# taz.de -- Forscherin über die Verkehrswende: „Gesundheitswarnungen bei Aut… | |
> Wie werden wir PKWs los und bewegen die Menschen dazu, auf die | |
> öffentlichen Verkehrsmittel umzusteigen? Ein Gespräch mit der | |
> Verkehrsforscherin Philine Gaffron. | |
Bild: Morgendlicher Verkehr auf der zur Fahrradstraße umfunktionierten Friedri… | |
taz: Frau Gaffron, müssen wir den ÖPNV einfach kostenlos machen, um die | |
Leute vom Auto wegzubekommen? | |
Philine Gaffron: Nein, das würde nicht reichen. Wir brauchen auch mehr | |
Qualität. Und wir müssen uns fragen, unter welchen Umständen es überhaupt | |
sinnvoll ist, den ÖPNV kostenfrei anzubieten. | |
Wann ist es denn sinnvoll? | |
Überall da, wo es kostenfreien ÖPNV gibt, wurde er vorher schon deutlich | |
ausgebaut. In Luxemburg hat der Verkehrsminister gesagt, die Kostenfreiheit | |
sei die Kirsche auf der Sahne auf der Torte. Es gab also zu dem Zeitpunkt | |
schon ein hoch qualitatives Angebot. Was ich mir gut vorstellen kann, ist | |
die Kostenfreiheit als langfristige gesellschaftliche Zielsetzung. Ich | |
halte es aber in vielen Fällen in Deutschland noch nicht für angebracht. | |
Allerdings brauchen wir sie jetzt schon für bestimmte Gruppen: | |
ALG-2-Empfänger*innen, Schüler*innen, Auszubildende, und es sollte auch | |
angemessen ermäßigte Angebote für Senior*innen geben. Viele können es | |
sich aber leisten, für einen guten ÖPNV zu zahlen, in den wir ja auch noch | |
massiv investieren müssen. | |
Was macht einen guten ÖPNV aus? | |
Ein gutes Ziel ist die Vorstellung, die es auch in Bremen und Hamburg gibt, | |
dass man keinen Fahrplan mehr braucht, weil die Taktung so hoch ist, dass | |
man fünf, maximal zehn Minuten warten muss. Die Zuverlässigkeit ist auch | |
extrem wichtig. Dafür muss die Instandhaltung gut laufen und Straßenraum | |
umverteilt werden, damit Busse nicht im Stau stehen. Dann ist es auch | |
wichtig, dass die Randzeiten und dezentral liegende Gebiete gut bedient | |
werden, damit die Menschen das Gefühl haben, sie können auch von dort aus | |
mobil sein sowie abends und nachts. In Kopenhagen fahren die Stadtbahnen | |
die ganze Woche 24 Stunden! Nachts natürlich in einem geringeren Takt, aber | |
eben zuverlässig. Barrierefreiheit ist, denke ich, selbstverständlich. | |
Und guter Service? | |
Kostenfreies WLAN ist hilfreich. Und auch Apps und Online-Angebote mit | |
allen Dienstleistungen inklusive Bike-, Car- und Ride-Sharing. Sodass ich | |
gucken kann: Wo bin, wo will ich hin und wie geht das am schnellsten und | |
günstigsten. In Berlin gibt es Jelbi, auch Helsinki hat so eine App. | |
Wichtig ist aber: Mindestens im öffentlichen Verkehr braucht es eine | |
Alternative für anonyme Barzahlungen. | |
Neben diesen ganzen Anreizen brauchen wir auch Maßnahmen, die das | |
Autofahren wirklich unattraktiver machen. Welche können das auf Landesebene | |
sein? | |
Der Kostenfaktor spielt auch hier eine Rolle. ÖPNV muss günstiger sein als | |
Autofahren. Das geht über Parkraumbewirtschaftung im Zentrum, teureres | |
Bewohnerparken oder Straßennutzungsgebühren. City-Maut gibt es bislang in | |
Deutschland nicht, aber es wird an einigen Stellen untersucht, wie man das | |
umsetzen könnte. Man sollte dabei aber vorher genau überlegen, was man | |
damit erreichen möchte und auch erreichen kann, und ob | |
Parkraumbewirtschaftung, die Umverteilung von Straßenraum oder | |
Zufahrtsbeschränkungen nicht effektiver, schneller und kostengünstiger | |
sind. | |
Solche Maßnahmen sind häufig umstritten und schwer durchzusetzen. Das | |
Hauptargument ist dabei oft: Man kann den Leuten Autofahren doch nicht | |
verbieten. Nervt Sie diese Debatte? | |
Über vieles, was an Veränderungen in dem Bereich geplant wird, wird mit | |
großer Vehemenz gestritten. Ich finde es immer dann schwierig, wenn der | |
Grundsatz aus den Augen verloren wird, dass meine Freiheit da aufhört, wo | |
die der anderen anfängt. Denn unser Mobilitätssystem sorgt im Status quo ja | |
auch für Benachteiligungen wie Gesundheitsschäden, unter denen oft sogar | |
die Menschen mehr leiden, die weniger dazu beitragen, weil sie gar kein | |
Auto haben. Ich kann Sorgen aber bis zu einem gewissen Grad verstehen: | |
Mobilität hat viel mit Gewohnheiten zu tun. Und es ist eine kognitive | |
Anstrengung, diese zu ändern. Aber der individuelle Aufwand scheint oft | |
größer, als er im Endeffekt ist. Es ist also auch eine Frage der | |
Information und des Wissens um die Alternativen – und eben auch der | |
Attraktivität der Angebote. | |
Wie haben sich die Ansprüche an die Verkehrsplanung durch die | |
Coronapandemie verändert? | |
Zunächst gab es sehr kurzfristige Veränderungen im Mobilitätsverhalten, auf | |
die dann beispielsweise mit Pop-up-Radwegen reagiert wurde. Spannend war, | |
dass da die Verwaltung in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg, wo diese zuerst | |
eingeführt worden sind, gesagt hat, sie hätten die Politik gar nicht | |
gefragt. Sie seien für die Sicherheit auf der Straße zuständig und das sei | |
eine Maßnahme, die aktuell einfach notwendig ist. Eine interessante | |
Argumentation – an vielen anderen Stellen gehen oft langwierige | |
Entscheidungsprozesse voraus. | |
Und was lehrt uns die Pandemie langfristig? | |
Die Pandemie ist eine Erinnerung daran, dass wir größere Flexibilität im | |
System brauchen, solidere Finanzierungsquellen für den öffentlichen | |
Verkehr, und dass wir den öffentlichen Raum anders aufteilen müssen. Er ist | |
auch für Begegnungen da und nicht-motorisierte Bewegung; es braucht mehr | |
Treffpunkte, weniger Lärm und bessere Luft. Alles, was ohnehin schon auf | |
der Agenda steht. | |
Die Stadt Gent in Belgien hat es geschafft, den Autoverkehr drastisch zu | |
reduzieren. Wie genau? | |
Im Zentrum ist eine Fußgängerzone, in die tagsüber die Zufahrt verboten | |
ist. Drumherum wurden im Jahr 2017 Zonen definiert, wie stumpfe | |
Tortenstücke, zwischen denen die Durchfahrt nicht möglich ist. Das heißt, | |
man kann aus der Ringstraße, die durchaus vorhanden ist, in diese einzelnen | |
Zonen fahren – aber eben nicht von Zone eins in Zone zwei. Die Wege werden | |
also deutlich länger, wenn man mit dem Auto unterwegs ist und sich in der | |
Innenstadt bewegen will, als wenn man in den Bus oder aufs Rad steigt. | |
Gab es keine Proteste? | |
Ich habe mich mit dem Verkehrsbürgermeister von Gent darüber unterhalten. | |
Der sagte, an dem Tag, an dem die Regelung in Kraft trat, ist er von einem | |
Journalisten begleitet worden. Er hatte im Vorfeld Sorge, dass es wüste | |
Beschimpfungen gibt und es eine konfliktträchtige Tour werden könnte. Aber | |
fast genau das Gegenteil ist eingetreten, die Menschen haben sich bei ihm | |
bedankt. | |
Autos sind bei uns immer noch Statussymbol. Haben Sie eine Idee, wie | |
Jahresticket und E-Bike das neue Cool werden können? | |
Vielleicht können wir Gesundheitswarnungen, wie es sie bei Zigaretten gibt, | |
auch bei Autowerbung verpflichtend machen. Aber das ist ein | |
Gedankenexperiment. Das Problem ist ja ein kulturelles, für das gibt es | |
nicht die eine Lösung. Auch die Auseinandersetzung mit der | |
Automobilindustrie ist sicherlich notwendig. Wir müssen wegkommen von dem | |
Fokus auf SUVs und hochpreisige Privat-Pkws hin zu mehr und besseren | |
ÖPNV-Fahrzeugen. Die dürfen auch gerne in Deutschland gebaut werden. | |
Noch eine Schwierigkeit bei der Verkehrswende: Sie dauert. Wie lässt sich | |
ein politischer Konsens herstellen, sodass Maßnahmen nicht in jeder | |
Legislaturperiode neu verhandelt werden müssen? | |
Indem die Akteur*innen dazu bereit sind. Das klingt sehr banal, aber | |
darauf läuft es hinaus. Wichtig ist auch die Art, wie Dinge in der | |
Öffentlichkeit diskutiert werden. Für viele Themen und Maßnahmen gibt es | |
stille Mehrheiten – aber weil sie still sind, kommen sie in der Politik | |
nicht ausreichend an. Wir brauchen den politischen Mut, aber wir wissen | |
auch, dass Wähler*innenstimmen eine Rolle spielen. Wenn ich als | |
Politiker oder Politikerin das Gefühl habe, ich kann mit der Verkehrswende | |
Mehrheiten mobilisieren, ist das ein großer Anreiz. Wenn diese Mehrheiten | |
in der Bevölkerung vorhanden sind, ist es wichtig, dass sie wahrgenommen | |
werden. | |
Ist das ein Aufruf? | |
Ja, auch. Ich war in Hamburg dabei, als Pläne für ein Experiment | |
vorgestellt wurden, im Sommer Parkflächen in einem Stadteilzentrum zu | |
reduzieren. Vorher gab es Sorgen, dass die Veranstaltung kontrovers wird. | |
Aber der Vertreter des Seniorenverbandes sagte, es wäre gut für die | |
Mitglieder, wenn die sicherer mit dem Rad unterwegs sein könnten. Und eine | |
Frau sagte, sie würde gerne mit ihren Kindern mit dem Rad in den Ortskern | |
fahren, habe aber Angst, dass was passiert, weil dort zu viele Autos sind. | |
Solche Impulse brauchen wir. | |
25 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Alina Götz | |
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