# taz.de -- Sängerin Lizzy Mercier Descloux: Die Gazelle ist eine Kratzbürste | |
> Lizzy Mercier Descloux schrieb schon 1976 über die Punkrebellion. Endlich | |
> werden ihre Alben wiederveröffentlicht. | |
Bild: Hatte Gespür für den Moment, in dem Musikgeschichte geschrieben wurde: … | |
„Sie hatte nie wirklich ein eigenes Zuhause“, sagt Filmregisseurin Kim | |
Massee über ihre Freundin Lizzy Mercier Descloux. „Wenn sie in meiner | |
Wohnung unterkam und ich dann nach Hause zurückkehrte, fand ich nicht mehr | |
mein Zuhause vor, sondern das von Lizzy. Sie machte alles zu ihrem | |
Universum.“ | |
Massee spricht ihrer Freundin ein großes Lob aus: „Lizzy war einzigartig, | |
stets unterwegs und nie da, wo man sie erwartete.“ Lizzy Mercier Descloux | |
hatte ein gutes Gespür für den richtigen Ort, für den Moment, in dem | |
Musikgeschichte geschrieben wurde. Allen voran mischte die Französin bei | |
der Punk- und No-Wave-Szene in New York Ende der Siebziger mit. Anfang der | |
80er vermischte sie weit vor allen anderen Pop mit Folk aus Südafrika. | |
Dennoch, Lizzy Mercier Descloux als Figur und als musikalische Pionierin, | |
beide sind heute weitgehend vergessen. Auch in ihrer Heimat ruft ihr Name | |
höchstens so etwas wie: „So ein aufgedrehtes Mädchen, wie hieß der Song | |
noch mal?“ in Erinnerung. Selbst ihr großer Hit, „[1][Mais où sont passé… | |
les gazelles?“] (Wo sind die Gazellen geblieben), droht allmählich, in | |
Vergessenheit zu geraten. | |
## Partners in Crime | |
Umso wichtiger, dass das auf die Wiederentdeckung von vergessenen Künstlern | |
spezialisierte US-Label Light In The Attic nach und nach alle Werke von | |
Lizzy Mercier Descloux wieder zugänglich macht. Michel Esteban, bei dessen | |
Label ZE Records Descloux’ einst unter Vertrag stand, bestätigt den Deal: | |
„Das Projekt startete ich 2014 – zehn Jahre nach Lizzys Tod.“ Als Mercier | |
Descloux 1975 mit gerade 19 Jahren zum ersten Mal nach New York kam, | |
schwebte ihr noch keine Popkarriere vor. Damals waren Esteban und sie ein | |
Paar, dann „Partners In Crime“, wie er sagt. So hat er auch die Ausstellung | |
getauft, die demnächst in Paris und New York zu sehen sein wird und später | |
auch in Köln. | |
Sie wird Fotos zeigen, die Descloux und Esteban zunächst als ReporterInnen | |
für ihr eigens gegründetes Magazin Rock News schossen, das der New Yorker | |
Punk-Avantgarde gewidmet war. Damit füllte das Paar eine Lücke in der | |
französischen Presselandschaft der Siebziger: Außer ihnen hatte niemand die | |
Punkrebellion bemerkt, die dabei war, die saturierte Popwelt vom Kopf auf | |
die Füße zu stellen. So berichteten sie über die ersten Konzerte von Patti | |
Smith, Television, The Ramones, Talking Heads und besuchten die Sex Pistols | |
zu Hause in London. | |
Rock News hielt knapp ein halbes Jahr durch: „Damals wurde man von | |
bahnbrechenden neuen Bands und Stilen förmlich überrollt, somit hatte sich | |
das Thema für uns bald erledigt“, erinnert sich Esteban. „Und jeden Monat | |
ein Magazin zu machen, das ist auf Dauer doch anstrengend. Unsere | |
künstlerische Freiheit war uns wichtiger.“ Sie packten ihre Koffer und | |
zogen nach New York. | |
1977 brachte Descloux dann mit Hilfe von Esteban ein Buch heraus, dessen | |
3.000 Exemplare schnell verkauft waren und das nun im Eigenverlag ebenfalls | |
wiederveröffentlicht werden soll. „Desiderata“ besteht aus Gedichten von | |
Mercier Descloux, einem Vorwort und Zeichnungen ihrer damaligen | |
Mitbewohnerin Patti Smith, Collagen und Texten von Richard Hell, auch Punk | |
der ersten Stunde, heute ein berühmter Schriftsteller und damals Descloux’ | |
Geliebter. Es war Liebe auf den ersten Blick, behauptet Hell in seiner | |
Autobiografie „I Dreamed I Was A Very Clean Tramp“. | |
Mercier Descloux war die Musik wichtiger. „Patti spornte uns die ganze Zeit | |
an, auch eine Band zu gründen“, erklärt Esteban. „Das machte man damals | |
so.“ Sie kauften Gitarren, probten. Doch für ihn war das nichts, gesteht | |
Esteban. Er gründete stattdessen mit dem Briten Michel Zilkha ZE Records. | |
Lizzy Mercier Descloux aber war von der Musik besessen. | |
## „I’ll never have a golden throat“ | |
Als „Rosa Yemen“ – Rosa wie Luxemburg, Yemen wie Arthur Rimbauds zweite | |
Heimat – trat sie mit DJ Barnes, Estebans Bruder, in New Yorker Clubs auf. | |
Eine Liveaufnahme führte zu einer ersten LP bei ZE. Die sechs | |
experimentellen Gitarrensongs, begleitet von Descloux’ deklamierten | |
Parolen, stehen in totalem Kontrast zu ihrem Debütalbum „Press Color“, | |
einem glühenden Mix aus Punk und Funk, No Wave und Disco. „I’ll never have | |
a golden throat“ – sprich „Ich werde nie gut singen“ – singt sie im S… | |
„No Golden Throat“. In „Wawa“ packt sie anhand beider Titelsilben den | |
getakteten Bass bei den Hörnern, während sie den weit lasziveren „Torso | |
Corso“ mit kecker Nonchalance dominiert. | |
Voll zur Geltung kommt Descloux’ eigensinniger Gesangsstil auf ihrem tollen | |
zweiten Album, „Mambo Nassau“, das auf Einladung von Island-Records-Eigner | |
Chris Blackwell in seinen Compass Point Studios auf den Bahamas produziert | |
wurde. Zeitgleich nahm dort auch Grace Jones ihr Opus magnum | |
„Nightclubbing“ auf, und so traf Lizzy Mercier Descloux in Nassau auf eine | |
weitere experimentierfreudige Musikfamilie, die irgendwo zwischen Funk, | |
Punk, Disco und Reggae werkelte – ein neues Zuhause ihrer wachsenden | |
Leidenschaft für afrikanische und karibische Klänge. | |
Koproduzent Wally Badarou erinnert sich: „Der Groove war Lizzys Fokus, sie | |
vertrat die Idee, Texte und Stimmen würden sich aus ihm generieren.“ | |
Zunächst irritiert von ihrem scheinbaren Dilettantismus, erkannte er bald: | |
„Sie überließ der Improvisation einen grundlegenden Platz, wobei sie ganz | |
genau wusste, wonach sie suchte und was sie konsequenter Weise nicht | |
wollte.“ | |
Vor verspielt summendem Chor und dubbigen Samples bellt, knurrt und | |
kreischt sie selbstbewusst ihre onomatopoetischen Erfindungen, deren Sinn | |
für die Hörer nicht eindeutig zu verstehen ist. Ähnlich wie „Press Color“ | |
erreichte auch das funkige „Mambo Nassau“ nicht das ganz große Publikum. | |
„Der Vertrieb lief katastrophal“, erklärt Esteban. „Wichtig war für Liz… | |
nur ihr eigenes Ding, Popularität oder Reichtum interessierte sie nicht die | |
Bohne.“ | |
Mercier Descloux schwirrte bereits die nächste fixe Idee vor: eine | |
Kollaboration mit südafrikanischen Mbaqanga-Musikern – dem Apartheidregime | |
und dem kulturellen Boykott der UNO gegen Südafrika zum Trotz. Diesen in | |
den Sechzigern in Soweto entstandene Musikstil aus Marabi-, Kwela Jazz und | |
traditionellen Zulu-Elementen, den Descloux durch das Label Ocora Radio | |
France für sich entdeckte, wollte sie nun mit französischem Pop kreuzen. | |
## „Als würden Igel aufeinandertreffen“ | |
Für die afrikanischen Musiker machten ihre Ideen zunächst gar keinen Sinn. | |
Was sollte man von dieser Frau mit Federn im Haar überhaupt halten? „Weiße | |
Frauen in Südafrika pflegten dort eher den Stil von Lady Di“, erinnert sich | |
Esteban an ihre gemeinsame Reise 1984. „Die erste Begegnung fühlte sich an, | |
als würden Igel aufeinandertreffen. Sobald den Musikern aber klar wurde, | |
dass wir durchgeknallt sind und es mit der Zusammenarbeit ernst meinen, | |
ging alles leicht.” | |
Mit „Zulu Rock” legte Descloux den Grundstein zum Worldbeat – zwei Jahre | |
bevor Paul Simons „Graceland“ zum Welterfolg wurde. Descloux’ drittes Opu… | |
das sich ein Stück fröhlicher, leichter, ja fast besonnener als seine | |
Vorgänger gibt, ließ Frankreich erstmals aufhorchen. Der Song „Mais où sont | |
passées les gazelles“ lief ständig im Radio, „Zulu Rock“ gewann den „… | |
d’acier“-Preis für das beste Rockalbum. Doch die geplante Tour sowie das | |
anschließende Projekt, Mbaqanga mit Cajun-Musik in New Orleans zu | |
verschmelzen, war zum Scheitern verurteilt: Die Apartheidregierung ließ die | |
Musiker nicht ausreisen. Vom Medienrummel überdrüssig geworden, flüchtete | |
Descloux eine Weile nach Asien. | |
Zwei relativ uninspirierte Alben folgten: „One For The Soul“ und „Suspens… | |
im Jahr 1988 mit dem Trompeter Chet Baker, der wegen seiner Heroinsucht nur | |
noch ein Schatten seiner selbst war, floppten. Descloux zog sich zurück, | |
widmete sich fortan in aller Stille der Literatur und Malerei. | |
Retrospektiv hatte Lizzy Mercier Descloux mit der Musikindustrie Glück und | |
Pech zugleich. Immerhin durfte sie experimentieren, konnte ungehindert | |
reisen, obwohl sie keine Hitlieferantin war. Ein Schicksal, dass sie mit | |
anderen tollen Künstlern teilt. Nur dass Mercier Descloux’ Werk sehr bald | |
in Vergessenheit geraten würde, bleibt ihren Weggefährten bis heute ein | |
Rätsel, denn die Französin war eine genuine Popvisionärin und ihre Musik | |
ist gut gealtert. „Sie ließ sich nicht korrumpieren“, glaubt Kim Massee. | |
„Das Popbiz widerte sie an. Sie wollte da nicht mitmachen, und sie konnte | |
auch nicht.“ | |
2003 wurde bei Descloux Krebs diagnostiziert. Massee erinnert sich, wie | |
Lizzy ihr in einem Pariser Café die schlimme Nachricht übermittelte. | |
„Trotzdem haben wir uns schiefgelacht. Das Leben mit ihr war ein Fest.“ Sie | |
blieb nur kurz im Krankenhaus, denn sie wollte dort nicht sterben. „Aber | |
ihr Krankenzimmer war ganz besonders: Nach ein paar Tagen hatte sie alles | |
umdekoriert. Es war wie Ali Babas Höhle.“ | |
17 Oct 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.dailymotion.com/video/xq0529_lizzy-mercier-descloux-mais-ou-sont… | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
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