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# taz.de -- Die Ökopartei und die Macht: Wenn die Grünen regieren
> Baerbock und Co wollen nach der Wahl an die Macht. Sechs Thesen, wie sie
> dahin kommen, was eine grüne Regierung ändern würde – und was nicht.
Bild: Sie haben sich aus der Nische gekämpft, um hier anzukommen: das Kanzlera…
Stellen wir uns ein Szenario vor, das bislang als unwahrscheinlich gilt.
Annalena Baerbock wird im Dezember 2021 als erste grüne Kanzlerin der
Republik vereidigt. Was würde sich ändern?
Erst mal weniger, als viele denken.
Flugzeuge landen weiter im Minutentakt in München oder Frankfurt, der
Verkehr rauscht über Autobahnen wie eh und je, an der Beliebtheit der
[1][SUVs], dieser übermotorisierten Stadtgeländewagen, ändert sich nichts.
Die Menschen legen im viel zu heißen Sommer 2022 Nackensteaks aus dem
Discounter auf den Holzkohlegrill, als gäbe es kein Morgen. Sie bestellen
Sushi aus überfischten Meeren, das in einer absurd überdimensionierten
Plastikbox nach Hause geliefert wird. Viel zu viel CO2 entweicht in die
Atmosphäre, unsichtbar, aber tödlich, weil es die Erde noch mehr erhitzt.
Direkt nach Baerbocks Vereidigung nehmen die Grünen ihre Amtsgeschäfte auf.
Die Kanzlerin kündigt in einer Rede im Parlament eine ökologische Politik
„mit Maß und Mitte“ an. Als erste Amtshandlung lässt sie auf dem Balkon d…
Kanzleramts Bienenstöcke aufstellen. Ganz vorn in ihrem Sofortprogramm „Gut
und grün leben“ steht ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf
Autobahnen. Die meisten Deutschen bekommen von der Reform nichts mit, da
auf fast allen Strecken sowieso schon eine Geschwindigkeitsbegrenzung gilt.
Selbst der ADAC hat nichts dagegen.
In der Sozialpolitik bleibt die neue Regierung hinter den Erwartungen der
Sozialverbände zurück. Die mitregierende Union, die bei der Wahl knapp
hinter den Grünen lag, verhindert eine groß angelegte Hartz-IV-Reform, auch
alle Wirtschaftsverbände und wichtige KonzernchefInnen sind dagegen. Statt
auf Sanktionen gegen Arbeitslose zu verzichten und eine völlig neue
Grundsicherung einzuführen, wie es die Grünen im Wahlkampf verlangten,
werden die Regelsätze um 30 Euro erhöht.
Rufe nach mehr Geld wehrt Finanzminister und Vizekanzler Armin Laschet mit
Verweis auf die „angespannte Haushaltslage“ ab. Überhaupt, das Geld fehlt
überall, auch weil Grün-Schwarz an der Schuldenbremse festhält. Die
Ausgaben während der Pandemie waren immens, die Wirtschaft hat sich noch
nicht erholt. Und die Koalition tut sich schwer, dem Staat neue Einnahmen
zu verschaffen, weil die Union eine Vermögensteuer und eine Reform des
Ehegattensplittings blockiert.
Grüner Lifestyle ist angesagt. Tüten und Strohhalme aus Plastik werden
verboten. Fliegen wird teurer, Bahnfahren günstiger. Der ganze Stolz der
neuen Regierung ist die schnelle Erhöhung des CO2-Preises auf 70 Euro pro
Tonne Kohlendioxid. WissenschaftlerInnen und
Fridays-for-Future-AktivistInnen fordern wegen der Dramatik der Klimakrise
einen größeren Aufschlag, werden aber geflissentlich überhört.
„Ökologische Reformen“, betont Baerbock, „müssen von der Mehrheit
akzeptiert werden.“ Radikal zu sein heiße, realistisch zu bleiben. Die
Deutschen fahren so viel Auto wie zuvor.
So oder so ähnlich sähe es wohl aus, das grüne Deutschland. Was von den
üblichen Verdächtigen gerne als angebliche Ökodiktatur diskreditiert wird,
wäre in Wirklichkeit eine behutsame Modernisierung. Annalena Baerbock und
Robert Habeck sind keine Revolutionäre, auch wenn sie bei seltener
werdenden Anlässen wie welche wirken wollen.
## Eine grüne Kanzlerin ist möglich
So unwahrscheinlich es klingt: Es gibt tatsächlich eine kleine Chance, dass
Ende dieses Jahres eine Grüne oder ein Grüner im Kanzleramt sitzt. Die
Gründe liegen in den äußeren Umständen, die für alle Parteien völlig neu
sind – und in der für ihre GegnerInnen schwer angreifbaren Aufstellung der
Grünen.
Aber von vorn.
Entscheidend ist, dass wir auf die erste Bundestagswahl [2][seit 1949]
zusteuern, bei der die oder der amtierende Bundeskanzler nicht mehr
antritt. Dass Merkels Ära endgültig endet, werden viele Menschen erst im
Laufe der Zeit realisieren, wenn klar wird, dass jetzt dieser nette, aber
unauffällige Herr Laschet die Republik regieren will, von dem man in der
Coronakrise nie genau wusste, ob ihm das Wohl der ostwestfälischen
Küchenindustrie wichtiger ist oder das der Menschen in Nordrhein-Westfalen.
Der Amtsbonus, der ein entscheidender Faktor ist, fällt weg. Außerdem wird
die von Merz gebeutelte, innerlich zerrissene CDU Zeit brauchen, um sich zu
sortieren und ihren Wahlkampf auf den neuen Kandidaten zuzuschneiden.
Von alldem profitieren am ehesten die Grünen. Sie sind die politische
Kraft, die für die ökoaffine, bürgerliche Mitte attraktiv ist. Die CDU kann
sich glücklich schätzen, dass ihr mit Merz ein Chef mit mangelnder
Affektkontrolle erspart geblieben ist, aber eine Frage bleibt: Wen wählen
Leute, die Merkel gut, die CDU aber altbacken finden? Den Bergmannssohn
Laschet? Oder doch Habeck oder Baerbock?
Man weiß es nicht, und wichtige Landtagswahlen, etwa in Bayern oder Hessen,
haben gezeigt, wie stark die Grünen im konservativen Revier zu wildern
vermögen. Markus Söder, der seither Bäume umarmt, hat das verstanden.
Der Effekt für die Zukunft des Landes ist nicht zu unterschätzen, auch wenn
die Grünen verlieren. Sie zwingen die träge Union, endlich in einen
ernsthaften Wettbewerb um besseren Klimaschutz einzutreten.
Noch etwas spielt den Grünen in die Karten. Die politische Lage ist so
volatil wie schon lange nicht mehr. Die Gunst der WählerInnen ist flüchtig,
alles kann sich schnell ändern. Heute liegen CDU und CSU in [3][Umfragen]
13 bis 18 Prozentpunkte vor den Grünen.
Man vergisst es so schnell, aber vor eineinhalb Jahren waren beide beinahe
gleichauf, irgendwo in den guten Zwanzigern. Immer mehr Menschen
akzeptieren, dass die Klimakrise die große Menschheitsaufgabe im 21.
Jahrhundert ist. Für den Wettbewerb um die besten Rezepte dagegen sind die
Grünen gut gewappnet, sie sind die Partei, der die BürgerInnen am ehesten
engagierten Klimaschutz zutrauen.
Es ist also möglich, dass die Grünen in Umfragen wieder näher an die Union
heranrücken. Und auch ein anderes Szenario mit den Grünen als stärkstem
Koalitionspartner ist nicht ausgeschlossen. Führende Parteimitglieder
beteuern, dass sie auch ein Mitte-links-Bündnis eingehen würden, wenn die
Mehrheit da wäre. Für die Grünen und das Kanzleramt gilt deshalb: Sag
niemals nie.
## Grüne Themen zählen mehr denn je
Es mag zynisch klingen, aber die Grünen sind gerade wegen der drohenden
Katastrophe vom Glück geküsst. Das Klima, ihr Herzensanliegen, ist zum
alles überwölbenden Thema geworden. Vieles, was früher im Verdacht stand,
postmaterialistisch zu sein, ist längst eine harte Währung. Natur- und
Klimaschutz sowieso, aber auch Diversität und Teilhabe. Oder die Idee, dass
es wieder ein menschliches Maß in der allgegenwärtigen Verwertungslogik
geben müsse.
China, ein wichtiger Absatzmarkt für deutsche Autofirmen, hat große
Spritfresser verboten und eine Produktionsquote für Elektroautos
eingeführt. VW, Daimler oder BMW müssen stärker auf emissionsfreie Antriebe
setzen, wenn sie nicht ins Hintertreffen geraten wollen. Sie tun es längst
so schnell und konsequent, dass sich die grüne Beschlusslage, ab 2030 nur
noch emissionsfreie Neuwagen zuzulassen, beinahe von allein erfüllt.
Ähnlich ist es in anderen Wirtschaftszweigen und bei anderen Themen.
Die meisten Unternehmen haben verstanden, dass sie grün produzieren müssen,
wenn sie eine Zukunft haben wollen. Klimaschutz wird zum ökonomischen
Marktvorteil. Umgekehrt suchen die Grünen die Nähe zu den Firmen, nicht die
Konfrontation. Sie wollen mit Wasserstoff produzierten Stahl nicht gegen
den Willen von Thyssenkrupp durchsetzen, sondern zusammen mit den
KonzernchefInnen und Gewerkschaftern.
Auch um andere Themen, die die Grünen früh exklusiv beackerten, kommt der
Mainstream heute nicht mehr herum. Welcher CEO eines DAX-Konzerns würde
noch abstreiten, dass Teams besser funktionieren, wenn vielfältige
Sichtweisen vertreten sind? Wenn also Frauen dabei sind, BIPOC, Junge und
Alte? Wer würde in Abrede stellen, dass man sich stärker um die
Vereinbarkeit von Arbeit und Familie kümmern muss? Dass Beschäftigte sich
eine flexiblere Zeitpolitik wünschen?
Anders als CDU und CSU denken die Grünen seit Jahren über solche Fragen
nach. Sie haben gegenüber der Union einen intellektuellen Vorsprung. Das
ist in einer Zeit, in der die ehemaligen Volksparteien ratlos und
überfordert wirken, sehr hilfreich.
Wichtig ist auch, wie sich die Coronalage bis zum Spätsommer entwickelt.
Bei der Bewältigung dieser Krise kommen die Grünen kaum vor. Sie haben
keine größeren Einwände gegen Merkels Kurs und verlegen sich – die
Regierungsbeteiligung schon im Kopf – auf Applaus und Detailkritik. Je
weniger die Pandemie den Wahlkampf dominiert, desto besser für die Grünen.
## Barack Obama ist das Vorbild
Die Grünen verfolgen im Spannungsverhältnis zwischen physikalischer
Realität der Klimakrise und dem politisch Machbaren eine kluge Strategie:
Sie versuchen, die Geschichte einer guten Zukunft zu erzählen. Keine, die
abschreckt oder verstört, sondern eine, die hoffen lässt – und auf die sich
das aufgeklärte Bürgertum von konservativ bis linksliberal einigen kann.
Mit einer einladenden Sprache setzen Annalena Baerbock und Robert Habeck
der allgemeinen Empörungsbereitschaft einen republikanischen
Mach-mit-Pragmatismus entgegen. Die Grünen tragen ihre Ideen so geschlossen
vor, dass führende CDUler neidisch sind. Und sie adressieren die ganze
Gesellschaft, reklamieren also offensiv Hegemoniefähigkeit für sich. Das
hat Chuzpe und wirkt manchmal etwas bemüht, aber ohne große Klappe wird man
in der Politik nichts. Manchmal funktioniert sie wie eine sich selbst
erfüllende Prophezeiung.
In Robert Habecks 2010 erschienenem Buch „Patriotismus. Ein linkes
Plädoyer“ kann man nachlesen, von wem das inspiriert ist. „Obama kombiniert
scheinbar Widersprüchliches: Pathos und Unangepasstheit“, schreibt Habeck
da, beeindruckt vom Wahlkampf des damaligen US-Präsidenten. „Den Geist der
Veränderung nicht zu einer Frontstellung aufzubauen, sondern zu einem
Gemeinschaftswerk, das irritiert die Erwartungen, und genau damit schafft
er den Schritt aus Griesgrämigkeit und Rückzugsszenarien heraus.“
Habeck und Baerbock nutzen Pathos in einem für Deutsche gerade noch
erträglichen Maß, der eine mehr als die andere. Auch der Gedanke,
Widersprüchliches zu vereinen, zieht sich durch. Die Grünen wollen radikal
und staatstragend zugleich sein, die demokratischen Institutionen schützen,
sie aber auch verändern. Obama verfolgte einen moderaten Mitte-links-Kurs,
was ihm von manchen Linken vorgeworfen wurde. Als er 2009 an die Macht kam
und die Verwerfungen der Finanzkrise eindämmen musste, ging er große
Schritte auf die Republikaner, die vermeintlichen Gegner, zu.
## Sie gehen über die Schmerzgrenze
Auch die Grünen gehen bei der Kompromissfindung manchmal über die eigene
Schmerzgrenze hinaus. Als die CDU-Fraktion in Sachsen-Anhalt im Alleingang
eine Gebührenerhöhung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verhinderte
und damit einen Herzenswunsch der AfD durchsetzte, hätten die Grünen
eigentlich aus der Regierung austreten müssen. Sie blieben zähneknirschend,
weil sie eine Staatskrise vermeiden wollten. Angesichts der sich
zuspitzenden Coronalage habe man eine Verantwortung, hieß es damals in der
Bundespartei. Und: Man dürfe die CDU nicht in eine Minderheitsregierung mit
der AfD treiben.
Die Anekdote aus dem kleinen Landesverband steht pars pro toto. Auch Habeck
und Baerbock ticken zentristisch, auch sie versuchen, die Gesellschaft
zusammenzuhalten. Angesichts dieser Seriösität – und angesichts von elf
Regierungsbeteiligungen in Bundesländern – wirkt es unfreiwillig komisch,
dass liberalkonservative Vordenker nach wie vor suggerieren, man dürfe den
Grünen das Land nicht anvertrauen.
Die Frage ist: Glaubt die Bio kaufende Merkel-Wählerin, dass die nette Frau
Baerbock eine Gefahr für Deutschland ist? Meine These ist: Nein, tut sie
nicht. Stattdessen fragt sie sich, aus welcher Realität diejenigen, die das
behaupten, zu ihr sprechen.
In seinem neuen Buch wägt Habeck den Gedanken, wie man Mitte und
gleichzeitig vorn sein kann. Gelänge den Grünen das, wäre es etwas
grundsätzlich Neues. Ein Charakteristikum der Ära Merkel war ja, dass sie
die Dinge gerne laufen ließ. Nur in Krisen rang sie sich zu dringend
nötigen Veränderungen durch, siehe Fukushima oder Corona. Baerbock und
Habeck sagen, sie wollten proaktiv vor Krisen handeln, statt ihnen
hinterherzuhecheln, auch deshalb haben sie den Gedanken der Vorsorge im
grünen Grundsatzprogramm so stark gemacht.
Ob das angesichts des Beharrungsvermögens einer komplexen Gesellschaft
gelingt, ist eine offene Frage. Aber falsch ist der Ansatz vor dem
Hintergrund gleichzeitig eskalierender Krisen nicht.
## Die Grünen können Ambivalenz
Entscheidend ist auch ihr versöhnlicher Gestus. Die Grünen von heute sind
keine Partei der Besserwisser mehr. Stattdessen akzeptieren sie die
Ambivalenzen des modernen Individuums auf eine fast schon penetrant
empathische Weise. Nicht nur, dass Robert Habeck und Annalena Baerbock bei
jeder Gelegenheit betonen, dass nicht dem Einzelnen die Verantwortung für
Klimaschutz aufgebürdet werden darf, sondern dass die Politik einen neuen
Rahmen setzen muss.
Auch habituell machen sie vieles richtig. Der Philosoph Habeck sagt zu
seinem Redetalent, er „sabbele halt in Mikros“ rein, und erwähnt beiläufi…
Dosenbier zu trinken oder bei Aldi einzukaufen. Die bei Hannover geborene
Baerbock trägt im bayerischen Bierzelt mit einer Selbstverständlichkeit
Dirndl, als sei sie als Kind über Almwiesen gehüpft. Keine Predigten mehr,
keine Zeigefinger, stattdessen Bescheidenheit und eine einfache Botschaft:
Alle sind bei uns willkommen.
Damit kopieren die Grünen ein Konzept, das Konservative lange exklusiv zu
haben glaubten. Adenauers Satz, man müsse die Menschen nehmen, wie sie
sind, denn andere gebe es nicht, haben die Grünen von heute verinnerlicht.
An ihnen perlt das von ihren Gegnern bemühte Uralt-Klischee ab, Grüne seien
verklemmte Ökopietisten, die den Deutschen ihren Lebensstil aufdrücken
wollen.
Anders gesagt: Christian Lindner muss sich etwas Neues ausdenken, er weiß
es nur noch nicht.
## Grüne Politik wird nicht reichen
Allerdings haben die Grünen eine offene Flanke. Seit 1972 steht die These
im Raum, dass die Menschen nicht immer mehr konsumieren können, ohne den
Planeten zu zerstören. Die Studie „Die Grenzen des Wachstums“ des Ökonomen
Dennis Meadows wies nach, dass bei fortschreitendem Bevölkerungs- und
Wirtschaftswachstum die Weltwirtschaft noch vor dem Jahr 2100
zusammenbricht, weil Rohstoffe und Nahrung knapp werden und die Umwelt
verwüstet ist. Bisher liegt Meadows im Großen und Ganzen leider richtig.
Was tun? Die Grünen beantworten die Wachstumsfrage mit einem optimistischen
Narrativ. Sie wollen das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch und
vom CO2-Ausstoß entkoppeln. Grünes Wachstum, nachhaltiges oder qualitatives
Wachstum sind die dafür bekannten Schlagworte. Das Narrativ ist
verführerisch, weil es im Kern bedeutet, dass die Deutschen in der sich
zuspitzenden Klimakrise so weitermachen könnten wie bisher.
Fleisch essen ist okay, aber von glücklichen Biorindern aus artgerechter
Haltung. Autofahren auch, nur eben elektrisch. Fliegen geht ebenfalls, aber
klimaneutral, mit synthetisch hergestellten Kraftstoffen. Überschüssiges
CO2 holen wir einfach mit einer noch nicht ausgereiften Technik aus der
Atmosphäre. Kurz: Technologiesprünge werden die Welt vor dem Klimakollaps
retten – und Wohlstand für alle garantieren.
Das Problem ist nur: Es gibt Zweifel, dass diese Story stimmt. Der
weltweite CO2-Ausstoß steigt von Jahr zu Jahr, trotz großer Fortschritte
bei ökologischen Technologien. Und für die These, dass sich Wachstum vom
Ressourcenverbrauch entkoppeln lässt, fehlt bisher ein Beleg.
Ob es die Messungen für Rohstoffextraktion, Entwaldung, Verlust von
Biodiversität oder Plastikmüll sind: Überall zeigten die Kurven nach oben
wie ein Hockeyschläger, schreibt die Ökonomin Maja Göpel in ihrem Buch „Die
Welt neu denken“. Sie fordert, das Wachstumsparadigma zu hinterfragen.
„Solange die Menschheit an der Vorstellung festhält, dass wirtschaftlich
immer mehr produziert werden muss, wird jeder Fortschritt, den sie an der
einen Stelle für sich und die Umwelt erreicht, an einer anderen Stelle mehr
als zunichtegemacht.“
Ein Grund ist der in der Politik unterbelichtete Rebound-Effekt. Jener
besagt, dass Effizienzsteigerungen durch mehr Konsum konterkariert werden.
Wer sich ein spritsparendes Automodell kauft, gönnt sich mit dem gesparten
Geld vielleicht eine Flugreise nach Mallorca – oder fährt weitere Strecken.
Ökologisch orientierte Politik müsste unser westliches Wohlstandsmodell
deshalb radikaler hinterfragen, als die Grünen es tun. Ist Fleisch essen,
im weltweiten Maßstab gedacht, angesichts der ökologischen und ethischen
Probleme überhaupt vertretbar? Können wir munter überallhin fliegen wie
bisher? Ist das E-Auto, zwei Tonnen Stahl für einen Menschen, wirklich die
Lösung?
Solche Fragen tippen die Grünen an, stellen sie aber nicht in letzter
Konsequenz. Sie fürchten den Liebesentzug der WählerInnen. Unendliches
Wachstum wird von WissenschaftlerInnen in Frage gestellt, aber von keiner
einzigen Partei in Deutschland.
Durch ihr Veggieday-Trauma haben die Grünen gelernt, dass es in Deutschland
hart bestraft wird, lieb gewonnene Konsumgewohnheiten zu hinterfragen. Sie
wissen, dass sie von der Bild, der FAZ oder der Welt als Degrowth-Schrate
bezeichnet würden, die sich ein Deutschland voller Waldhütten wünschen. Das
Letzte aber, wohin die Grünen wollen, ist die Nische. Aus der haben sie
sich ja 40 Jahre lang rausgekämpft.
Eine bittere Wahrheit lautet deshalb, dass grüne Politik wahrscheinlich
nicht ausreicht, um die eskalierenden ökologischen Krisen – es sind ja
mehrere – in den Griff zu kriegen. Aber dieses Dilemma nimmt nur eine
Fachöffentlichkeit zur Kenntnis oder die wissenschaftlich versierten
AktivistInnen von Fridays for Future. Für die Mehrheitsgesellschaft
funktioniert das Narrativ des grünen Wachstums perfekt. Klimaschutz, ohne
Verzicht zu üben, wer will das nicht.
Damit wären wir wieder bei unserem Szenario einer grün geführten Regierung.
Der unaufgeregte, nüchterne Stil Baerbocks kommt gut an bei den Deutschen.
Ihr nächster Bundestagswahlkampf steht unter dem wolkigen, aber in Tests
für gut befundenen Motto: „Für ein gutes Morgen“. CDU-Herausforderer Jens
Spahn, der den glücklosen Laschet längst an der Parteispitze abgelöst hat,
wirke „im Vergleich zu ihr beinahe wie ein Leichtgewicht“, schreibt die
FAZ. Ende 2025 beginnt die zweite Amtszeit der grünen Kanzlerin.
Ulrich Schulte ist Leiter des Parlamentsbüros der taz. Am 26. Januar
erscheint sein Buch „[4][Die grüne Macht]. Wie die Ökopartei das Land
verändern will“ im Rowohlt Verlag. 224 Seiten, 16 Euro.
23 Jan 2021
## LINKS
[1] /Noch-mehr-klimaschaedliche-Pkws/!5650289
[2] https://www.bpb.de/politik/wahlen/bundestagswahlen/62559/bundestagswahlen-1…
[3] https://www.wahlrecht.de/umfragen/
[4] https://www.rowohlt.de/buch/ulrich-schulte-die-gruene-macht-9783499005527
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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Grünes Wachstum
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