# taz.de -- Der Musiker Frieder Butzmann: Das Leben eines Crachmacheurs | |
> Dunkle Obertöne, lustiger Gesang und schauriges Gebrüll: Der | |
> Avantgardemusiker Frieder Butzmann hat seine Autobiografie vorgelegt. | |
Bild: Die Westberliner Szene traf sich im SO36, wo 1982 dieses Foto von Butzman… | |
Er gehört zu den bekanntesten Unbekannten der Stadt – obwohl in der | |
internationalen Musikszene bestens vernetzt, ist Frieder Butzmann immer | |
noch ein Geheimtipp. Zu übersehen ist er nicht; das hochgewachsene | |
Schwergewicht aus Konstanz, 1954 geboren, kam 1975 nach Berlin-West. | |
In der Stadt am Bodensee hatte er bereits Erfahrungen mit Avantgarde-Musik | |
und Kunst gesammelt: Als Bub malte er die Nächte durch und blieb drum tags | |
darauf gern der Schule fern. Er begann früh mit Tonbandexperimenten, | |
hämmerte auf dem elterlichen Klavier und machte erste Schritte in Richtung | |
einer eigenen Musiktheorie. Als „festes“ Kind, das das Haus nicht verlassen | |
mochte, suchte und fand Frieder Butzmann eigene Wege und Auswege. | |
Damit beginnt das Buch „Wunderschöne Rückkopplungen“, das auf 352 Seiten | |
seine Lebensgeschichte mit der Geschichte und Entwicklung der Musik seit | |
den 1970er Jahren bis in die Gegenwart verbindet. | |
Butzmann berichtet aber nicht chronologisch, sondern vielmehr in Gesprächen | |
und Interviews mit FreundInnen und Wegbegleitern, wie alles anfing und sich | |
entwickelte. Darin liegt der besondere Reiz dieser höchst künstlerischen | |
Biografie, denn hier spiegelt sich einer nicht in egomanischer | |
Selbstverwirklichung, sondern im Teamwork und der dauernden Kommunikation | |
mit anderen. | |
So handelt der Text sowohl von mehr oder weniger bewusst erzeugten | |
Rückkopplungen musikalischer Art als auch von persönlichen und | |
gesellschaftlichen Rückkopplungen – also von produktiven Verbindungen und | |
kreativen Begegnungen mit Menschen, die seinen Lebensweg kreuzten oder | |
mitbestimmten. Butzmann berichtet von seinem Bruder, der „d’s Fridderle“ | |
mit Malutensilien und Literatur versorgte, er erzählt über geistige Väter | |
wie Oswald von Wolkenstein, J. S. Bach, Kurt Schwitters, [1][Marshall | |
McLuhan], über die Punks, [2][Throbbing Gristle], John Cage oder | |
Stockhausen, aber auch über Freunde und Weggenossen wie Thomas Kiesel, | |
Thomas Kapielski, den Zensor Burkhardt Seiler, Blixa Bargeld, Lindy Annis, | |
Galerist René Block, Peter Gente vom Merve-Verlag, Barock-DJ Michael | |
Glasmeier oder Mathias Osterwold und Ingrid Buschmann von den Freunden | |
Guter Musik. | |
In zwanzig Gesprächen entstehen so lebendige Bilder einer vergangenen Zeit, | |
in der künstlerisches Experimentieren mit Formen des Herumfummelns, des | |
Auseinandernehmens, Auf-den-Kopf-Stellens und Zusammenbastelns in | |
unmittelbarer Verbindung stand. Musikanlagen, Instrumente und weitere | |
künstlerische Mittel erfand man selber oder erwarb sie teuer, um zu | |
experimentieren und neue, überraschende Rückkopplung zu ersinnen. Sehr | |
vieles von dem, was wir heute zu hören bekommen, wurde damals wild drauflos | |
oder vorsichtig tastend erfunden – Prototypen und Urfassungen entstanden. | |
Diese Szene traf sich in dem von Butzmann mitbegründeten Luna Park, im | |
SO36, im Risiko oder Institut Unzeit, bei Festivals wie „Berlin Atonal“, | |
„Metamusik“ oder „Reich und Berühmt“. Und natürlich immer dort, wo das | |
unvergleichliche Duo Butzmann/Kapielski seit 1983 auftrat mit | |
Soundeffekten, Videos und viel Spektakel – in Berlin, New York, Amsterdam | |
oder dem mecklenburgischen Künstlerhaus Schloss Plüschow. | |
Es musste nicht immer und ausschließlich elektronisch zugehen: Dies war | |
eher eine innere Anforderung, eine Spannung und Atmo, denn für Aktionen wie | |
die berühmte „Schranknummer“ (den dumpfen Bums, als der Schrank auf dem | |
Boden aufschlug, höre ich immer noch!) benötigten die Künstler nur einen | |
Kleiderschrank und etwas Schnur. | |
Bereits vorher hatte Butzmann bei Zensor drei Alben herausgebracht, die ihm | |
bis heute den Ruhm bescheren, Vater des deutschen Industrial zu sein. | |
Selbstironisch bezeichnet er sich als Crachmacheur. Das ist er auf eine | |
fein austarierte Weise mit dunklen Obertönen, lustigem Gesang und | |
schaurigem Gebrüll. | |
Dies belegen auch seine Hörspiele. Zirka 35 gibt es, es sind komplexe | |
Ton-Text-Gebilde mit SprecherInnen und Raumklang, wie in dem kürzlich für | |
den Schweizer Rundfunk produzierten Stück „Galaxis der Liebe“. Darin | |
vermitteln Zitate, Klänge und Gesänge eine Vorstellung davon, wie der | |
Kosmos gebaut sein könnte. Das ist verwirrend und schön, denn die Entropie | |
drängt zur Auflösung, doch die Liebe wirkt dagegen, sie will Zusammenhalt | |
stiften. | |
„Wunderbare Rückkopplungen“ ist eine Art Steinbruch zur Musik der jüngeren | |
Gegenwart, eine Bild-Text-Collage voller persönlicher Geschichten, gemacht | |
für alle jene, die sich für die künstlerische Entwicklung vorrangig in | |
Berlin in den Dekaden seit 1970 interessieren. Ein Buch voller Fotos, | |
Poster, Zeichnungen und Texte, die den ästhetischen Drive und die Dynamik | |
einer Aufbruchssituation veranschaulichen, die Westberlin lange | |
kennzeichnete: In den grenzüberschreitenden Kunstaktionen der 1970 und 80er | |
Jahre entstanden zwischen verschiedenen Szenen und Genres Reibung und eine | |
Freiheit mit großen Chancen für Geniale Dilletanten. | |
Neben gedruckten Dokumenten besitzt das Buch eine Vielzahl von QR-Codes – | |
Bonusmaterial, das Video- und Audiodateien zur Verfügung stellt und die | |
Möglichkeit bietet, in Butzmanns „Klingonische Oper“ hineinzuhören, das | |
Video „White Is the Noise“ vom Art Festival Kopenhagen 2012 zu sehen oder | |
das Hörspiel „Sassa“ über Tonaufnahmen vom TV-Apparat, ca. 1960, anzuhör… | |
Das Buch gewinnt damit eine große Tiefendimension. Ohne zu übertreiben, es | |
ist der kenntnisreichste und unterhaltsamste Lesestoff, der mir seit Langem | |
in die Hände gefallen ist. Ein Glücksfall, auch deshalb, weil Butzmann die | |
Fähigkeit besitzt, komplizierte technische und musikalische Zusammenhänge | |
mit dem ihm eigenen Witz verständlich zu vermitteln. | |
Zum Schluss soll der Künstler, der übrigens dem Buch auch sein gemaltes | |
Frühwerk anvertraut hat, zu Wort kommen: | |
Texte schreiben, korrigieren, anschauen, durchstreichen, vorlesen. | |
Tippen. | |
Löschen. | |
Re-do | |
Nochmals löschen. | |
Ausdrucken. | |
Neu schreiben. | |
Ein Leben lang | |
Vielleicht mit fremden Zeichen schreiben? | |
Den Text einsprechen. Und korrigieren. | |
Handschrift verlernen … | |
Auf jeden Fall: Singen! | |
Und ab und zu lachen. | |
21 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Peter Funken | |
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