# taz.de -- Hausärztin über Corona im Brennpunkt: „Ich verliere den Kontakt… | |
> Heike Diederichs hat ihre Praxis in Bremen-Gröpelingen – einem armen | |
> Viertel, in dem die Infektionszahlen hoch sind. Warum? Ein Protokoll. | |
Bild: Schnelltest im Altenheim: Für manche Hausärzt*innen gehört auch das zu… | |
„Ich hatte zum Glück zwischen den Jahren frei. Es sind nicht die Menschen, | |
die mich anstrengen, sondern die Umstände. Ich bin gerne Ärztin, [1][auch | |
in Gröpelingen]. Der Stadtteil ist ehrlich, aber kompliziert und arm. | |
Unsere Patienten kommen aus Bremen – aber viele sind in einem anderen Land | |
geboren, manche sind gerade erst hierher geflüchtet. Sie verstehen vieles | |
nicht und das liegt nicht immer an der Sprache, für vieles bräuchte ich | |
einen Kultur-Dolmetscher. | |
In unserer Praxis müssen Menschen mit Erkältungssymptomen in eine tägliche | |
Infektionssprechstunde kommen, weil wir dann spezielle Schutzkleidung | |
tragen und hinterher besonders gründlich desinfizieren und lüften. Aber | |
viele stehen außerhalb dieser Sprechstunde in der Praxis und können nicht | |
fassen, dass wir sie wieder wegschicken. | |
Das bekommen vor allem meine Mitarbeiterinnen vorne am Tresen ab. Die sind | |
zudem den ganzen Tag damit beschäftigt, Leute zurückzurufen und ihnen zu | |
erklären, wann sie kommen können und wie sie sich mit Symptomen verhalten | |
sollen. | |
Eigentlich soll wegen des Infektionsschutzes immer nur ein Patient ins | |
Untersuchungszimmer, aber wenn jemand Übersetzung braucht, darf noch jemand | |
mit hinein. Momentan lasse ich auch keine Kinder unter zehn Jahren mit in | |
die Praxis, weil die selten auf ihrem Stuhl sitzen bleiben. Das tut mir | |
auch leid, aber wir können sonst die Abstände nicht einhalten, wir | |
verteilen die Leute schon über die ganze Praxis zum Warten. | |
Viele unserer Patienten kommen gerne in der Gruppe, das lasse ich jetzt | |
auch nicht mehr zu, auch wenn ich verstehen kann, dass das Sicherheit gibt, | |
nach allem, was sie erlebt haben. Wir haben deswegen viele unfruchtbare | |
Diskussionen. Da treffen unterschiedliche Vorstellungen aufeinander. | |
In arabischen und türkischen Familien gehört es zum guten Ton, seine Mutter | |
zur Ärztin zu begleiten, auch wenn es nur eine harmlose | |
Kontrolluntersuchung ist. Und auch, wenn man selbst Covid-positiv ist. Ich | |
fürchte, dass eine Infektion mit Covid häufig in der Familie geklärt wird | |
und die Zahlen eigentlich noch viel höher sind. Es gibt einige Patienten, | |
die ich lange nicht mehr zu Gesicht bekommen habe. | |
Ich muss täglich über die Maskenpflicht diskutieren. Ein junger Mann hat | |
mir fast den Tresen abgeräumt, so wütend war der, weil er eine richtige | |
Maske aufsetzen sollte. Ich kaufe eigentlich gerne hier in den Läden Nüsse | |
oder ein bestimmtes Fladenbrot. Aber außer mir trug dort niemand Maske, | |
deshalb bin ich dort nicht mehr hinein gegangen. Ich habe aber gesehen, | |
dass sich das jetzt geändert hat. | |
Das ist alles keine böse Absicht, da treffen unterschiedliche Kulturen | |
aufeinander. Ich habe das Gefühl, es gibt so etwas wie eine Heimat-Medizin | |
– und unsere westliche Medizin. Das sind teilweise ganz andere | |
Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit und auch ein anderer Umgang | |
damit. Das wird durch Corona noch sichtbarer als vorher. | |
Jetzt soll es in Gröpelingen und anderen Brennpunkt-Stadtteilen mit hohen | |
Infektionsraten Gesundheitslotsen geben, die über Covid und | |
Verhaltensregeln aufklären. Ich bin da etwas skeptisch. Das kann nur | |
funktionieren, wenn die aus dem Milieu der Leute kommen und deren Blick auf | |
Gesundheit verstehen. | |
Es ist doch auch so: Jemand, der durch die Sahara geflüchtet ist, es über | |
das Mittelmeer geschafft, die Flüchtlingslager in Italien überlebt hat: Was | |
ist denn für den schon Covid? Die haben Ebola gehabt, die haben sonst was | |
gehabt und ihnen wurde nicht geholfen, da gab es keine Impfkampagnen. Und | |
wir kommen denen mit Masken. | |
Und dann sagen wir ihnen, was sie alles nicht dürfen – und gleichzeitig | |
leben sie zu viert in einem Zimmer oder einer winzigen Wohnung. Hier in | |
Gröpelingen können die wenigsten Homeoffice machen. [2][Die werden nur | |
bezahlt, wenn sie da sind.] Die gehen auch arbeiten, wenn sie oder jemand | |
in der Familie positiv sind. | |
Ich sitze hier manchmal bis halb acht abends und arbeite nach oder | |
telefoniere meine Liste durch. Ich rufe auch Patienten mit einem positiven | |
Test-Ergebnis an und sagen ihnen, dass sie in Quarantäne müssen. Das Bremer | |
Gesundheitsamt sagt dazu nichts mehr, die sagen ja offen, [3][dass sie mit | |
der Nachverfolgung der Kontakte nicht hinterher kommen]. Aber mit anderen | |
Gesundheitsämtern in Niedersachsen hatte ich teilweise richtig Ärger. Das | |
zermürbt. | |
Zum Beispiel behandle ich eine libanesische Familie, die früher mal hier | |
gewohnt hat. Die haben ein zehnjähriges, lebertransplantiertes Kind, das | |
ist Hochrisikogruppe. Die Mutter hatte ein bisschen Schnupfen, sie kamen | |
alle zu mir zum Abstrich. Die Mutter war positiv, und ich habe sofort die | |
Familie angerufen und ihnen gesagt, dass sie in Quarantäne müssen und die | |
Mutter sich von ihrem Kind fernhalten muss. | |
## Gesundheitsämter machen Stress | |
Darauf ruft mich das zuständige Gesundheitsamt an und sagt, ich hätte das | |
gar nicht gedurft und eine Dienstüberschreitung gemacht. Aber ich kann doch | |
nicht darauf warten, dass das Gesundheitsamt reagiert! Was weiß denn ich, | |
wie schnell das geht. | |
Und da gab es eine Fahrgemeinschaft von vier Männern, von denen einer | |
positiv war. Natürlich habe ich den angerufen und ihm gesagt, er soll in | |
Quarantäne. Oder eine ältere Frau, die zurück in die Tagespflege sollte, | |
aber einen positiven Test hatte: Da habe ich ihrem Taxifahrer ein Fax | |
geschickt. | |
Nur wenige Hausarztpraxen machen die Abstriche so wie wir selbst. Es ist | |
mit aller Vor- und Nachbereitung recht aufwendig und wir untersuchen | |
Patienten mit Symptomen ja auch – anders als die Corona-Ambulanz der | |
Kassenärztlichen Vereinigung, zu der Patienten geschickt werden, wenn ihre | |
Ärzte das nicht selbst machen. Viele meiner Patienten haben aber kein Auto | |
und fahren dann mit öffentlichen Verkehrsmitteln quer durch die Stadt. Das | |
sind doch Spreader. | |
## Hausbesuche fallen weg | |
Ich fänd’ es klasse, wenn wir ein oder zwei Infektionszentren in | |
Gröpelingen hätten, wo niemand weggeschickt werden muss und es mehr Zeit | |
gibt, den Leuten alles zu erklären. Und Teams für die Pflegeheime wären | |
gut. Dass ein Arzt oder eine Ärztin nicht mehr Patienten in allen Heimen | |
hat und hin und her fahren muss, sondern nur für eins zuständig ist. | |
Das Desinfizieren und Anziehen von Schutzkleidung nimmt viel Zeit in | |
Anspruch, deshalb fallen vor allem in den Heimen viele Hausbesuche weg. | |
Oder wir dürfen mal wieder nicht rein, weil eine Station in Quarantäne ist. | |
Routinebesuche mache ich nicht mehr. Ich komme nur noch zu Notfällen. Mir | |
geht es wie manchen Lehrern in der Schule, die sagen, wir verlieren | |
Schüler. Ich verliere den Kontakt zu meinen Patienten. | |
Wenn ich ganz ehrlich bin, dann spare ich mir manche Heimbesuche auch auf, | |
weil ich für diese jetzt so lange brauche: Die Menschen sind so einsam, die | |
müssen ganz viel erzählen. Allgemein haben Depressionen, Ängste und | |
Psychosen zugenommen. Oder werden schlimmer, oft gibt es Alkoholprobleme, | |
die jetzt so richtig aufbrechen. | |
Am Heiligabend bin ich vormittags ehrenamtlich in das Kurzzeitpflegeheim im | |
Diako gegangen und habe mit dem Leiter rund 20 Angehörige der Bewohner | |
abgestrichen. Ich betreue dort sieben Personen, die sterben, das ist deren | |
letztes Weihnachten, die sollten nicht alleine bleiben müssen. Die | |
Einrichtung hat dafür nicht das Personal. Das ist ein Riesenpapieraufwand. | |
Am Nachmittag sind Heim-Mitarbeiterinnen gekommen und haben abgestrichen. | |
In ihrer Freizeit. Die haben auch gesagt, ‚das halten wir nicht aus, wenn | |
die Angehörigen nicht kommen dürfen‘.“ | |
13 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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