| # taz.de -- Ausbeutung in der Landwirtschaft: Bittere Ernte | |
| > Osteuropäer*innen ernten bald wieder deutschen Spargel – teils unter | |
| > miserablen Bedingungen. Arbeiter werfen einer Baumschule Ausbeutung vor. | |
| Bild: Erntehelfer*innen im Einsatz auf einem Spargelfeld in Nordrhein-Westfalen | |
| Berlin taz | „Ich habe mich wie ein Sklave gefühlt“, sagt ein rumänischer | |
| Landarbeiter. Mitten in Deutschland. Sein Arbeitgeber, eine Baumschule in | |
| Nordrhein-Westfalen, habe sich während seiner Anstellung Mitte Januar bis | |
| Anfang Februar wochenlang geweigert, ihm seinen Pass zurückzugeben. Ohne | |
| Ausweis konnte er nicht in seine Heimat zurückkehren oder zu einem anderen | |
| Betrieb wechseln. | |
| „Wir wurden respektlos behandelt, beschimpft, an der Kleidung gezogen und | |
| geschüttelt, wenn wir die Arbeit angeblich nicht gut gemacht haben“, | |
| erzählt der 20-Jährige in einem Videotelefonat mit der taz. Der stämmige | |
| Mann mit kurz geschorenen schwarzen Haaren will seinen Namen nicht in der | |
| Zeitung lesen – zu groß ist die Angst, sonst keine Jobs mehr zu bekommen. | |
| Denn er ist auf die befristeten Einsätze in Deutschland angewiesen. In | |
| Rumänien, sagt er, würde er noch weniger verdienen. Gerade hat er | |
| Mittagspause bei seinem neuen Arbeitgeber, einem Gemüsehof in | |
| Rheinland-Pfalz. Er sitzt vor einer Wand, die mit einem billigen braunen | |
| Holzimitat verkleidet ist. | |
| Für zwei Wochen Arbeit habe der Landarbeiter 635 Euro ausgezahlt bekommen, | |
| sagt Catalina Guia, die für „Arbeit und Leben“, einer unter anderem vom | |
| Deutschen Gewerkschaftsbund getragenen Weiterbildungseinrichtung, | |
| Wanderarbeiter berät. Guia, die selbst aus Rumänien stammt, übersetzt das | |
| Gespräch mit der taz. Sie hat dem Mann und 9 weiteren Rumänen geholfen, die | |
| Baumschule zu verlassen. | |
| Wenn der Landarbeiter – wie er sagt – 108 Stunden gearbeitet hat und zu dem | |
| Auszahlungsbetrag noch 130 Euro für die von der Baumschule übernommene | |
| Anfahrt aus Rumänien und 71 Euro für die laut Sozialrecht geltende | |
| [1][Unterkunftspauschale] hinzukommen, betrug der Stundenlohn nur knapp 8 | |
| Euro. Das liegt weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 9,50 | |
| Euro. Abrechnungen habe ihm die Baumschule nicht gegeben, erzählt der Mann. | |
| Das ist typisch: So können Arbeiter*innen schwer nachweisen, dass sie | |
| ausgebeutet wurden. | |
| ## Harte Arbeit, wenig Lohn | |
| Für seinen Lohn leistete der Rumäne sehr harte Arbeit: „Ich habe täglich | |
| 250 Bäume in ein Verpackungsmaterial eingewickelt und dann auf einen Lkw | |
| geladen“, sagt der Mann. „Jeder Baum wog 30 bis 40 Kilogramm, wenn er | |
| trocken war, wenn er nass war noch mehr, und meistens waren sie nass.“ Auf | |
| dem Feld habe er Setzlinge gepflanzt, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. | |
| Den Arbeitsvertrag auf Deutsch habe er unterschreiben müssen, obwohl er ihn | |
| nicht verstanden habe, erzählt der Rumäne weiter. „Ich habe auch keine | |
| Kopie bekommen.“ | |
| Ein Kollege des 20-Jährigen berichtet der taz, er habe für zwei Wochen nur | |
| 750 Euro ausgezahlt bekommen. Das würde bei 126 Stunden und Zuschlägen für | |
| Anfahrt und Unterkunft lediglich einen Stundenlohn in Höhe von 7,55 Euro | |
| bedeuten – rund ein Fünftel weniger als der vorgeschriebene Mindestlohn. | |
| Der 23-Jährige bestätigt auch die Vorwürfe, die Pässe seien einbehalten, | |
| die Arbeitsverträge nur auf Deutsch geschrieben und nicht in Kopie | |
| ausgehändigt, die Arbeiter beschimpft sowie tätlich angegriffen worden. Er | |
| ergänzt: „Die Chefs waren sehr aggressiv zu uns.“ Der Inhaber der | |
| Baumschule habe einem Rumänen gedroht, ihn mit einem Messer oder einer | |
| Pistole zu verletzen, wenn er schlecht arbeite. Die Wohncontainer seien | |
| kaum geheizt gewesen. Anti-Corona-Masken hätten sich die Arbeiter selbst | |
| besorgen müssen. | |
| ## Bei Beschwerde fristlos gekündigt | |
| Die taz erreicht den hochgewachsenen Mann auf einer Baustelle in seiner | |
| Heimat. Da arbeitet er, der keine formelle Berufsausbildung hat, nach | |
| seinem Aufenthalt in Deutschland jetzt wieder. Die Beschäftigung in der | |
| Baumschule sei bereits sein zweiter Job in der deutschen Landwirtschaft | |
| gewesen – auch beim ersten Mal seien die Arbeiter schlecht behandelt | |
| worden, sagt er. | |
| Beraterin Guia erzählt, dass auch mehrere andere Rumänen die Vorwürfe | |
| bestätigt hätten. Als sie sich beschwerten, sei ihnen fristlos gekündigt | |
| worden. Sie hätten den Betrieb und die Wohncontainer sofort verlassen | |
| müssen. „Sie saßen stundenlang vor dem Werkstor, ohne Pässe und ohne Geld | |
| und in der Kälte“, so Guia. Erst als die Polizei anrückte, habe die | |
| Baumschule die Pässe herausgegeben, und nur nach Intervention der | |
| Beratungsstelle hätten sie ihren Lohn bekommen. | |
| Die Baumschule wies die Vorwürfe als falsch zurück. Belege führte sie nicht | |
| an. Das Unternehmen schrieb der taz lediglich, es könne nicht auf Details | |
| eingehen, weil die Behörden sich mit dem Fall befassten. Die zuständige | |
| Staatsanwaltschaft Krefeld teilte mit, sie prüfe, ob ein Anfangsverdacht | |
| vorliege. | |
| 300.000 Saisonkräfte, die vor allem aus Osteuropa kommen, reisen in | |
| normalen Jahren ein. Die Landwirte brauchen sie etwa für die in wenigen | |
| Wochen beginnende Spargelernte. Danach holen [2][Erntehelfer] zum Beispiel | |
| Erdbeeren vom Feld. Um die Zahl der reisenden Helfer*innen und somit das | |
| Coronarisiko zu reduzieren, diskutiert die Bundesregierung derzeit, ob | |
| Landwirt*innen die Arbeitskräfte wie im Coronajahr 2020 bis zu 115 Tage | |
| [3][ohne reguläre Sozialversicherung] beschäftigen dürfen sollen. In den | |
| Jahren ohne Pandemie hatte die Schwelle bei 70 Tagen gelegen. | |
| ## Corona-Behandlungskosten bitte selbst übernehmen | |
| Mit Folgen für die Aushilfen: Auf diesem Weg angestellte | |
| Osteuropäer*innen müssen laut der Industriegewerkschaft | |
| Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) beispielsweise bei einer Corona-Erkrankung die | |
| Behandlungskosten mitunter selbst zahlen. Zudem würden der deutschen | |
| Sozialversicherung hohe Summen an Beiträgen verloren gehen. | |
| 60 Prozent der Ende Juni 2020 registrierten rund 97.000 ausländischen | |
| Aushilfskräfte in der deutschen Landwirtschaft hatten eine | |
| sozialversicherungsfreie Beschäftigung, wie eine statistische Auswertung | |
| zeigt, die die Bundesagentur für Arbeit auf taz-Anfrage erstellt hat. Auch | |
| die Baumschule in NRW stellte Helfer*innen auf diesem Weg ein. | |
| Berichte über mutmaßliche Ausbeutung von Landarbeiter*innen in | |
| Deutschland gibt es immer wieder. Doch für Nicole Spieß, Geschäftsführerin | |
| des Gesamtverbands der deutschen land- und forstwirtschaftlichen | |
| Arbeitgeberverbände, sind das nur Einzelfälle. Die Finanzkontrolle | |
| Schwarzarbeit des Zolls habe in der Landwirtschaft im Vergleich zu anderen | |
| Branchen nur wenige Verstöße gegen das Mindestlohngesetz festgestellt, sagt | |
| sie. | |
| „Nachweise für die geringe Zahl an gravierenden Verstößen gegen Infektions- | |
| und Arbeitsschutzmaßnahmen“ habe zum Beispiel die Arbeitsschutzverwaltung | |
| von Nordrhein-Westfalen geliefert. Es sei auch unter den im vergangenen | |
| Jahr schätzungsweise 250.000 Saisonkräften „nur in wenigen Fällen zu | |
| größeren Infektionsgeschehen gekommen“. Die meisten Betriebe würden eine | |
| private Krankenversicherung für ihre Saisonkräfte abschließen. | |
| ## 250 Coronafälle auf Gemüsehof | |
| „Die meisten sind aber nicht alle“, erwidert Harald Schaum, | |
| Vize-Vorsitzender der IG BAU. Und die privaten Versicherungen deckten nicht | |
| alle Risiken ab. „Vergangenes Jahr etwa ist ein Kollege nach einem während | |
| der Arbeitszeit erlittenen Herzinfarkt auf den Krankenhauskosten sitzen | |
| geblieben“. | |
| Eine genaue Zahl der Infizierten oder Coronausbrüche kann weder der | |
| Arbeitgeberverband noch das Bundesagrarministerium nennen. Fest steht | |
| jedoch, dass ein Gemüsehof im bayerischen Mamming mit 250 Fällen laut | |
| Robert-Koch-Institut im Sommer zeitweilig der größte Infektionsherd | |
| bundesweit war. Eine Ukrainerin musste auf der Intensivstation behandelt | |
| werden. In Baden-Württemberg [4][starb ein infizierter] Spargelstecher aus | |
| Rumänien. Schon die wenigen Medienartikel zum Thema, die die taz für eine | |
| Stichprobe ausgewertet hat, berichten von insgesamt mehr als 400 | |
| Infizierten. | |
| Und es gibt mehr Indizien, die auf systematische Ausbeutung von | |
| Landarbeiter*innen hindeuten. Bei den Kontrollen in NRW zur Einhaltung | |
| der Corona-Arbeitsschutzstandards gab es im vergangenen Jahr immerhin mehr | |
| als [5][170 Beanstandungen] überwiegend „kleinerer und mittlerer Mängel“, | |
| wie etwa ein zu geringer Abstand der Betten in den Unterkünften. In drei | |
| Unternehmen fanden die Kontrolleure nach eigenen Angaben „gravierende | |
| Mängel“. Rund 250 Betriebe mit 5.800 Saisonarbeiter*innen wurden | |
| überprüft. | |
| Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit leitete nach eigenen Angaben 2017 bis | |
| 2019 jeweils mehr als 500 Bußgeld- und Strafverfahren etwa wegen | |
| Mindestlohnverstößen oder Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen in | |
| der Landwirtschaft ein. | |
| ## Mehr als nur Einzelfälle | |
| „Angesichts dieser Zahlenverhältnisse kann man unseres Erachtens nicht nur | |
| von Einzelfällen reden, zumal die Kontrollwahrscheinlichkeit nicht | |
| sonderlich groß ist“, sagt Gewerkschafter Schaum. „Es gibt eine ganze Reihe | |
| von Betrieben, die sich illegal verhalten“. Diese hätten einen „illegalen | |
| Dumpingvorteil“ im Wettbewerb mit den Höfen, die sich korrekt verhalten. | |
| Dennoch will der Arbeitgeberverband, dass die Branche die Aushilfen noch | |
| länger ohne reguläre Sozialversicherung beschäftigen darf, und begründet | |
| das mit dem Infektionsschutz. Gewerkschafter Schaum aber sagt, dass das | |
| Infektionsrisiko geringer wäre, wenn die Landarbeiter für eine kürzere Zeit | |
| unter den beengten Bedingungen in Deutschland lebten. | |
| Der Bauernverband verweist auf „weitreichende Infektions- und | |
| Arbeitsschutzmaßnahmen“. Erntehelfer aus Risikogebieten wie Polen oder | |
| Rumänien müssten spätestens 48 Stunden nach der Einreise einen negativen | |
| Coronatest nachweisen. Andere Regeln seien jedoch teils „wachsweich | |
| formuliert“, kontert Schaum. Tatsächlich ist beispielsweise die | |
| Unterbringung in Einzel- statt Mehrbettzimmern laut | |
| [6][Bundesagrarministerium] nur „anzustreben“. Zwar müssen die Erntehelfer | |
| in feste Gruppen eingeteilt werden, die sich bei der Arbeit nicht begegnen | |
| sollen. Aber in einem Zimmer dürfen doch Mitglieder verschiedener Teams | |
| schlafen. | |
| Die Gewerkschaft sieht auch keine Gefahr, dass Deutschland mehr Gemüse | |
| importieren muss, falls die hiesigen Bauern etwas mehr für ihre Aushilfen | |
| zahlen müssten. Wenn ein Erntehelfer stündlich etwa 10 Kilogramm Spargel | |
| sticht und den Betrieb 3 Euro je Stunde mehr kostet, würde das den Preis | |
| nur um 30 Cent pro Kilo verteuern, sagt Schaum. Der deutsche Spargel würde | |
| dadurch kaum unattraktiver. | |
| 21 Mar 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.lohn-info.de/sachbezugswerte_2021.html | |
| [2] /Erntehelfer/!t5243331 | |
| [3] /Ausbeutung-auf-Gemuesehoefen/!5750133 | |
| [4] /Coronainfizierter-Erntehelfer-tot/!5676684 | |
| [5] https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMV17-3622.… | |
| [6] https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Landwirtschaft/rahmenbedingung… | |
| ## AUTOREN | |
| Jost Maurin | |
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