| # taz.de -- Die Ökopartei und die Macht: Wenn die Grünen regieren | |
| > Baerbock und Co wollen nach der Wahl an die Macht. Sechs Thesen, wie sie | |
| > dahin kommen, was eine grüne Regierung ändern würde – und was nicht. | |
| Bild: Sie haben sich aus der Nische gekämpft, um hier anzukommen: das Kanzlera… | |
| Stellen wir uns ein Szenario vor, das bislang als unwahrscheinlich gilt. | |
| Annalena Baerbock wird im Dezember 2021 als erste grüne Kanzlerin der | |
| Republik vereidigt. Was würde sich ändern? | |
| Erst mal weniger, als viele denken. | |
| Flugzeuge landen weiter im Minutentakt in München oder Frankfurt, der | |
| Verkehr rauscht über Autobahnen wie eh und je, an der Beliebtheit der | |
| [1][SUVs], dieser übermotorisierten Stadtgeländewagen, ändert sich nichts. | |
| Die Menschen legen im viel zu heißen Sommer 2022 Nackensteaks aus dem | |
| Discounter auf den Holzkohlegrill, als gäbe es kein Morgen. Sie bestellen | |
| Sushi aus überfischten Meeren, das in einer absurd überdimensionierten | |
| Plastikbox nach Hause geliefert wird. Viel zu viel CO2 entweicht in die | |
| Atmosphäre, unsichtbar, aber tödlich, weil es die Erde noch mehr erhitzt. | |
| Direkt nach Baerbocks Vereidigung nehmen die Grünen ihre Amtsgeschäfte auf. | |
| Die Kanzlerin kündigt in einer Rede im Parlament eine ökologische Politik | |
| „mit Maß und Mitte“ an. Als erste Amtshandlung lässt sie auf dem Balkon d… | |
| Kanzleramts Bienenstöcke aufstellen. Ganz vorn in ihrem Sofortprogramm „Gut | |
| und grün leben“ steht ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf | |
| Autobahnen. Die meisten Deutschen bekommen von der Reform nichts mit, da | |
| auf fast allen Strecken sowieso schon eine Geschwindigkeitsbegrenzung gilt. | |
| Selbst der ADAC hat nichts dagegen. | |
| In der Sozialpolitik bleibt die neue Regierung hinter den Erwartungen der | |
| Sozialverbände zurück. Die mitregierende Union, die bei der Wahl knapp | |
| hinter den Grünen lag, verhindert eine groß angelegte Hartz-IV-Reform, auch | |
| alle Wirtschaftsverbände und wichtige KonzernchefInnen sind dagegen. Statt | |
| auf Sanktionen gegen Arbeitslose zu verzichten und eine völlig neue | |
| Grundsicherung einzuführen, wie es die Grünen im Wahlkampf verlangten, | |
| werden die Regelsätze um 30 Euro erhöht. | |
| Rufe nach mehr Geld wehrt Finanzminister und Vizekanzler Armin Laschet mit | |
| Verweis auf die „angespannte Haushaltslage“ ab. Überhaupt, das Geld fehlt | |
| überall, auch weil Grün-Schwarz an der Schuldenbremse festhält. Die | |
| Ausgaben während der Pandemie waren immens, die Wirtschaft hat sich noch | |
| nicht erholt. Und die Koalition tut sich schwer, dem Staat neue Einnahmen | |
| zu verschaffen, weil die Union eine Vermögensteuer und eine Reform des | |
| Ehegattensplittings blockiert. | |
| Grüner Lifestyle ist angesagt. Tüten und Strohhalme aus Plastik werden | |
| verboten. Fliegen wird teurer, Bahnfahren günstiger. Der ganze Stolz der | |
| neuen Regierung ist die schnelle Erhöhung des CO2-Preises auf 70 Euro pro | |
| Tonne Kohlendioxid. WissenschaftlerInnen und | |
| Fridays-for-Future-AktivistInnen fordern wegen der Dramatik der Klimakrise | |
| einen größeren Aufschlag, werden aber geflissentlich überhört. | |
| „Ökologische Reformen“, betont Baerbock, „müssen von der Mehrheit | |
| akzeptiert werden.“ Radikal zu sein heiße, realistisch zu bleiben. Die | |
| Deutschen fahren so viel Auto wie zuvor. | |
| So oder so ähnlich sähe es wohl aus, das grüne Deutschland. Was von den | |
| üblichen Verdächtigen gerne als angebliche Ökodiktatur diskreditiert wird, | |
| wäre in Wirklichkeit eine behutsame Modernisierung. Annalena Baerbock und | |
| Robert Habeck sind keine Revolutionäre, auch wenn sie bei seltener | |
| werdenden Anlässen wie welche wirken wollen. | |
| ## Eine grüne Kanzlerin ist möglich | |
| So unwahrscheinlich es klingt: Es gibt tatsächlich eine kleine Chance, dass | |
| Ende dieses Jahres eine Grüne oder ein Grüner im Kanzleramt sitzt. Die | |
| Gründe liegen in den äußeren Umständen, die für alle Parteien völlig neu | |
| sind – und in der für ihre GegnerInnen schwer angreifbaren Aufstellung der | |
| Grünen. | |
| Aber von vorn. | |
| Entscheidend ist, dass wir auf die erste Bundestagswahl [2][seit 1949] | |
| zusteuern, bei der die oder der amtierende Bundeskanzler nicht mehr | |
| antritt. Dass Merkels Ära endgültig endet, werden viele Menschen erst im | |
| Laufe der Zeit realisieren, wenn klar wird, dass jetzt dieser nette, aber | |
| unauffällige Herr Laschet die Republik regieren will, von dem man in der | |
| Coronakrise nie genau wusste, ob ihm das Wohl der ostwestfälischen | |
| Küchenindustrie wichtiger ist oder das der Menschen in Nordrhein-Westfalen. | |
| Der Amtsbonus, der ein entscheidender Faktor ist, fällt weg. Außerdem wird | |
| die von Merz gebeutelte, innerlich zerrissene CDU Zeit brauchen, um sich zu | |
| sortieren und ihren Wahlkampf auf den neuen Kandidaten zuzuschneiden. | |
| Von alldem profitieren am ehesten die Grünen. Sie sind die politische | |
| Kraft, die für die ökoaffine, bürgerliche Mitte attraktiv ist. Die CDU kann | |
| sich glücklich schätzen, dass ihr mit Merz ein Chef mit mangelnder | |
| Affektkontrolle erspart geblieben ist, aber eine Frage bleibt: Wen wählen | |
| Leute, die Merkel gut, die CDU aber altbacken finden? Den Bergmannssohn | |
| Laschet? Oder doch Habeck oder Baerbock? | |
| Man weiß es nicht, und wichtige Landtagswahlen, etwa in Bayern oder Hessen, | |
| haben gezeigt, wie stark die Grünen im konservativen Revier zu wildern | |
| vermögen. Markus Söder, der seither Bäume umarmt, hat das verstanden. | |
| Der Effekt für die Zukunft des Landes ist nicht zu unterschätzen, auch wenn | |
| die Grünen verlieren. Sie zwingen die träge Union, endlich in einen | |
| ernsthaften Wettbewerb um besseren Klimaschutz einzutreten. | |
| Noch etwas spielt den Grünen in die Karten. Die politische Lage ist so | |
| volatil wie schon lange nicht mehr. Die Gunst der WählerInnen ist flüchtig, | |
| alles kann sich schnell ändern. Heute liegen CDU und CSU in [3][Umfragen] | |
| 13 bis 18 Prozentpunkte vor den Grünen. | |
| Man vergisst es so schnell, aber vor eineinhalb Jahren waren beide beinahe | |
| gleichauf, irgendwo in den guten Zwanzigern. Immer mehr Menschen | |
| akzeptieren, dass die Klimakrise die große Menschheitsaufgabe im 21. | |
| Jahrhundert ist. Für den Wettbewerb um die besten Rezepte dagegen sind die | |
| Grünen gut gewappnet, sie sind die Partei, der die BürgerInnen am ehesten | |
| engagierten Klimaschutz zutrauen. | |
| Es ist also möglich, dass die Grünen in Umfragen wieder näher an die Union | |
| heranrücken. Und auch ein anderes Szenario mit den Grünen als stärkstem | |
| Koalitionspartner ist nicht ausgeschlossen. Führende Parteimitglieder | |
| beteuern, dass sie auch ein Mitte-links-Bündnis eingehen würden, wenn die | |
| Mehrheit da wäre. Für die Grünen und das Kanzleramt gilt deshalb: Sag | |
| niemals nie. | |
| ## Grüne Themen zählen mehr denn je | |
| Es mag zynisch klingen, aber die Grünen sind gerade wegen der drohenden | |
| Katastrophe vom Glück geküsst. Das Klima, ihr Herzensanliegen, ist zum | |
| alles überwölbenden Thema geworden. Vieles, was früher im Verdacht stand, | |
| postmaterialistisch zu sein, ist längst eine harte Währung. Natur- und | |
| Klimaschutz sowieso, aber auch Diversität und Teilhabe. Oder die Idee, dass | |
| es wieder ein menschliches Maß in der allgegenwärtigen Verwertungslogik | |
| geben müsse. | |
| China, ein wichtiger Absatzmarkt für deutsche Autofirmen, hat große | |
| Spritfresser verboten und eine Produktionsquote für Elektroautos | |
| eingeführt. VW, Daimler oder BMW müssen stärker auf emissionsfreie Antriebe | |
| setzen, wenn sie nicht ins Hintertreffen geraten wollen. Sie tun es längst | |
| so schnell und konsequent, dass sich die grüne Beschlusslage, ab 2030 nur | |
| noch emissionsfreie Neuwagen zuzulassen, beinahe von allein erfüllt. | |
| Ähnlich ist es in anderen Wirtschaftszweigen und bei anderen Themen. | |
| Die meisten Unternehmen haben verstanden, dass sie grün produzieren müssen, | |
| wenn sie eine Zukunft haben wollen. Klimaschutz wird zum ökonomischen | |
| Marktvorteil. Umgekehrt suchen die Grünen die Nähe zu den Firmen, nicht die | |
| Konfrontation. Sie wollen mit Wasserstoff produzierten Stahl nicht gegen | |
| den Willen von Thyssenkrupp durchsetzen, sondern zusammen mit den | |
| KonzernchefInnen und Gewerkschaftern. | |
| Auch um andere Themen, die die Grünen früh exklusiv beackerten, kommt der | |
| Mainstream heute nicht mehr herum. Welcher CEO eines DAX-Konzerns würde | |
| noch abstreiten, dass Teams besser funktionieren, wenn vielfältige | |
| Sichtweisen vertreten sind? Wenn also Frauen dabei sind, BIPOC, Junge und | |
| Alte? Wer würde in Abrede stellen, dass man sich stärker um die | |
| Vereinbarkeit von Arbeit und Familie kümmern muss? Dass Beschäftigte sich | |
| eine flexiblere Zeitpolitik wünschen? | |
| Anders als CDU und CSU denken die Grünen seit Jahren über solche Fragen | |
| nach. Sie haben gegenüber der Union einen intellektuellen Vorsprung. Das | |
| ist in einer Zeit, in der die ehemaligen Volksparteien ratlos und | |
| überfordert wirken, sehr hilfreich. | |
| Wichtig ist auch, wie sich die Coronalage bis zum Spätsommer entwickelt. | |
| Bei der Bewältigung dieser Krise kommen die Grünen kaum vor. Sie haben | |
| keine größeren Einwände gegen Merkels Kurs und verlegen sich – die | |
| Regierungsbeteiligung schon im Kopf – auf Applaus und Detailkritik. Je | |
| weniger die Pandemie den Wahlkampf dominiert, desto besser für die Grünen. | |
| ## Barack Obama ist das Vorbild | |
| Die Grünen verfolgen im Spannungsverhältnis zwischen physikalischer | |
| Realität der Klimakrise und dem politisch Machbaren eine kluge Strategie: | |
| Sie versuchen, die Geschichte einer guten Zukunft zu erzählen. Keine, die | |
| abschreckt oder verstört, sondern eine, die hoffen lässt – und auf die sich | |
| das aufgeklärte Bürgertum von konservativ bis linksliberal einigen kann. | |
| Mit einer einladenden Sprache setzen Annalena Baerbock und Robert Habeck | |
| der allgemeinen Empörungsbereitschaft einen republikanischen | |
| Mach-mit-Pragmatismus entgegen. Die Grünen tragen ihre Ideen so geschlossen | |
| vor, dass führende CDUler neidisch sind. Und sie adressieren die ganze | |
| Gesellschaft, reklamieren also offensiv Hegemoniefähigkeit für sich. Das | |
| hat Chuzpe und wirkt manchmal etwas bemüht, aber ohne große Klappe wird man | |
| in der Politik nichts. Manchmal funktioniert sie wie eine sich selbst | |
| erfüllende Prophezeiung. | |
| In Robert Habecks 2010 erschienenem Buch „Patriotismus. Ein linkes | |
| Plädoyer“ kann man nachlesen, von wem das inspiriert ist. „Obama kombiniert | |
| scheinbar Widersprüchliches: Pathos und Unangepasstheit“, schreibt Habeck | |
| da, beeindruckt vom Wahlkampf des damaligen US-Präsidenten. „Den Geist der | |
| Veränderung nicht zu einer Frontstellung aufzubauen, sondern zu einem | |
| Gemeinschaftswerk, das irritiert die Erwartungen, und genau damit schafft | |
| er den Schritt aus Griesgrämigkeit und Rückzugsszenarien heraus.“ | |
| Habeck und Baerbock nutzen Pathos in einem für Deutsche gerade noch | |
| erträglichen Maß, der eine mehr als die andere. Auch der Gedanke, | |
| Widersprüchliches zu vereinen, zieht sich durch. Die Grünen wollen radikal | |
| und staatstragend zugleich sein, die demokratischen Institutionen schützen, | |
| sie aber auch verändern. Obama verfolgte einen moderaten Mitte-links-Kurs, | |
| was ihm von manchen Linken vorgeworfen wurde. Als er 2009 an die Macht kam | |
| und die Verwerfungen der Finanzkrise eindämmen musste, ging er große | |
| Schritte auf die Republikaner, die vermeintlichen Gegner, zu. | |
| ## Sie gehen über die Schmerzgrenze | |
| Auch die Grünen gehen bei der Kompromissfindung manchmal über die eigene | |
| Schmerzgrenze hinaus. Als die CDU-Fraktion in Sachsen-Anhalt im Alleingang | |
| eine Gebührenerhöhung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verhinderte | |
| und damit einen Herzenswunsch der AfD durchsetzte, hätten die Grünen | |
| eigentlich aus der Regierung austreten müssen. Sie blieben zähneknirschend, | |
| weil sie eine Staatskrise vermeiden wollten. Angesichts der sich | |
| zuspitzenden Coronalage habe man eine Verantwortung, hieß es damals in der | |
| Bundespartei. Und: Man dürfe die CDU nicht in eine Minderheitsregierung mit | |
| der AfD treiben. | |
| Die Anekdote aus dem kleinen Landesverband steht pars pro toto. Auch Habeck | |
| und Baerbock ticken zentristisch, auch sie versuchen, die Gesellschaft | |
| zusammenzuhalten. Angesichts dieser Seriösität – und angesichts von elf | |
| Regierungsbeteiligungen in Bundesländern – wirkt es unfreiwillig komisch, | |
| dass liberalkonservative Vordenker nach wie vor suggerieren, man dürfe den | |
| Grünen das Land nicht anvertrauen. | |
| Die Frage ist: Glaubt die Bio kaufende Merkel-Wählerin, dass die nette Frau | |
| Baerbock eine Gefahr für Deutschland ist? Meine These ist: Nein, tut sie | |
| nicht. Stattdessen fragt sie sich, aus welcher Realität diejenigen, die das | |
| behaupten, zu ihr sprechen. | |
| In seinem neuen Buch wägt Habeck den Gedanken, wie man Mitte und | |
| gleichzeitig vorn sein kann. Gelänge den Grünen das, wäre es etwas | |
| grundsätzlich Neues. Ein Charakteristikum der Ära Merkel war ja, dass sie | |
| die Dinge gerne laufen ließ. Nur in Krisen rang sie sich zu dringend | |
| nötigen Veränderungen durch, siehe Fukushima oder Corona. Baerbock und | |
| Habeck sagen, sie wollten proaktiv vor Krisen handeln, statt ihnen | |
| hinterherzuhecheln, auch deshalb haben sie den Gedanken der Vorsorge im | |
| grünen Grundsatzprogramm so stark gemacht. | |
| Ob das angesichts des Beharrungsvermögens einer komplexen Gesellschaft | |
| gelingt, ist eine offene Frage. Aber falsch ist der Ansatz vor dem | |
| Hintergrund gleichzeitig eskalierender Krisen nicht. | |
| ## Die Grünen können Ambivalenz | |
| Entscheidend ist auch ihr versöhnlicher Gestus. Die Grünen von heute sind | |
| keine Partei der Besserwisser mehr. Stattdessen akzeptieren sie die | |
| Ambivalenzen des modernen Individuums auf eine fast schon penetrant | |
| empathische Weise. Nicht nur, dass Robert Habeck und Annalena Baerbock bei | |
| jeder Gelegenheit betonen, dass nicht dem Einzelnen die Verantwortung für | |
| Klimaschutz aufgebürdet werden darf, sondern dass die Politik einen neuen | |
| Rahmen setzen muss. | |
| Auch habituell machen sie vieles richtig. Der Philosoph Habeck sagt zu | |
| seinem Redetalent, er „sabbele halt in Mikros“ rein, und erwähnt beiläufi… | |
| Dosenbier zu trinken oder bei Aldi einzukaufen. Die bei Hannover geborene | |
| Baerbock trägt im bayerischen Bierzelt mit einer Selbstverständlichkeit | |
| Dirndl, als sei sie als Kind über Almwiesen gehüpft. Keine Predigten mehr, | |
| keine Zeigefinger, stattdessen Bescheidenheit und eine einfache Botschaft: | |
| Alle sind bei uns willkommen. | |
| Damit kopieren die Grünen ein Konzept, das Konservative lange exklusiv zu | |
| haben glaubten. Adenauers Satz, man müsse die Menschen nehmen, wie sie | |
| sind, denn andere gebe es nicht, haben die Grünen von heute verinnerlicht. | |
| An ihnen perlt das von ihren Gegnern bemühte Uralt-Klischee ab, Grüne seien | |
| verklemmte Ökopietisten, die den Deutschen ihren Lebensstil aufdrücken | |
| wollen. | |
| Anders gesagt: Christian Lindner muss sich etwas Neues ausdenken, er weiß | |
| es nur noch nicht. | |
| ## Grüne Politik wird nicht reichen | |
| Allerdings haben die Grünen eine offene Flanke. Seit 1972 steht die These | |
| im Raum, dass die Menschen nicht immer mehr konsumieren können, ohne den | |
| Planeten zu zerstören. Die Studie „Die Grenzen des Wachstums“ des Ökonomen | |
| Dennis Meadows wies nach, dass bei fortschreitendem Bevölkerungs- und | |
| Wirtschaftswachstum die Weltwirtschaft noch vor dem Jahr 2100 | |
| zusammenbricht, weil Rohstoffe und Nahrung knapp werden und die Umwelt | |
| verwüstet ist. Bisher liegt Meadows im Großen und Ganzen leider richtig. | |
| Was tun? Die Grünen beantworten die Wachstumsfrage mit einem optimistischen | |
| Narrativ. Sie wollen das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch und | |
| vom CO2-Ausstoß entkoppeln. Grünes Wachstum, nachhaltiges oder qualitatives | |
| Wachstum sind die dafür bekannten Schlagworte. Das Narrativ ist | |
| verführerisch, weil es im Kern bedeutet, dass die Deutschen in der sich | |
| zuspitzenden Klimakrise so weitermachen könnten wie bisher. | |
| Fleisch essen ist okay, aber von glücklichen Biorindern aus artgerechter | |
| Haltung. Autofahren auch, nur eben elektrisch. Fliegen geht ebenfalls, aber | |
| klimaneutral, mit synthetisch hergestellten Kraftstoffen. Überschüssiges | |
| CO2 holen wir einfach mit einer noch nicht ausgereiften Technik aus der | |
| Atmosphäre. Kurz: Technologiesprünge werden die Welt vor dem Klimakollaps | |
| retten – und Wohlstand für alle garantieren. | |
| Das Problem ist nur: Es gibt Zweifel, dass diese Story stimmt. Der | |
| weltweite CO2-Ausstoß steigt von Jahr zu Jahr, trotz großer Fortschritte | |
| bei ökologischen Technologien. Und für die These, dass sich Wachstum vom | |
| Ressourcenverbrauch entkoppeln lässt, fehlt bisher ein Beleg. | |
| Ob es die Messungen für Rohstoffextraktion, Entwaldung, Verlust von | |
| Biodiversität oder Plastikmüll sind: Überall zeigten die Kurven nach oben | |
| wie ein Hockeyschläger, schreibt die Ökonomin Maja Göpel in ihrem Buch „Die | |
| Welt neu denken“. Sie fordert, das Wachstumsparadigma zu hinterfragen. | |
| „Solange die Menschheit an der Vorstellung festhält, dass wirtschaftlich | |
| immer mehr produziert werden muss, wird jeder Fortschritt, den sie an der | |
| einen Stelle für sich und die Umwelt erreicht, an einer anderen Stelle mehr | |
| als zunichtegemacht.“ | |
| Ein Grund ist der in der Politik unterbelichtete Rebound-Effekt. Jener | |
| besagt, dass Effizienzsteigerungen durch mehr Konsum konterkariert werden. | |
| Wer sich ein spritsparendes Automodell kauft, gönnt sich mit dem gesparten | |
| Geld vielleicht eine Flugreise nach Mallorca – oder fährt weitere Strecken. | |
| Ökologisch orientierte Politik müsste unser westliches Wohlstandsmodell | |
| deshalb radikaler hinterfragen, als die Grünen es tun. Ist Fleisch essen, | |
| im weltweiten Maßstab gedacht, angesichts der ökologischen und ethischen | |
| Probleme überhaupt vertretbar? Können wir munter überallhin fliegen wie | |
| bisher? Ist das E-Auto, zwei Tonnen Stahl für einen Menschen, wirklich die | |
| Lösung? | |
| Solche Fragen tippen die Grünen an, stellen sie aber nicht in letzter | |
| Konsequenz. Sie fürchten den Liebesentzug der WählerInnen. Unendliches | |
| Wachstum wird von WissenschaftlerInnen in Frage gestellt, aber von keiner | |
| einzigen Partei in Deutschland. | |
| Durch ihr Veggieday-Trauma haben die Grünen gelernt, dass es in Deutschland | |
| hart bestraft wird, lieb gewonnene Konsumgewohnheiten zu hinterfragen. Sie | |
| wissen, dass sie von der Bild, der FAZ oder der Welt als Degrowth-Schrate | |
| bezeichnet würden, die sich ein Deutschland voller Waldhütten wünschen. Das | |
| Letzte aber, wohin die Grünen wollen, ist die Nische. Aus der haben sie | |
| sich ja 40 Jahre lang rausgekämpft. | |
| Eine bittere Wahrheit lautet deshalb, dass grüne Politik wahrscheinlich | |
| nicht ausreicht, um die eskalierenden ökologischen Krisen – es sind ja | |
| mehrere – in den Griff zu kriegen. Aber dieses Dilemma nimmt nur eine | |
| Fachöffentlichkeit zur Kenntnis oder die wissenschaftlich versierten | |
| AktivistInnen von Fridays for Future. Für die Mehrheitsgesellschaft | |
| funktioniert das Narrativ des grünen Wachstums perfekt. Klimaschutz, ohne | |
| Verzicht zu üben, wer will das nicht. | |
| Damit wären wir wieder bei unserem Szenario einer grün geführten Regierung. | |
| Der unaufgeregte, nüchterne Stil Baerbocks kommt gut an bei den Deutschen. | |
| Ihr nächster Bundestagswahlkampf steht unter dem wolkigen, aber in Tests | |
| für gut befundenen Motto: „Für ein gutes Morgen“. CDU-Herausforderer Jens | |
| Spahn, der den glücklosen Laschet längst an der Parteispitze abgelöst hat, | |
| wirke „im Vergleich zu ihr beinahe wie ein Leichtgewicht“, schreibt die | |
| FAZ. Ende 2025 beginnt die zweite Amtszeit der grünen Kanzlerin. | |
| Ulrich Schulte ist Leiter des Parlamentsbüros der taz. Am 26. Januar | |
| erscheint sein Buch „[4][Die grüne Macht]. Wie die Ökopartei das Land | |
| verändern will“ im Rowohlt Verlag. 224 Seiten, 16 Euro. | |
| 23 Jan 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Noch-mehr-klimaschaedliche-Pkws/!5650289 | |
| [2] https://www.bpb.de/politik/wahlen/bundestagswahlen/62559/bundestagswahlen-1… | |
| [3] https://www.wahlrecht.de/umfragen/ | |
| [4] https://www.rowohlt.de/buch/ulrich-schulte-die-gruene-macht-9783499005527 | |
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| Ulrich Schulte | |
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