# taz.de -- Bremens Bildungssenatorin über Corona: „Die Situation ist beschi… | |
> Wie alle Kultusminister*innen hält Claudia Bogedan (SPD) am Unterricht in | |
> voller Gruppenstärke fest. Die Wut von Lehrer*innen kann sie verstehen. | |
Bild: Claudia Bogedan will vom Schuljahr retten, was zu retten ist | |
taz: Frau Bogedan, was würden Sie einer Nachfolgerin sagen, was sie in | |
einer Pandemie bedenken sollte? | |
Claudia Bogedan: Sie stellen diese Frage zum völlig falschen Zeitpunkt. Wir | |
haben keine Zeit, die Situation zu reflektieren. Wir müssen jeden Tag auf | |
eine völlig veränderte Ausgangssituation reagieren. Deshalb ist der Frust | |
in den Schulen auch so groß, weil wir seit März [1][alle vier bis sechs | |
Wochen] neue Regeln aufstellen – weil es neue Erkenntnisse gibt. | |
Am Anfang haben wir gedacht, Schmierinfektionen spielen eine riesige Rolle | |
und die Schulen haben Tische desinfiziert. Dann war im Sommer klar, dass | |
die Übertragung über die Luft geschieht und wir haben CO2-Ampeln | |
angeschafft. | |
Dann gab es neue Vorgaben über den Bund, alle 20 Minuten zu lüften. Das | |
sind nur Beispiele. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand und organisieren ein | |
System, in dem wir für ein Sechstel der Bevölkerung des Bundeslands Bremens | |
verantwortlich sind. Ich kann nur im Hier und Jetzt versuchen, das so zu | |
regeln, dass niemand zu Schaden kommt – auch langfristig nicht. | |
Anders gefragt: Wie sieht die ideale Schule aus, die gut auf sich ständig | |
verändernde Rahmenbedingungen reagieren kann? | |
Fragen Sie bitte den Airbus-Chef dasselbe. Ich kenne niemanden, der für | |
eine große Organisation eine Antwort hätte. Ich glaube, wenn wir den Kopf | |
wieder über Wasser haben und zurückblicken können, dann weist das, was wir | |
jetzt gemacht haben, in die richtige Richtung: Dass eine Schule im 21. | |
Jahrhundert eine digitale, inklusive Schule ist. Wir werden ja später | |
vergleichen können, wie gut es gelungen ist, alle Schüler*innen | |
mitzunehmen. | |
Mit dem Argument, alle mitnehmen zu wollen, lehnen die Kultusminister*innen | |
[2][die Forderung nach Halbgruppen ab]. | |
Ja, weil es kein Modell gibt, bei dem man 100 Prozent Unterricht mit halben | |
Gruppen organisieren kann. | |
Und wenn man nur 50 Prozent Unterricht machen würde? | |
Das wäre fatal, weil man die verlorene Lernzeit nicht mehr aufholen kann. | |
Wir haben in Bremen sehr viele Kinder, die zu Hause keinen Schreibtisch | |
haben, keine lernförderliche Umgebung. Die leben in Wohnverhältnissen, die | |
einfach nur schlimm sind. Wir haben doch gesehen, wie die im ersten | |
Lockdown im Frühjahr abgehängt wurden. Mir fehlt die Fantasie, wie man das | |
ausgleichen kann. | |
Viele Lehrkräfte sagen, dass auch solche Schüler*innen in den kleinen | |
Gruppen im Mai in kürzerer Zeit mehr gelernt hätten. | |
Ja, ich kenne diese Rückmeldungen. Aber alle Leistungserhebungen, die wir | |
machen, sagen etwas anderes: Die Schüler*innen brechen allesamt ein. Wenn | |
wir diese jungen Menschen jetzt einfach weiter durchs Schulsystem schieben, | |
bekommen wir Abgänger*innen, bei denen die Ausbildungsbetriebe sagen, die | |
können nicht mal Dreisatz. Wir brauchen einfach eine gewisse Quantität beim | |
Unterricht. | |
Mit kleineren Gruppen könnten Abstände im Klassenraum eingehalten werden. | |
Für das Infektionsgeschehen würde das aber nur etwas bringen, wenn man | |
gleichzeitig die sozialen Kontakte der Jugendlichen außerhalb der Schulen | |
massiv einschränken würde. Wenn ich davon überzeugt wäre, dass wir mit | |
Halbgruppen endlich mal wieder eine Situation hätten, die über Wochen | |
stabil bleibt, dann wäre ich dafür, die anderen Kultusminister*innen | |
genauso. Aber das ist leider kein realistisches Szenario. | |
Es geht doch auch darum, dass sich viele Lehrer*innen ausgeliefert fühlen | |
in engen Räumen mit 30 anderen. Und von der Politik alleingelassen. | |
Ich habe den Eindruck, dass nicht gesehen wird, was wir alles gemacht | |
haben. Und das im Vergleich mit anderen Branchen, wo die Beschäftigten | |
selbst für ihre Sicherheit sorgen müssen. Wir haben jede Menge Regelungen | |
getroffen, um alle zu schützen und immer auf Rückmeldungen aus der Praxis | |
reagiert. Zum Beispiel bekommen Lehrkräfte in Bremen seit dem Sommer | |
kostenfrei FFP-2-Masken. Da gab es welche, die schlecht gerochen haben – | |
wir haben andere organisiert. | |
Aber mit der Maskenpflicht für Schüler*innen haben Sie lange gewartet, | |
[3][Schleswig-Holstein war viel schneller], dabei waren in Bremen die | |
Inzidenzwerte viel höher. | |
Das stimmt, aber im Vergleich mit allen 16 Bundesländern waren wir früh | |
dran. | |
Ist das dann Jammern auf hohem Niveau? | |
Nein, ich verstehe das Sicherheitsbedürfnis und auch den Frust. Die | |
Situation ist einfach total beschissen. Lehrer*innen müssen in einer | |
unübersichtlichen Lage, in der sie alle vier Wochen eine neue Ansage | |
bekommen, Sicherheit ausstrahlen, auch wenn sie sich selbst vielleicht nur | |
noch verkriechen wollen, weil sie genauso verunsichert und überfordert sind | |
wie alle anderen. Als Lehrerin können Sie nicht schick ins Homeoffice | |
gehen. Stattdessen müssen Sie zum Teil doppelten Unterricht vorbereiten, | |
haben Angst, sich und andere anzustecken. Aber es fällt mir schwer | |
nachzuvollziehen, warum das für Lehrer*innen eine so große Herausforderung | |
ist und für Erzieher*innen nicht. | |
Haben Sie eine Erklärung? Von denen ist wenig zu hören. | |
Anspannung gibt es auch dort, die Kitas waren ja keinen Tag zu. Ich höre, | |
dass viele den Eindruck haben, es gehe nur um die Eltern und deren Wunsch | |
nach Betreuung. Ich denke, es hat damit zu tun, dass Nähe und | |
Körperlichkeit Teil des professionellen Selbstverständnisses von | |
Erzieher*innen ist. Und dass es keine Vorstellung gibt, was die Lösung sein | |
könnte. Im Kindergarten helfen weder Halbgruppen noch Masken oder Tablets. | |
Haben Sie keine Sorge, dass Ihnen die Lehrer*innen im Frühjahr alle | |
zusammenklappen? | |
Doch, an rabenschwarzen Tagen. Wir werden gesellschaftliche Folgen dieser | |
Pandemie erleben, da werden wir uns noch umgucken. Das macht etwas mit uns | |
allen. Vielleicht kommen wir in zwei Wochen auch darauf, dass Halbgruppen | |
die Antwort darauf sind. Aber im Moment versuchen wir, von diesem Schuljahr | |
zu retten, was zu retten ist. | |
Wäre es nicht sinnvoller zu sagen, [4][wir verabschieden uns von Schule, | |
wie wir sie kennen] – weil es kein normales Schuljahr ist? | |
Wissen Sie, ich wollte das. 1966/67 gab es in einigen westdeutschen | |
Bundesländern verkürzte Schuljahre. In der Behörde gibt es Leute, die das | |
erlebt und gesagt haben, „das hat uns auch nicht geschadet“. Ich bin dem | |
nachgegangen und habe in den Sommerferien eine [5][Studie dazu] gelesen. | |
Das Ergebnis war fatal. Die kürzer Beschulten hatten Zeit ihres Lebens ein | |
geringeres Einkommen als Vergleichsgruppen und ein höheres Risiko von | |
Altersarmut. Woran das genau lag, habe ich nicht herausgefunden. | |
Und deshalb haben Sie sich dagegen entschieden? | |
Ja, das Risiko ist zu hoch angesichts einer sich dramatisch verändernden | |
wirtschaftlichen Lage. Wir haben in diesem Sommer schon 1.500 | |
Ausbildungsverhältnisse weniger im Land Bremen abgeschlossen. Stellen Sie | |
sich vor, das wiederholt sich nächstes Jahr und dann heftet dem | |
Abschlussjahrgang der Makel an, dass ihr Abschluss nicht vergleichbar ist – | |
die landen direkt auf dem C- oder D-Stapel bei den Bewerbungen. | |
Sie sprachen von rabenschwarzen Tagen. [6][Sehen Sie noch Chancen], die | |
diese Situation bietet? | |
Klar, wir haben in Bremen einen Riesensprung in der Digitalisierung | |
gemacht, und irgendwann werden wir ermessen können, was uns das für Impulse | |
gibt, Unterricht modern zu gestalten, auch die Entlastungen für | |
Lehrer*innen werden dann sichtbar. Das Bildungssystem ist ja als | |
schwerfälliger Tanker bekannt, aber eine Lehre wird sein, dass wir hier | |
agilere Strukturen brauchen, um in Krisen stabiler zu sein. Die bauen wir | |
jetzt auf und sind auch dabei, in der Behörde unsere Arbeitsweise zu | |
ändern. Unsere Vision ist mehr Selbstbestimmung in den Schulen und der | |
kommen wir jetzt näher. | |
4 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Coronamassnahmen-in-Deutschland/!5731615 | |
[2] /Schuelersprecher-ueber-Corona-Massnahmen/!5728644 | |
[3] /Streit-um-Schutzmassnahmen-gegen-Corona/!5720713 | |
[4] /Die-steile-These/!5727753 | |
[5] https://www.ifo.de/publikationen/2019/working-paper/effect-compulsory-schoo… | |
[6] /Umgang-mit-Kindern-in-der-Coronakrise/!5678547 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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