbeiterinnen | |
| bezeichne. Der Bild-Chef soll Volontärinnen und Praktikantinnen zum | |
| Abendessen eingeladen, junge Mitarbeiterinnen rasch befördert und bisweilen | |
| ebenso rasch wieder gekündigt haben. Die Überschrift transportiert ein Bild | |
| vom gewieften Macho, der sich Frauen wie Objekte nimmt. | |
| Das ist nur eine Geschichte über Reichelt und seine Gegner. Die andere ist | |
| eine über Mitarbeiterinnen, die gegen eine autoritäre Betriebskultur | |
| aufbegehren. Diese Geschichte droht unterzugehen zugunsten einer | |
| Charakterstudie über einen kontroversen Chefredakteur. | |
| Viele Texte behandeln prominent Reichelts mutmaßlichen Kokainkonsum, seine | |
| Intimbeziehungen. Natürlich auch seinen Ton gegenüber Mitarbeitenden, aber | |
| dann geht es wieder darum, dass er eben ein Anpacker sei, einer, der noch | |
| die alte Schule in sich trägt. Medienjournalistin Ulrike Simon nennt | |
| Reichelts Führungsstil „ruppig“ und schreibt im Branchenmagazin Horizont: | |
| „Vor zehn oder zwanzig Jahren wäre ein solcher Umgangston nicht der Rede | |
| wert gewesen, erst recht nicht bei Bild. Redaktionen wurden autoritär und | |
| patriarchalisch geführt.“ | |
| ## Aufstieg und Fall, Helden und Gegner | |
| Wo die einen sich moralisch an der Person Reichelt abarbeiten, kommen | |
| unweigerlich die anderen zur Ehrenrettung. Der ehemalige Politik-Chef der | |
| Bild, Georg Streiter, erklärtermaßen kein Reichelt-Fan, kritisiert im | |
| Cicero den Spiegel: „Vieles wussten die Autoren nur vom Hören-Sagen, man | |
| erfuhr nicht, wer es ihnen gesagt hat.“ Das ist, was Streiter auch | |
| hinzufügt, natürlich typisch für [2][„MeToo“-Berichterstattung]. Doch f�… | |
| die, die prominente Personen beschuldigen, ist Anonymität essenziell. | |
| Also schreibt man über den Beschuldigten. Gerne über seinen Charakter | |
| insgesamt. [3][Seit vergangenem Samstag ist Reichelt vorläufig beurlaubt – | |
| wie es heißt, auf eigenen Wunsch]. Alexandra Würzbach, bisher | |
| verantwortlich für die Bild am Sonntag, übernimmt den Chefinposten über | |
| alle Bild-Produkte. Vorstand Jan Bayer ersetzt Reichelt in der | |
| Geschäftsführung. | |
| Was auch zu jeder guten Geschichte über Aufstieg und Fall eines | |
| zweifelhaften Helden gehört, sind die Gegner. Das Vorstandsmitglied, das | |
| das interne Verfahren gegen Reichelt ins Rollen brachte. Diejenigen, die | |
| Reichelts Kurs der letzten Zeit verachten. Komiker Jan Böhmermann hat in | |
| seiner ZDF-Sendung die Vorwürfe gegen Reichelt schon mehrere Tage vor dem | |
| Erscheinen der Spiegel-Geschichte angedeutet. | |
| Autor Benjamin von Stuckrad-Barre wird nachgesagt, eingewirkt zu haben, er | |
| pflegt gute Beziehungen in den Verlag und hat Reichelt im vergangenen Jahr | |
| als Rassisten zu überführen versucht. Ohnehin gibt es spätestens seit Mai | |
| 2020 immer mehr öffentliche Kritik auch aus Springer-nahen Kreisen an | |
| Reichelt. Georg Streiter kritisiert damals [4][in einem ausführlichen | |
| Facebook-Post] Reichelts Kampagne gegen Drosten. | |
| Spannend, spannend. Und die Geschichte der mutmaßlich Betroffenen? Wie geht | |
| die noch mal? | |
| ## Es geht immer erst mal ums Unternehmen | |
| Im Axel-Springer-Verlag selbst scheinen sich zwei Umgangsformen gefunden zu | |
| haben. Das erwähnte interne Verfahren einerseits, das die Vorwürfe gegen | |
| Reichelt aufklären soll. Zumindest weit genug, um Schaden vom Unternehmen | |
| abzuwehren und Strafverfahren zu verhindern. Andererseits eine interne | |
| Kampagne gegen die Frauen, die gegen Reichelt aussagen. Wie der Spiegel | |
| berichtet, soll nach Bekanntwerden der Vorwürfe auf mindestens eine der | |
| Betroffenen Druck ausgeübt worden sein. Ein sogenannter „Reichelt-Getreuer“ | |
| aus der Bild-Führung soll der Frau klargemacht haben, dass sie besser nicht | |
| aussagen solle. | |
| Das erinnert an 2017, damals stand der [5][damalige Bild-Chef Kai Diekmann | |
| unter Verdacht,] eine Springer-Mitarbeiterin belästigt und vergewaltigt zu | |
| haben. Diekmann hat den Vorwurf stets bestritten. Die Staatsanwaltschaft | |
| Potsdam hat das Verfahren wegen sexueller Belästigung noch im selben Jahr | |
| eingestellt. | |
| Gegen die Mitarbeiterin begann eine Art hauseigene Bild-Kampagne. Reichelt | |
| soll ein Gedächtnisprotokoll der Tatnacht angefertigt haben, obwohl er zur | |
| Tatzeit gar nicht anwesend war, und darin über seine Erfahrungen mit der | |
| Mitarbeiterin geschrieben haben. Er soll Mitarbeiter animiert haben, | |
| weitere Nachforschungen über die Betroffene vorzunehmen. | |
| Mindestens vier Frauen im aktuellen Vorgang, so schreibt es die Zeit, | |
| sollen sich Anwälte genommen haben. Namentlich will bislang keine sprechen. | |
| Ihnen dürfte klar sein: Bei solchen internen Verfahren geht es immer erst | |
| einmal ums Unternehmen. | |
| Boulevardesk wird die Geschichte noch nicht da, wo man sie mit „Vögeln, | |
| fördern, feuern“ überschreibt. Sondern da, wo viele Sachverhalte | |
| zusammengeworfen werden. Natürlich bietet sich Häme an, wenn | |
| Springer-Vorstand Mathias Döpfner vor einer „Vorverurteilung“ warnt, wo man | |
| doch die ethisch fragwürdige Arbeitsweise des Verlags vor Augen hat. Aber | |
| es sollte journalistisch nicht um die „Zerstörung der Bild“ oder um die | |
| „Zerstörung Julian Reichelts“ gehen, die manchen zweifellos gelegen käme. | |
| ## Toxische Betriebskultur | |
| Nehmen wir die Fäden auseinander: Welche Drogen ein Chefredakteur | |
| mutmaßlich nimmt, ist für das Unternehmen, das ihn tragen muss, gewiss | |
| relevant. Für die Öffentlichkeit ist es höchstens unterhaltsam. Bei | |
| privaten Intimbeziehungen wird es schwieriger, sofern sie mit | |
| Mitarbeiterinnen stattfinden. Da geht es gegebenenfalls um eine toxische | |
| Betriebskultur in einer Branche, die noch lange nicht gendergerecht ist. | |
| Und um einen von unsicheren Arbeitsverhältnissen geprägten Journalismus. | |
| Geschichten wie diese gibt es auch in anderen Medienhäusern. [6][Die | |
| Deutsche Welle sieht sich seit Jahren mit Vorwürfen von Mitarbeitenden | |
| konfrontiert], die stark an die aktuellen erinnern: autoritäre Vorgesetzte, | |
| cholerischer Umgangston, Druck auf feste Freie, Übergriffe. Das Muster des | |
| Annäherns vor allem an junge weibliche Kolleginnen erinnert an die | |
| [7][Vorwürfe gegen einen Tagesspiegel-Mitarbeiter von 2019]. | |
| Und gerade erst haben 78 Journalistinnen des Schweizer Medienkonzerns | |
| Tamedia [8][in einem offenen Brief] eine Kultur der sexistischen Zoten, | |
| Anzüglichkeiten und der Übergriffigkeit beschrieben – und ein Wegsehen und | |
| Wegreden der Vorgesetzten angeprangert. Bei keinem dieser Fälle gibt es | |
| einen Julian Reichelt, auf den sich alles, was schiefläuft, projizieren | |
| lässt. | |
| Das darf nichts entschuldigen. Nicht Reichelts Verhalten und nicht seinen | |
| Verlag. Vieles an dieser Geschichte scheint Bild-spezifisch: Hier ringt | |
| eine Marke um Relevanz – und Reichelt, der Provokateur, der Kriegsreporter, | |
| der im Sich-unbeliebt-Machen zu Hause ist, schien vielen lange der Richtige | |
| für den Job, Bild umzukrempeln fürs 21. Jahrhundert. | |
| Im Boulevardjournalismus geht es zudem um starke Gefühle. Rache, Wut, | |
| Angst, Vergeltung. Eine Geschichte muss knallen, koste es, was es wolle. | |
| Wer so arbeitet, muss bereit sein, Grenzen zu überschreiten und bei | |
| Gegenwind nicht einzuknicken. Reichelt habe die Bild mit Hass geführt, | |
| nicht mit Herz und Hirn, trägt Ex-Politikchef Streiter im Cicero einen | |
| weiteren Stabreim zur Debatte bei. | |
| Der Springer-Verlag hat seit zehn Jahren [9][einen freundlich gestalteten | |
| Verhaltenskodex, in dem von Vertrauen und Empathie im Umgang die Rede ist, | |
| von Höflichkeit, Achtung und Respekt]. Trotzdem hatte es offenbar lange | |
| niemand eilig, diesen auf den Chef anzuwenden. Würde, falls Reichelt | |
| rausfliegt, eine Nachfolgerin namens Alexandra Würzbach einen dem | |
| Verhaltenskodex entsprechenden Betrieb schaffen? Oder ein Nachfolger namens | |
| [10][Claus Strunz], der neue „Bild Live“-Chef? Das hier ist nicht nur ein | |
| Problem Reichelt, sondern auch ein Problem Bild und ein Problem Springer. | |
| ## Sexismus kein verschrobener Charakterzug | |
| Und wenn man weiter rauszoomt, ist es eben auch ein Problem der Branche. | |
| Von dem Geist der autoritären und patriarchalischen Vorgesetzten, den | |
| Medienjournalistin Simon in einer Zeit „vor zehn oder zwanzig Jahren“ | |
| verortet, ist noch ganz schön viel übrig. Nur haben sich in der | |
| Zwischenzeit zwei entscheidende Dinge verändert. Zum einen haben | |
| Digitalisierung und Zeitungskrise Arbeit verdichtet. Die Bezahlung | |
| stagniert, Festanstellungsperspektiven sind mau. Statt Ruhm und Ehre gibt | |
| es Hassmails und Shitstorms. | |
| Was habt ihr uns eigentlich noch zu bieten, ihr da oben, dafür, dass wir | |
| uns von euch täglich anblaffen lassen?, fragen sich die Neuen. Und euer | |
| Sexismus ist übrigens auch kein verschrobener Charakterzug, sondern ein | |
| ernstes Problem, fügt die #MeToo-Bewegung hinzu – das ist die zweite | |
| entscheidende Sache, die sich verändert hat. | |
| Also zurück zur Geschichte der mutmaßlich Betroffenen, wie lautet sie? Ist | |
| es für die Leidtragenden überholter Betriebskultur in der Branche relevant, | |
| ob Julian Reichelt kokst? Ob er sympathisch ist? Ob es eine Verschwörung | |
| gegen ihn gibt? Besser als den Bild-Chef genüsslich fallen zu sehen, sollte | |
| man schon jetzt aus dem Vorgang lernen. Für den nächsten. | |
| 19 Mar 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Interne-Ermittlungen-bei-der-Bild/!5752543 | |
| [2] /Kammergericht-zu-HIV-Arzt/!5753135 | |
| [3] /Interne-Vorwuerfe-gegen-Julian-Reichelt/!5757412 | |
| [4] https://www.facebook.com/streiter/posts/10218495048668209 | |
| [5] /Interne-Ermittlungen-bei-der-Bild/!5752543 | |
| [6] /Kritik-an-der-Deutschen-Welle/!5654402 | |
| [7] /MeToo-bei-Berliner-Tageszeitung/!5597833 | |
| [8] https://www.nzz.ch/schweiz/da-schreit-ein-kind-hab-ich-das-mit-dir-gezeugt-… | |
| [9] https://www.axelspringer.com/data/uploads/2021/01/coc_deutsch.pdf | |
| [10] /Sat1-Moderator-im-Fernseh-Duell/!5444343 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Weissenburger | |
| Erica Zingher | |
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