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# taz.de -- Freie Fahrt in Bus und Bahn: Wo geht die Reise hin?
> Der Nahverkehr steht vor großen Herausforderungen. Warum also nicht groß
> denken? Ein ticketloser ÖPNV ist die Vision einer Welt, wie sie sein
> sollte.
Bild: Ein Relikt, das verschwinden darf: Der Ticketautomat
Bremen taz | Öffentlicher Nahverkehr macht keine gute Zeit durch, momentan:
In der Pandemie sind weit weniger Menschen unterwegs, und wer doch irgendwo
hin muss, der nimmt lieber das Rad oder gleich das Auto – gut geschützt vor
Aerosolen fremder Menschen. Es ist also Krise bei Bus und Bahn: Nur
zwischen 30 und 40 Prozent der Plätze sind besetzt, Einnahmen fallen weg.
Die [1][Löcher in den Kassen flickt der Staat], hier etwas kniepiger, dort
etwas großzügiger. Aber klar: Geld gibt’s. Sterben lassen kann man ihn
nicht, den ÖPNV.
Denn eigentlich wissen wir, dass er Teil der Lösung sein könnte: Gegenüber
dem Autofahren wird im öffentlichen Personennahverkehr pro Person weniger
als die Hälfte der Treibhausgase ausgestoßen. Und in der Stadt fast noch
wichtiger: Ein elend großer Anteil des öffentlichen Raums wird von
parkenden und fahrenden Autos belegt – es braucht eine Alternative dazu.
Wer nach der Pandemie den Nahverkehr stärken möchte, der weiß: Ohne viel
Geld wird das nicht gehen. Vermutlich ist jetzt genau der richtige
Zeitpunkt, um zu überlegen, wohin die Reise gehen soll – und was der
Nahverkehr in Zukunft für die Städte leisten kann. Und es ist der richtige
Zeitpunkt, um eine Vision zu betrachten, die seit Jahren immer mal wieder
hervorgebracht wird: die vom kostenfreien oder besser: ticketfreien ÖPNV.
## Eine radikale Utopie
Dabei geht es um viel mehr als darum, den Nahverkehr attraktiver zu machen.
Die Idee ist eine radikale Utopie, sie denkt vom Bedürfnis des Menschen
her: Mobilität ist eine Voraussetzung für Teilhabe an der Gesellschaft. So,
wie auch Gesundheit und Schulbildung erst einmal für jede*n erhältlich
sein sollte, darf Mobilität nicht davon abhängen, ob Frau F. ein Auto
besitzt, ob Herr S. noch Fahrrad fahren kann oder ob Frau H. gerade 2,80
Euro übrig hat.
Die Vision eines ticketfreien Nahverkehrs geht davon aus, dass die
Gesellschaft alles tun muss, um wirklich allen das Bedürfnis nach Mobilität
zu ermöglichen – und das auf eine Art, die Umwelt und Mitmenschen möglichst
wenig belastet. Wenn alle einfach einsteigen können, wächst die Stadt
zusammen, ärmere Menschen an den Stadträndern sind wieder angeschlossen.
Und Schwarzfahrer*innen landen nicht mehr im Knast, weil es kein
Schwarzfahren mehr geben muss.
Und dann ist da noch die Freiheit: Wer jemals ein Semesterticket hatte,
erinnert sich vielleicht an das wunderbare Gefühl, sich in jeden
Nahverkehrszug setzen zu können, ohne darüber nachdenken zu müssen, ob eine
Fahrt wirklich nötig ist. Bus- und Bahnfahren wird zur unkomplizierten
Selbstverständlichkeit. Die Stadt ist meine – in jedem Winkel steht sie mir
offen.
Zweifler*innen an dem Modell verweisen auf die Erfahrung aus Tallinn:
Dort waren die Busse und Bahnen nach Einführung eines ticketlosen Modells
nämlich – Überraschung! – plötzlich ziemlich voll, manche sagen überfü…
Anders gesagt: Bei dem Ziel, Menschen zum Umsteigen zu gewinnen, [2][hatte
Tallinn einfach ziemlich großen Erfolg].
Das geht natürlich nicht – beliebter sind bei Entscheidungsträgern deshalb
Varianten, gegen die niemand groß etwas haben kann: günstigere
Sozialtickets etwa, neue Kurztarife oder, schon aufsehenerregender: das
[3][365-Euro-Ticket, Fahren für einen Euro pro Tag].
Gemeinsam ist diesen Modellen: Die Gefahr eines massenhaften Umstiegs von
Auto auf Bahn ist eher gering. Sie variieren nur leicht das bekannte
System. Wer fahren will, muss zahlen, mal mehr, mal weniger. Wer Ausnahmen
möchte, steht unter Rechtfertigungsdruck: Bist du auch arm genug für diese
Leistung? Behindert genug?
## Nicht nur gratis, sondern auch besser
In einem Punkt allerdings haben die Kritiker recht: Tickets abzuschaffen
allein reicht nicht aus, vorher muss anderes passieren. Damit der
Nahverkehr tatsächlich ein Verkehrsmittel für alle ist, muss er mehr
können, als gratis zu sein. Das Ziel heißt nicht nur ticket-, sondern auch
fahrplanloser Nahverkehr: Busse und Bahnen müssen so oft fahren, dass es
sich immer lohnt, zur Haltestelle zu gehen. Sie müssen auch nachts fahren
und sonntags.
Es reicht auch nicht, bestehende Verbindungen auszubauen: Ein Nahverkehr
für alle muss [4][auch in die Gewerbegebiete fahren], zu den großen
Arbeitgebern, und in die Vororte, wo Menschen wohnen. Viele Fragen
schließen sich an: Wie schaffen wir es, dass jede*r sich sicher fühlt im
ÖPNV? Wie lang darf der Weg zur Haltestelle sein? Wie schaffe ich
Barrierefreiheit – immer, überall, spontan? Wie sorge ich dafür, dass ein
einzelner Nieser auch außerhalb von Pandemiezeiten, nicht einen ganzen Bus
flachlegt?
Viele dieser Themen wurden und werden aufgenommen von der
[5][Nahverkehrskonferenz Öfficon,] die seit Donnerstag und noch bis Sonntag
in Bremen stattfindet. Organisiert wird die Konferenz von „Einfach
Einsteigen“ – einem Bündnis, das in Bremen [6][seit 2019 für einen
ticketfreien Nahverkehr] einsteht.
## Die Idee findet Anklang
Sie sind weit gekommen: Aktuell setzt sich selbst die lange Zeit
autofreundliche [7][Bremer SPD ein für einen ticketlosen Nahverkehr] ein.
Wenn Kritiker auch murren, dass das vorgezogener Wahlkampf sei: Gut so,
wenn die Partei das Gefühl bekommt, mit einer Vision von Gleichheit und
Freiheit Wahlkampf machen zu können.
Vor dem Nahverkehr der Zukunft liegen noch einige schwere Brocken: Die
Frage der Finanzierung ist lösbar – banal ist sie aber nicht. Personal ist
in vielen Städten knapp. Auch Zeit ist ein Faktor: Es dauert Jahre, bis
neue Busse geliefert werden können, neue Bahnen brauchen noch länger. Und
Klagen von Anwohner*innen verzögern regelmäßig den Ausbau eines guten
Nahverkehrsnetzes.
Die Utopie aber steht da. Sie ist das Ziel – und kann zur Orientierung
dienen, wenn in den Mühen der Ebene gerade wieder nur das nächste Hindernis
zu sehen ist.
Lesen Sie mehr über den st ädtischen Nahverkehr der Zukunft in unserer
gedruckten taz am wochenende oder [8][hier].
19 Mar 2021
## LINKS
[1] /Nahverkehr-in-der-Coronakrise/!5745249
[2] /Attraktiver-Nahverkehr/!5049859
[3] /Ticketkosten-im-oeffentlichen-Nahverkehr/!5660656
[4] /Strassenbahn-Ausbau-in-Bremen/!5750612
[5] https://oefficon.eu/
[6] /Tram-und-Bus-ohne-Ticket/!5566939
[7] /Nulltarif-im-Nahverkehr/!5757790
[8] /e-Paper/Abo/!p4352/
## AUTOREN
Lotta Drügemöller
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