| # taz.de -- Wire in Düsseldorf am 9.11.1978: Die verspätete Revolution | |
| > Punk kam mit Wire nach Westdeutschland. Am 9. November 1978 spielte die | |
| > Band im Ratinger Hof in Düsseldorf ihr erstes Auslandskonzert. | |
| Bild: Ein „Erweckungserlebnis“: Wire im Ratinger Hof, Düsseldorf, am 9. No… | |
| Punk in seiner rebellischen Urform und seinem ironischen Minimalismus – | |
| dafür steht vor allem die britische Band Wire, 1976 in London, von den | |
| Kunststudenten Colin Newman (Gitarre, Gesang), Graham Lewis (Bass, Gesang) | |
| und Robert „Gotobed“ Grey (Schlagzeug) gegründet. Ihr Debütalbum „Pink | |
| Flag“ (1977) nimmt vieles vorweg, was später Postpunk ausmachen sollte: | |
| schneidende Gitarren, schnelle und prägnant vorgetragene Songs. | |
| Wire haben mit Unterbrechungen weitergemacht und Anfang 2020 mit „Mind | |
| Hive“ ein neues Album veröffentlicht, das seine musikalische Unruhe wie | |
| gehabt spartanisch inszeniert. Die schnöde Gitarre, der fordernde Beat und | |
| Newmans sonor-sturer Gesang ergeben die eigenwillige Mischung. Wire-Songs | |
| kommen ohne Manierismen aus. Irgendwie immer noch wie die Kunststudenten | |
| 1978 beim Fachsimpeln in der Kneipe nebenan. | |
| Als das Jahrzehnt der 1970er zu Ende geht, sind die hochfliegenden Träume | |
| der Sixties auch in Deutschland längst geplatzt, der Ton wird rauer, die | |
| Auseinandersetzungen werden härter. Punk steht dem | |
| Selbstverwirklichungspathos der 68er misstrauisch gegenüber, die | |
| Innerlichkeit der Hippies gilt ihm als Bluff, die etablierte Rockszene als | |
| behäbig. Tief im deutschen Westen fühlt man sich 1977/78 durch Wire | |
| besonders inspiriert. | |
| Die bekannteren, skandalträchtigeren Sex Pistols hatten sich bekanntlich | |
| vor ihrer Deutschlandtour im Februar 1978 aufgelöst. So gilt bis heute das | |
| Konzert von Wire im Ratinger Hof, Düsseldorf, am 9. November 1978 als | |
| Geburtstunde von Punk in Westdeutschland. Es war zugleich ihr erster | |
| Auftritt im Ausland überhaupt und es wird zum herausragenden Ereignis, das | |
| der Musik- und Kunstszene in Düsseldorf neue Impulse gibt. Es ist zugleich | |
| Initialzündung für zahlreiche musikalische Folgeprozesse. | |
| ## Neue Impulse für die Musik- und Kunstszene in Düsseldorf | |
| Viele der Anwesenden an jenem Abend im Ratinger Hof gründen danach eigene | |
| Bands. Für Kurt Dahlke, der 1978 zusammen mit Gabi Delgado gerade bei | |
| [1][Deutsch-Amerikanische Freundschaft (DAF)] angefangen hat, ist der | |
| Besuch im Ratinger Hof an jenem Abend „eines der wichtigsten Konzerte“, ein | |
| einschneidendes Ereignis. DAF orientiert sich danach um, ändert ihren Stil | |
| in Postpunk. Dahlke: „Die spielten ihre simplen Songs unheimlich straight | |
| und tight. Die Haltung von Wire hat mich tief beeindruckt, dass ich sofort | |
| wusste, das will ich auch.“ | |
| [2][Kurt Dahlke steigt kurz nach dem Konzert von Wire im Ratinger Hof bei | |
| der Band Der Plan] mit ein, die für ihren experimentellen und spielerischen | |
| NDW-Sound berühmt werden sollte. Als Solist nennt sich Dahlke | |
| [3][Pyrolator] und veröffentlicht drei ausschließlich mit Synthesizern und | |
| Drumcomputern eingespielte Alben, die noch heute für die Düsseldorfer Szene | |
| zwischen Punk, NDW und Pop, vorbildlich sind. | |
| Ein anderer Zeuge des Konzerts am 9. November 1978 ist der Österreicher Xaõ | |
| Seffcheque, der in den 1980ern gemeinsam mit [4][Peter Hein (Fehlfarben)] | |
| und [5][Martina Weith (Östro 430)] in der Band Family Five spielt. Er | |
| spricht von einem „Erweckungserlebnis“. Die meisten Zuschauer sehen das | |
| nicht so religiös, beeinflusst und inspiriert vom Wire-Konzert in | |
| Düsseldorf werden jedoch alle Bands, die in dieser Zeit anfangen. | |
| ## Über den Punk-Tellerrand hinausschauen | |
| Dass Wire 1978 nicht Westberlin, sondern ausgerechnet die reiche und schöne | |
| „Modestadt Düsseldorf“ als erste Station in Deutschland gewählt hatten, �… | |
| keiner irgendwelche Sorgen hat“ (Song der Toten Hosen), begründet Colin | |
| Newman, Sänger von Wire, rückblickend so: Die Düsseldorfer Szene sei | |
| besonders daran interessiert gewesen, über den offensichtlichen | |
| Punk-Tellerrand hinauszuschauen und einen cooleren, kunstvolleren Sound | |
| anzunehmen. | |
| Newman: „Der Unterschied zwischen den beiden Städten bestand darin, dass | |
| Berlin zwar die Punk-Ethik vertrat, weil sie zum politischen | |
| Gesamtcharakter seiner Straßenkultur passte, die Düsseldorfer Szene aber | |
| viel mehr an Kunst interessiert war.“ | |
| Das Düsseldorfer Wire-Konzert macht schlaglichtartig klar, welchen | |
| Resonanzboden, welche Strahlkraft diese mittlere Großstadt am Rhein doch im | |
| Vergleich zu Metropolen wie Berlin und Hamburg aufweist. Erst recht | |
| verglichen mit Köln. Der Ratinger Hof am Rande der Düsseldorfer Altstadt | |
| ist untrennbar verbunden mit der Künstlerin und Gastronomin Carmen Knoebel | |
| und ihrem damals einzigartigen Gestaltungskonzept: Alle Wände waren weiß, | |
| die helle Raumstruktur wird von Neonlicht und karger Möblierung betont. | |
| Nachdem sie den Hof Mitte der 1970er übernommen hatte, gestaltet sie den | |
| bis dahin hippieesken Laden in eine Punkkneipe um. Gemeinsam mit ihrem Mann | |
| Imi Knoebel, Maler und Bildhauer, der zusammen mit einigen anderen | |
| Düsseldorfer Künstlern eine Minimal-Art-Strömung unter den Beuys-Schülern | |
| bildet. | |
| ## Proben im Bierkeller | |
| „Mit der Neugestaltung hatten wir einen Treffpunkt für Selbstbewusste | |
| geschaffen“, erzählt Carmen Knoebel später dem WDR. „Hier konnte man sich | |
| in keiner dunklen Ecke verstecken und war zu einer gewissen Präsenz | |
| gefordert.“ Im Zuge des Wire-Konzerts im November 1978 etabliert sich der | |
| Hof bald zur bundesweit angesagten Adresse für zahlreiche Postpunk-Bands. | |
| Nicht nur Wire, auch andere junge Künstler aus England spielen in | |
| Düsseldorf ihre ersten Gigs auf dem europäischen Festland. Zugleich treten | |
| auch lokale Größen von S.Y.P.H. über DAF bis Mittagspause im Hof auf. ZK, | |
| die Vorgängerband der Toten Hosen, geben ihr Debüt. | |
| Für die Autoren des Buchs „Keine Atempause“ leistet Carmen Knoebels Hof | |
| einen wesentlichen Beitrag zur musikalischen „DNA der Stadt“. Sie nutzt den | |
| Laden nicht nur als Konzerthaus, sondern ermöglicht zugleich den Lokalbands | |
| weiterhin auch tagsüber, im Bierkeller des Ratinger Hofes zu proben. Die | |
| Musik läuft im Ratinger Hof nicht nur als Beschallung, sie wird gezielt | |
| ausgesucht und immer auch mal von Carmen Knoebel selbst aufgelegt. | |
| Das zieht die Düsseldorfer Künstler an: Blinky Palermo, Sigmar Polke oder | |
| [6][Katharina Sieverding], manchmal auch Joseph Beuys gehen im Ratinger Hof | |
| ein und aus. Beuys hat gerade mit seiner Idee, dass jeder ein Künstler sei | |
| und sein darf, großes Aufsehen erregt. So wird der Ratinger Hof, der in | |
| direkter Nachbarschaft zur Kunstakademie liegt, auch durch die Freigeister | |
| der Kunstszene und schillernde Persönlichkeiten des Umfelds beeinflusst. | |
| ## Neue Düsseldorfer Popästhetik | |
| Carmen Knoebel geht darauf rückblickend in einem Interview auf der Website | |
| der Toten Hosen ein: „Die Mischung des Publikums war hinreißend. Auf der | |
| einen Seite die Jungen, die eifrig Musik machten, und auf der anderen Seite | |
| die Künstlerinnen und Künstler. Ich fand es toll, mit welcher Frische die | |
| auf die Bühne gestiegen sind, ohne wirklich ihre Instrumente zu | |
| beherrschen. Die Älteren hatten Hendrix und Zappa gesehen, aber Punk war | |
| trotzdem wahnsinnig interessant. | |
| „Was uns besonderen Spaß machte, das waren ihre Texte. Punk hat die Kunst | |
| sehr angeregt. Die ‚Jungen Wilden‘ kamen nach dem Punk und nicht umgekehrt. | |
| Es musste also erst mal so etwas Freches auf der Bühne stattfinden, damit | |
| Künstler damals komplett neue Bilder in den Kopf kriegen konnten.“ | |
| Peter Hein gehört damals zu den „ganz Jungen“, die „eifrig Musik machten… | |
| und eine neue Düsseldorfer Popästhetik schaffen, die bis heute wirkt – etwa | |
| im [7][„Salon des Amateurs“] mitten auf Düsseldorfs Kunstmeile, der seit | |
| den nuller Jahren zu den besten Clubs der Republik gehört. Hein nennt sich | |
| „Punk der ersten Generation“, er gründet ab 1977 die Bands – in dieser | |
| Reihenfolge – Charley’s Girls, Mittagspause, Fehlfarben und Family Five. | |
| Hein dichtet 1978 mit „Herrenreiter“ für Mittagspause auch den ersten | |
| deutschsprachigen Antifa-Punksong und etwa später mit „Grauschleier“ einen | |
| der vielen genialen Fehlfarben-Songs: „Es liegt ein Grauschleier über der | |
| Stadt / Den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat“. | |
| ## „Lärm der neuen Zeit“ | |
| Heins Beziehung zu Wire ist innig, er war am 9. November 1978 anwesend. | |
| Ersichtlich ist das auch an der Wire-Compilation „And Here It Is … Again“, | |
| die Hein 1984 auf seinem eigenen Label „Sneaky Pete Records“ | |
| zusammenstellt. Über seine Flegeljahre im Hof sagt er rückblickend, „im | |
| Rahmen der literarischen Weiterbildung und Konzerte in Österreich“ sei ihm | |
| aufgegangen, dass der Hof „eigentlich die Fortsetzung der Kaffeehauskultur | |
| mit anderen Mitteln war“. | |
| Inzwischen lebt Hein in Wien, über die Punkzeit in Düsseldorf sagt er: „Wir | |
| haben unseren Lebensmittelpunkt in den Hof verlegt, dort gearbeitet, | |
| gewohnt (einige bestimmt), unsere Post dorthin bekommen, Besuche empfangen. | |
| Im Unterschied zum ruhigen Kaffeehaus in Wien war unsere Zeit im Ratinger | |
| Hof beherrscht vom Lärm der neuen Zeit – immer und überall Musik. Musik war | |
| damals der eigentliche Lebensinhalt. Selbst gemachte, und natürlich | |
| gehörte.“ | |
| Das ist es auch, was dem Sänger von Wire, Colin Newman, rund um das Konzert | |
| in Düsseldorf in Erinnerung geblieben ist: „Viele sagten uns, dass Wire die | |
| Schlüsselband für sie sei. An diesem Punkt könnte man sagen, dass der | |
| Ratinger Hof der einzige Ort außerhalb Großbritanniens war, an dem sich | |
| Wire wirklich zu Hause fühlten. Man könnte also sagen, dass dieser Abend so | |
| etwas wie eine feierliche Heimkehr für uns war.“ | |
| 8 Nov 2020 | |
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| Heinrich Thüer | |
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