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# taz.de -- Nachruf auf Westberliner Plattenhändler: Er zensierte am besten
> Burkhardt Seiler bot im Berliner Laden „Zensor“ ab 1979 randständige
> Musik an. Nach Krisen zog er sich zurück, nun wurde bekannt: Er ist
> gestorben.
Bild: Burkhardt Seiler, zweiter von links, im „Zensor“, um 1980
Burkhardt Seiler war ein Musikenthusiast der seltenen Sorte. Sein
Schulfreund, der Autor und Blogger Marcus Kluge, berichtet, dass Burkhardt
schon um 68 nicht nur im Gymnasium maoistische Kollektive gründete, sondern
auch die Songs von Tuli Kupferberg und die Alben von MC5 predigte, bevor er
seine Freunde in legendäre Berliner Kommunen führte, wo er schon im zarten
Alter ein und aus ging.
Seiler erzählte auch gerne, dass er 1967, mit 14, das jüngste Mitglied im
SDS gewesen sei – in einer Mail von 2013 an mich fügte er hinzu: ein
Mitglied, das darüber hinaus „nie eine Universität von innen gesehen hat“.
Als ihn die Maoisten wegen anarchistischer Umtriebe ausschlossen und das
Gymnasium ihn aus ähnlichen Gründen auch nicht mehr wollte, wurde er eine
Art fliegender Händler, ein lebendes Ebay avant la lettre.
Er erzählte, wie er zwischen den einschlägigen Underground-Institutionen
der Berliner Linken („Linkeck“, „Buchhandlung Karin Röhrbein“) hin und…
fuhr und auf dem FU-Campus in Dahlem mit frischen „Kursbuch“-Nummern
handelte. Dieser Baby-Stewart-Brand des Westberliner Underground stieg
schließlich auf unabhängige Schallplatten um.
## Zentrale Anlaufstelle
1979 gründete Burkhardt Seiler, zunächst im Hinterzimmer der
Rockabilly-Boutique „Blue Moon“ in Schöneberg, den einflussreichsten
Schallplattenladen des alten Westberlins: den Zensor. Der Zensor aber war
er selbst und sollte es bleiben; nur die engsten Freunde sagten Burkhardt,
für den Rest der Welt war er der Zensor – und in Undergrounddeutschland
kannte ihn bald jede_r. Ich wurde noch im Jahr der Eröffnung sein
Stammkunde, erst per Mailorder aus Hamburg, dann immer häufiger bei Trips
nach Westberlin, wo der kleine Laden in der Belziger Straße ein zentraler
Anlaufpunkt war.
Burkhardt hatte zwar in London über Geoff Travis von Rough Trade das
Punkplattengeschäft gelernt, doch britische Indie-Importe gab es um 1980
überall, dem Zensor verdankte ich dagegen das gänzlich unerforschte und
noch lange ziemlich obskure New York: Das war noch viel dunkler,
kompromissloser, nihilistischer, transgressiver.
Beirut Slump (Lydia Lunchs erste Band), Robin Crutchfields Dark Day, James
Chances Soundtrack zu Diego Cortez’ Film „Gruezi Elvis“, mit der
RAF-Hommage „Schleyer’s Tires“, [1][Lizzy Mercier Desclou]x’ Debüt-12-…
als sie sich noch Rosa Yemen nannte (mit dem Hit „Herpes Simplex Virus
Number One“) und natürlich Mars, DNA und „Rock Lobster“ von den B52s, be…
die zum Major Island gingen. Das war, glaube ich, ziemlich vollständig
meine erste, zu großen Teilen vom Zensor kuratierte Bestellung. Keine Flops
dabei.
## Extremes Know-How für Abseitiges
Burkhardt kannte sich aber mit allem aus – gerne extreme Musik, früher
Industrial, aber auch Soul, und vor allem liebte er den langjährigen Hobo,
Instrumentenbauer und -entwickler und mikrotonalen Autodidakten Harry
Partch. Von diesem Künstler erleuchtete mich und meinen ratlosen
Postpunk-Plattenspieler dann mitten in der Punk-Zeit eine vom Zensor
empfohlene Obskurst-LP.
Als Zensor konnte und wollte Burkhardt Seiler apodiktisch sein. Er wusste
und lebte, was die Deppen, die immer noch über Cancel Culture quengeln, nie
begreifen werden: Ein guter Kulturvermittler muss ein Zensor sein. Kaum ein
Theater ist dafür so gut geeignet wie der Schallplattenladen. Virginie
Despentes hat über einen vergleichbaren Charakter gleich drei Romane
schreiben können.
## Wildes von den Rändern
Im aufblühenden Westberliner Underground trat dennoch nach ein paar Jahren
ein anderes Business in den Vordergrund. Der Laden machte 1983 zu, und
Burkhardt arbeitete weiter an seinem Label und Vertrieb. Es hatte
ursprünglich gemeinsam mit Frieder Butzmann und dessen gemeinsam mit Sanja
entstandene Single „Waschsalon-Berlin“ auch schon 1979 begonnen und hieß
dem gleichnamigen Revolutionär zu Ehren „Marat Records“. Bestellnummern
begannen mit L’ami du peuple, dann eine Nummer.
Schon in der ersten Phase sammelte Burkhardt Wildes und Bizarres von den
Rändern dessen ein, was er selbst in einer Anzeige für seinen Laden 1979
„Neue deutsche Welle“ getauft hatte: die feministisch-antifaschistische
Band Trümmerfrauen, das A-cappella-Duo Die Zwei, die Punk-Akkordeonistin
Santrra, [2][aber auch Malaria!, bis heute als stilbildend bekannte Band
des Westberlin der frühen 80e]r.
Auch wenn Seiler weiterhin mit Experimentalisten wie Frieder Butzmann
zusammenarbeitete, erweiterte der Zensor nun sein Programm während der
1980er und frühen 1990er massiv in Richtung Americana, Deep Soul,
Countrypunk, Roots-Musik, Cajun und Zydeco und hatte Vertriebsdeals mit
kleinen US-amerikanischen Labels.
So brachte er etwa die Zydecoband Beausoleil beim Berliner Jazzfest unter,
betreute Jonathan Richman und Soul-Veteranen wie Solomon Burke, hatte aber
in den mittleren 1980ern auch zeitweilig Katalogteile von Sonic Youth und
den Swans unter seinen Fittichen und förderte auch in Berlin immer noch
einzelne verdiente Vertreter wie Caspar Brötzmann Massaker und Die Haut.
Throbbing Gristle, deren Deutschlandtour er im Jahre 1980 organisierte und
deren Platten er begeistert pries, verdanken ihm vieles. Ihr „letztes“
Konzert vor der ersten Trennung brachte der Zensor als „Funeral in
Berlin“-Livealbum heraus.
## Das Business frisst ihn auf
Dennoch war er in den frühen 1990er Jahren deutlich mehr im Musikbusiness
involviert, als ihm wahrscheinlich lieb war. Er musste sich um
internationale Lizenzdeals kümmern und mit dem Majorlabel Teldec verhandeln
und schauen, ob es bei seinem US-Partner dem Roots- und Soullabel Rounder
Records etwas gab, das sich trotz aller unbezweifelten Qualität einem
deutschen Publikum verkaufen ließ.
Seinem Profil konnte man Offenheit zubilligen, aber auf manche wirkte das
Zensor-Business nun zuweilen auch wie ein unaufgeräumter
Kraut-und-Rüben-Laden, der sich von seinen Vertriebsdeals vor sich
hertreiben ließ. Dabei war Burkhardt immer noch ziemlich leidenschaftlich,
wenn es darum ging, einem Künstler wie den umwerfenden Steve Jordan
nahezubringen, den „Jimi Hendrix des Tex-Mex-Akkordeon“, wie er ihn damals
vermarktete.
Ende der 1990er konnte man ein von ihm herausgegebenes Buch über und mit
der Albumcover-Kunst von Punk (Vorwort: [3][Malcolm McLaren]) als
Fluchtversuch vor dem Tonträgergeschäft werten. Dass er irgendwann dieses
Treibens mehr als müde geworden war, merkte ich, als ich ihn in den frühen
nuller Jahren mehrfach ziemlich deprimiert und, gelinde gesagt: fertig
durch Charlottenburger Straßen streifen sah.
## Stapelweise LPs beim Second-Hand-Höker
Besonders traurig der Moment, als er stapelweise LPs zu einem der lokalen
Second-Hand-Höker trug. Er habe ein schweres Alkoholproblem, erklärten mir
Freunde, mit denen ich mich beratschlagen wollte, und ich höre auch den
Satz: „Dem ist nicht mehr zu helfen. Wir haben alles versucht.“
Doch so war es denn doch nicht. Ein Jahrzehnt später sah man ihn in alter
Frische häufig bei allen möglichen Konzerten, besonders oft im HKW. Er
hatte versucht, seinen Laden wieder neu aufzustellen, betrieb eine Art
Internetservice für Neue-Musik-Veranstaltungen und Call-for-Papers,
teilweise gemeinschaftlich mit einer Musikwissenschaftlerin. Und: Seiler
vertrieb einen Teil seiner alten Platten wieder und veröffentlichte Texte
zu allem Möglichen, von Tarantino-Filmen bis zu [4][John-Cage-Festivals].
Damals erzählte er mir, dass er gerne publizieren wolle, Onlinejournalismus
zu Musik und dergleichen. Um 2010 bricht der Informationsfluss wieder ab.
Nach 2014 sah ich ihn nicht mehr und, wie es scheint, auch sonst keiner
seiner Freund_innen und Bekannten. Einer wusste, dass Burkhardt sich schon
lange mit allen verkracht hätte, ohne dass man eigentlich sagen könne,
warum. Ausgerechnet Springers Hetzblatt B. Z. gratulierte ihm 2016 noch zu
seinem 63. Geburtstag.
Vor Kurzem meldete Wikipedia Burkhardt Seilers Tod am 1. Februar 2023, aber
der Urheber der Meldung bleibt anonym, hat statt eines Onlinenamens eine
Ziffernfolge. Unklar auch, warum diese Meldung erst jetzt erscheint.
Stattdessen kursieren Gerüchte, Seiler hätte in seinen Krisenperioden nicht
nur seine Plattensammlung, sondern auch Originaltapes verditscht und es
gäbe Pläne, diese noch mal oder auch erstmalig als teure Vinyleditionen zu
verwerten. Die Händler des Undergrounds haben diesen oft vorangebracht,
aber sie haben den Handel als Form verachtet und mussten dies kompensieren.
Daran konnte man als Enthusiast auch kaputtgehen.
4 May 2023
## LINKS
[1] /Saengerin-Lizzy-Mercier-Descloux/!5243451
[2] /Westberliner-Frauenbands/!5817788
[3] /Tod-von-Malcolm-McLaren/!5144667
[4] /John-Cage-zum-100-Geburtstag/!5084910
## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
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