# taz.de -- Bremer Gesundheitssenatorin über Corona: „Im Sommer lief es zu g… | |
> Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Die Linke) spricht über die | |
> bisherigen Lehren aus der Pandemie für die Gesundheitspolitik. | |
Bild: Viel zu tun: Claudia Bernhard Mitte November bei einer Bürgerschaftssitz… | |
taz: Frau Bernhard, kann einer Gesundheitssenatorin etwas Besseres | |
passieren als eine Pandemie? | |
Claudia Bernhard: Wenn man ununterbrochen in den Medien sein will, dann ist | |
das wahrscheinlich sehr praktisch. Das war jetzt allerdings nicht so sehr | |
mein Vorhaben. | |
Aber Ihr Handlungsspielraum ist doch auch größer geworden. | |
Na ja. Der ist nicht so viel größer, der Senat entscheidet ja gemeinsam. | |
Aber ja, man gewinnt an Bedeutung. Deutlich geworden ist: Wir können sehr | |
froh sein, dass wir einen kommunalen Krankenhausbetrieb haben. Über die | |
Geno konnten wir sofort Testzentren eröffnen, auch beim Impfzentrum hilft | |
uns das. Allein mit privatisierten Kliniken kann man nicht so flexibel | |
agieren. | |
Der Sanierungsplan für die Krankenhausgesellschaft läuft trotzdem weiter. | |
Können schwarze Zahlen überhaupt noch das Ziel sein? | |
Die Geno hat weiter die Anforderung, umzustrukturieren. Aber wir müssen | |
raus aus dieser Kostendiskussion. An erster Stelle steht die Frage: Was | |
brauchen wir für die Versorgung. Erst dann kommt: Was kostet es? In Zukunft | |
müssen wir auch Stadtteilversorgung über Gesundheitszentren stärker in den | |
Blick nehmen und uns um den Fachkräftemangel in der Pflege kümmern. Im | |
Grunde brauchen wir eine Verdopplung, eine Verdreifachung der | |
Ausbildungsplätze. Das kostet Geld. | |
Aber für diese Wünsche haben Sie jetzt doch endlich Rückenwind! | |
Das ist die andere Seite der Pandemie: Wir bekommen auch die Chance, etwas | |
zu ändern. Ob [1][über den Bremen-Fonds] oder auf Bundesebene über das | |
Krankenhauszukunftsgesetz: Wir können die Versorgung zumindest etwas | |
ausbauen. Es wird aber auch klar, wo das Gesundheitssystem wirklich | |
runtergespart ist. Bei den Gesundheitsämtern fällt uns das auf die Füße. | |
Wie ist die Lage dort? | |
Die Belastung ist in Bremen und Bremerhaven massiv; physisch, aber auch | |
mental. Sie dürfen nicht vergessen, die Überlastung besteht seit März – und | |
wir wissen nicht, wie lange es dauert. Natürlich haben wir Personal | |
aufgestockt, aber bei den Kernteams der medizinischen Versorgung sind die | |
Engpässe nach wie vor da. Wir kommen nur durch, indem wir andere Aufgaben | |
teils zurückstellen, die schulärztlichen Untersuchungen zum Beispiel. | |
Sie haben im Gesundheitsamt sogar Hilfe von der Bundeswehr angenommen. Ein | |
Einsatz der Bundeswehr im Inneren … | |
Ja, aber ein ziviler Einsatz, Amtshilfe eben. Ich finde, das ist absolut | |
vertretbar, es ist für einen guten Zweck. | |
Ist es keine Militarisierung, Militär im zivilen Bereich einzusetzen? | |
Ich sehe das eigentlich fast umgekehrt: Das ist eine Zivilisierung des | |
Militärs. Bei der Unterbringung von Geflüchteten hat das Militär ja auch | |
unterstützt. | |
Wann haben Sie die Dramatik der Pandemie wirklich begriffen? | |
Als in der ersten Welle klar wurde, wie immens gerade die Älteren von | |
Covid-19 betroffen waren, als die Todesfälle mit Rasanz angestiegen sind. | |
Beim schwedischen Modell, deren anfänglicher Strategie, „Wir lassen einfach | |
alles auf“, ist es mir kalt den Rücken runtergelaufen. Zu sagen: „Mal | |
sehen, wer’s packt und wer nicht“, das finde ich schwer auszuhalten. | |
Im September gingen Sie davon aus, dass die Zahlen weiter sinken würden. | |
Stattdessen stiegen sie radikal. Was hat Bremen früher falsch gemacht als | |
andere? | |
Ich kann nicht sagen, was wir anders hätten machen sollen. Alle waren im | |
Sommer eigentlich guter Dinge, ganz gut aus der Sache rauszukommen. | |
Durchaus möglich, dass man die zweite Welle unterschätzt hat. Das ist | |
allerdings kein bremisches Phänomen. | |
Aber es war doch im Frühsommer schon Thema, dass im Herbst eine zweite | |
Welle kommt. | |
Mediziner und Virologen haben darauf hingewiesen. Aber Haushälter waren da | |
schon wieder auf einem ganz anderen Trip. Ich kann mich gut erinnern, wie | |
schnell die Spardiskussion wieder losging. Im Sommer lief es schlichtweg zu | |
gut! Wir hatten Phasen, wo sich die Coronascouts zur Nachverfolgung | |
gelangweilt haben. Da kam schon die Frage, können wir die nicht wieder | |
abbauen. Prophylaktisch aufzurüsten, war da nicht in der Diskussion. | |
Ist es nicht Ihre Aufgabe, das in die Diskussion zu bringen? | |
Die Scouts sind ja noch da. Und dass es im Bremen-Fonds auch ein | |
Sonderprogramm Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen gibt, ist | |
nicht vom Himmel gefallen. Wobei ich sagen muss, dass es vom Bürgermeister | |
immer die Ansage gab: Was die Pandemie kostet, kostet sie. Mit | |
Einschränkungen des öffentlichen Lebens ist das eine andere Sache. Die kann | |
man nicht lange aufrechterhalten, wenn die Zahlen zu gut sind. | |
Sie hatten immer betont, dass Nachverfolgung eine Schlüsselaufgabe ist. | |
Aber seit Anfang November werden auch [2][direkte Kontakte nicht mehr | |
unbedingt getestet.] | |
Die Nachverfolgung hängt nicht an Tests, sondern daran, dass das | |
Gesundheitsamt nicht mehr in der Lage war, alle Kontaktpersonen zeitnah zu | |
informieren. Könnten wir das, wären wir ein großes Stück weiter. Es ist | |
zwar wieder besser geworden. Aber auch mit mehr Coronascouts wäre die | |
[3][Nachverfolgung zum größten Teil unmöglich]: Die Menschen haben sich zum | |
einen nicht an die Quarantäne gehalten und konnten zum anderen nicht mehr | |
sagen, wo sie überall Kontakt hatten. | |
Jetzt also der harte Lockdown. | |
So hart wie im Frühjahr ist er nicht. Aber die Maßnahmen im November haben | |
nicht gereicht. Und die Lage ist schwieriger als im Frühjahr: Wir haben | |
nicht mehr die eindeutige Klarheit darüber, wo Cluster und Zusammenhänge | |
sind. Das wäre wichtig gewesen für die Entscheidung: Macht es Sinn, jetzt | |
die Freizeit runterzufahren, macht es Sinn, die Einkaufsmeile rauszunehmen? | |
Weil wir das nicht wissen, ist das Maß aller Dinge, die Zahl der Kontakte | |
insgesamt einzuschränken. | |
Einige Zusammenhänge kennt man: In Gröpelingen und Tenever sind die | |
[4][Zahlen viel höher]. | |
Ja, weil die Menschen dort ganz andere Wohn- und Arbeitsverhältnisse haben | |
als in Horn und Schwachhausen. 50 Prozent der Menschen sind gerade im | |
Homeoffice, andere können sich das einfach nicht leisten. Corona zeigt | |
teilweise schlimme Arbeitsverhältnisse auf. Die Fleischindustrie ist ja ein | |
signifikantes Beispiel gewesen. Es ist nicht allein damit getan, dass wir | |
jetzt in manchen Stadtteilen Beratungsstrukturen einrichten. | |
Was muss stattdessen geschehen? | |
Wir müssen uns fragen: Was heißt Pandemiefähigkeit für ein Staatswesen? Wie | |
kriegen wir Unterrichtsvarianten hin, die die nötigen Abstände ermöglichen? | |
Wie also [5][könnte Kleingruppenbeschulung aussehen]? Wie müsste der | |
Nahverkehr aufgestellt sein? Wie hat ein Krankenhaus auszusehen mit | |
entsprechenden Isolationsmöglichkeiten? Das braucht ja ein ganz anderes | |
Platzangebot, einen ganz anderen Personalbestand. Die gesamte Planung einer | |
Stadt müssen wir in Zukunft auf andere Füße stellen. Es geht dabei vor | |
allem um soziale Ungleichheiten. | |
Braucht das Gesundheitsressort also einfach mehr Macht? Müssten Sie sagen: | |
Das Arbeitsressort wird mir mal unterstellt? | |
Interessante Vorstellung. Aber nein, Gesundheit kann nicht alle Probleme | |
lösen. Jedes Ressort muss eigene Strategien entwickeln. Es wird | |
ressortübergreifend zusammengearbeitet, aber wir müssen das in noch viel | |
stärkerer Weise tun. | |
Sind Konflikte mit anderen Ressorts eine Frage der Partei? | |
Ich stelle eigentlich fest, dass die Auseinandersetzungen nicht unbedingt | |
entlang der Parteilinien verlaufen. Das kommt aufs Thema an. Was heißt es | |
für Kinder, wenn sie nicht mehr beschult werden? Was heißt es für | |
Kultureinrichtungen, für die Gastronomie, die nicht öffnen dürfen, obwohl | |
sie sich so viel Mühe mit den Hygienevorschriften gegeben haben? | |
Gibt es da einen Weg raus? | |
Wir müssen im Senat die Balance finden: Wir wollen das Infektionsgeschehen | |
im Griff behalten, aber nicht sämtliche andere Konsequenzen aus dem Ruder | |
laufen lassen. Ich finde viele Maßnahmen auch total bedauerlich. Im Grunde | |
sagt man den Leuten ja: „Bleibt zu Hause und macht am besten gar nichts.“ | |
Aber das ist ja keine Lösung auf Dauer. | |
Das ist gerade Ihre Aufgabe. | |
Ja, ich bin diejenige, die jetzt immer wieder sagt: „Leute, wir müssen | |
sehen, dass wir dieses Virus in den Griff kriegen, sonst haben wir viel | |
größere Probleme.“ Dabei vertrete ich immer wieder die unangenehme | |
Position: Wir müssen jetzt leider gemeinsam kürzertreten. Das ist so. | |
Das klingt jetzt doch nach Ordnungspolitik. Kann Krisenpolitik überhaupt | |
links sein? | |
Wenn ich mitkriege, dass oft genau die Menschen reicher werden, die es | |
immer schon gewesen sind, gerade auf Grund der Pandemie – da könnte man | |
schon verzweifeln. Wenn wir jetzt beim Impfen vorankommen und die | |
Neuinfektionen senken, ist das die nächste große Aufgabe: Wir müssen | |
langfristig die soziale Spaltung abbauen. Aber ich weiß schon, sobald wir | |
nur ein bisschen den Kopf über Wasser kriegen, heißt es wieder: „Hm, das | |
kostet zu viel.“ Dann haben wir sofort das Kostendenken wieder an der | |
Backe. | |
2 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Lotta Drügemöller | |
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