# taz.de -- Ausbeutung auf Gemüsehöfen: Erntehelfer sollen selber zahlen | |
> Saisonkräfte aus Osteuropa sollen auch dieses Jahr bis zu fünf Monate | |
> sozialversicherungsfrei arbeiten dürfen. Das fordern Agrarverbände. | |
Bild: Ermöglicht günstigen Spargel: Erntehelfer aus Rumänien auf einem Hof i… | |
BERLIN taz | Deutsche Landwirte wollen in diesem Jahr ausländische | |
Saisonkräfte wieder fünf Monate oder 115 Arbeitstage ohne gesetzliche | |
Krankenversicherung etwa zur Spargelernte beschäftigen. Der Bauernverband | |
und andere Branchenorganisationen forderten vor Kurzem die Bundesregierung | |
auf, „auch 2021 eine versicherungsfreie Beschäftigung für bis zu 115 Tage | |
zuzulassen“. | |
Auf diesem Weg angestellte Osteuropäer*innen etwa müssen | |
beispielsweise bei einer Corona-Erkrankung laut der Industriegewerkschaft | |
Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) die Behandlungskosten mitunter selbst zahlen. | |
Zudem würden der deutschen Sozialversicherung hohe Summen an Beiträgen | |
verloren gehen. 62 Prozent der Ende Juni 2019 registrierten rund 100.000 | |
ausländischen Aushilfskräfte hatten nur eine Beschäftigung ohne reguläre | |
Sozialversicherung, wie eine statistische Auswertung zeigt, die die | |
Bundesagentur für Arbeit auf taz-Anfrage erstellt hat. | |
Die Agrarlobbyisten verlangen, eine Ausnahme für das Coronajahr 2020 zu | |
verlängern. In normalen Jahren entfallen Beiträge zur Kranken-, Renten-, | |
Pflege- und Arbeitslosenversicherung nur bei „kurzfristigen | |
Beschäftigungen“ bis 3 Monaten oder 70 Arbeitstagen. Doch weil 2020 wegen | |
der Coronapandemie weniger Erntehelfer*innen aus Osteuropa einreisen | |
konnten als üblich, hat der Bundestag die Zeitgrenze in jenem Jahr | |
angehoben. | |
„Für einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz der versicherungsfrei | |
beschäftigten Saisonkräfte sorgen die Betriebe durch private | |
Erntehelferversicherungen“, teilte Thomas Becker, Vorsitzender der | |
Arbeitsgemeinschaft der gärtnerischen Arbeitgeberverbände, mit. „Das ist | |
aber nur eine Empfehlung, der nicht alle folgen, und oft deckt die private | |
Versicherung nicht alles ab“, sagte Harald Schaum, Vize-Chef der IG BAU. | |
Auch wenn die Beschäftigten in einem anderen EU-Land versichert sind, | |
müssten sie in der Praxis zuweilen selbst zahlen. | |
Die taz hatte im vergangenen Jahr über einen Landwirt berichtet, der | |
Erntehelfer*innen gewarnt hatte, sie müssten die Kosten beispielsweise | |
für einen Krankenwagen selbst übernehmen. Solche Saisonarbeitskräfte | |
erhalten meist – wenn überhaupt – nur den gesetzlichen Mindestlohn in Höhe | |
von [1][9,50 Euro] pro Stunde, von dem sie dann auch noch Unterkunft und | |
Verpflegung in Deutschland bestreiten müssen. | |
## Arbeitgeber argumentieren mit Coronaschutz | |
Die Arbeitgeber begründen ihre Forderung, die Arbeiter*innen länger | |
ohne reguläre Sozialversicherung beschäftigen zu dürfen, mit dem Schutz vor | |
Corona: Dann würden die Arbeitskräfte länger bleiben, sodass weniger | |
Menschen zwischen Deutschland sowie den Herkunftsstaaten reisten und dabei | |
womöglich das Virus weitertragen, so das Argument. | |
Gewerkschafter Schaum aber sagt: „Wenn es eine kürzere Zeit wäre, wäre das | |
Risiko noch mehr verringert.“ Tatsächlich haben sich im vergangenen Jahr | |
viele Erntehelfer*innen auf deutschen Bauernhöfen mit Corona | |
infiziert, auf denen sie meist in Mehrbettzimmern untergebracht waren und | |
wo zuweilen die Mindestabstände nicht eingehalten wurden. Ein Gemüsehof im | |
bayerischen Mamming mit 250 Fällen war laut Robert-Koch-Institut im Sommer | |
zeitweilig der größte Infektionsherd bundesweit. Eine Ukrainerin musste auf | |
der Intensivstation behandelt werden. | |
In Baden-Württemberg [2][starb] ein rumänischer Spargelstecher, nachdem er | |
sich angesteckt hatte. Der Bauernverband jedoch verweist auf „weitreichende | |
Infektions- und Arbeitsschutzmaßnahmen“. „Dass diese gewirkt haben, zeigt | |
das nur geringe Infektionsgeschehen in landwirtschaftlichen Betrieben.“ | |
Ohne die ausländischen Helfer*innen, so der Verband, können wichtige jetzt | |
anstehende Arbeiten im Betrieb und auf dem Feld nicht erledigt werden. „Das | |
gefährdet letztlich die Versorgung der Bevölkerung mit frischen | |
Lebensmitteln.“ Laut Schaum würde es aber genügend zu essen geben, wenn die | |
Bauern ihre Mitarbeiter, wie von der IG BAU gefordert, schon ab dem ersten | |
Tag gesetzlich krankenversicherten. | |
„Selbst im letzten Jahr war die Versorgung gesichert“, als bedeutend | |
weniger als die sonst üblichen 300.000 Saisonarbeitskräfte gekommen seien, | |
sagte der Gewerkschafter. Viele Betriebe hätten zum Beispiel Studenten aus | |
dem Inland eingestellt. Die Gewerkschaft sieht auch keine Gefahr, dass | |
Deutschland mehr Gemüse importieren muss, falls die hiesigen Bauern etwas | |
mehr für ihre Aushilfen zahlen müssten. Wenn ein Erntehelfer stündlich etwa | |
10 Kilogramm Spargel sticht und den Betrieb 3 Euro je Stunde mehr kostet, | |
würde das den Preis nur um 30 Cent verteuern. | |
Dennoch hat Bundesagrarministerin [3][Julia Klöckner] (CDU) die Forderung | |
nach der Verlängerung der 115-Tage-Regelung unterstützt. Dem müsste jedoch | |
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zustimmen. Sein Ministerium teilte mit, | |
jede auch nur vorübergehende Erweiterung der Zeitgrenzen sei „mit dem | |
notwendigen sozialen Schutz der Beschäftigten abzuwägen“. | |
21 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bmel.de/DE/themen/landwirtschaft/agrarsozialpolitik/saisonarbei… | |
[2] /Coronainfizierter-Erntehelfer-tot/!5676684 | |
[3] https://www.agrarheute.com/management/betriebsfuehrung/kloeckner-unterstuet… | |
## AUTOREN | |
Jost Maurin | |
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