# taz.de -- Die Geschichte des Gilles Bertin: Frankreichs Punk-Rock-Bankräuber | |
> Er war Sänger einer legendären Punkband, dann raubte Gilles Bertin eine | |
> Bank aus und war 28 Jahre auf der Flucht – bis er sich freiwillig | |
> stellte. | |
Bild: Gilles Bertins (l.) raubte eine Bank aus – und war 28 Jahre auf der Flu… | |
Aus sicherer Distanz blickt Gilles Bertin auf die Passanten herunter, die | |
in Toulouse aus der U-Bahn am Place des Carmes strömen. Er ist 1,90 Meter | |
groß und 57 Jahre alt. Er wirkt unbeteiligt und konzentriert zugleich. Sein | |
kräftiger Handschlag, mit dem er einen begrüßt, überrascht fast ein wenig, | |
doch sein schmales Gesicht zeigt keine Regung. | |
Smalltalk-Versuche wimmelt er mit sanfter Stimme gleich ab. Nein, das | |
WM-Finale habe er nicht gesehen: „Rien à foutre“ – kein Interesse. Er | |
deutet lieber gleich in Richtung eines Cafés, in dem man sich in Ruhe | |
unterhalten könne. | |
„Sobald ich einen Moment für mich habe, schreibe ich lieber an meinem | |
Buch“, sagt der Mann, der in den achtziger Jahren Sänger einer der | |
bedeutendsten französischen Punkband war, der einen der spektakulärsten | |
Banküberfälle der jüngeren Geschichte verübte, danach über 28 Jahre lang | |
auf der Flucht blieb, sogar für tot erklärt wurde – und sich dann der | |
Justiz gestellt hat, völlig überraschend und freiwillig. | |
Außer einigen auf Schmierpapier gekritzelten Songzeilen hatte Bertin bis | |
vor Kurzem kaum literarische Ambitionen. Doch als der Robert-Laffont-Verlag | |
das Angebot machte, seine Autobiografie zu veröffentlichen, zögerte er | |
nicht lange: „Ich hatte keine Ausweispapiere, durfte also nicht legal | |
arbeiten und hatte nichts Besseres zu tun.“ Bertin zuckt mit den Schultern. | |
„Mir tut es gut, und der Verlag scheint zufrieden. Meine Geschichte ist | |
anscheinend interessant. Es tut sich einiges.“ | |
## Schreibblockade auf der letzten Strecke | |
Dem kann niemand widersprechen. Er sagt, den Großteil seines Buchs habe er | |
schnell rausgehauen. Die letzte Strecke falle ihm nun allerdings schwer. | |
Schreibblockade. Schuld war zunächst der Stress wegen seines Prozesses: | |
Bertin drohten noch im Juni bis zu zwanzig Jahre Haft. Letztlich bekam er | |
fünf Jahre auf Bewährung. Mit der unerwartet milden Wende in seinem | |
bewegten Leben muss er nun aber auch erst mal klarkommen. | |
Gilles Bertin wurde 1961 in Paris geboren, mit elf Jahren zog er nach | |
Pessac bei Bordeaux, wo sein Vater eine Stelle als Arbeiter in einer | |
Münzprägestätte annahm. Mit im Gepäck war seine erste Single, Elvis | |
Presleys „What I say“ auf der A- und „Viva Las Vegas“ auf der B-Seite. | |
„Schon früh interessierte ich mich für Rock ’n’ Roll“, erinnert er si… | |
„Als Teenie hörte ich Glamrock, bis mich der Punk der Ramones und Sex | |
Pistols regelrecht überrollte. Ich tauchte komplett ein.“ | |
Eine Erweckung. Bertin schmiss seine Ausbildung als Mechaniker, verbiss | |
sich tief in die Punkszene, schlief in besetzten Häusern, machte mit der | |
Nadel Bekanntschaft und fuhr, sooft es nur ging, nach England – „mit Geld, | |
ohne Geld, egal! Wir aßen, was wir fanden“, erzählt er. „England war unse… | |
Pilgerstätte: Alle europäischen Punks trafen dort aufeinander.“ Der | |
Begeisterung für britische Bands wie Sham69, UK Subs oder Cockney Rejects, | |
Vorreiter der proletarischen Subgenres Oi! und Street Punk, folgten Taten: | |
1981 gründete Bertin mit seinen Kumpels Benoît Destriau und Philippe | |
Schneiberger eine eigene Band. Ihr Name, Camera Silens, bezog sich auf die | |
Einzelzellen der inhaftierten Mitglieder der deutschen RAF. Das passte: | |
„Wir waren immun gegen jegliche Form von Autorität und wollten uns in | |
keinster Weise in die Gesellschaft integrieren.“ | |
Im Café angekommen treffen wir auf Jean-Manuel Escarnot, er trinkt dort | |
jeden Morgen seinen Espresso. „Wie läuft es mit dem Schreiben?“, fragt der | |
Korrespondent der Tageszeitung Libération. „Geht so“, murmelt Bertin. | |
## Keine Profigangster, sondern ein Haufen Punker | |
Escarnot durfte 2016 als erster exklusiv über Bertins Jahre auf der Flucht | |
und seine Rückkehr berichten. An den Coup 1988 erinnert er sich gut: „Alle | |
sprachen nur davon, sowohl die Zeitungen als auch das Milieu, das wild | |
darüber spekulierte, welche Bande wohl hinter dem Überfall steckte.“ Als | |
herauskam, dass es keine Profigangster waren, sondern ein Haufen Punker, | |
Drogenabhängiger und Anarchisten, fiel allen die Kinnlade herunter. | |
Bertin schweigt. Er zückt seine E-Zigarette, sein Blick sucht nach dem | |
Wirt, um nach Erlaubnis fürs Rauchen zu fragen. Doch der plaudert gerade | |
auf der Terrasse mit einem Kunden. Bertin seufzt, die E-Zigarette steckt er | |
wieder ein. | |
„Damals kannten wir uns noch nicht, doch unsere Wege haben sich bestimmt | |
schon früh gekreuzt, denn auch ich war Punk“, fährt Escarnot fort. Über das | |
berühmt-berüchtigte Konzert der Stranglers 1980 in Nizza gerät er gleich | |
ins Schwärmen: „Der Sound war miserabel, und schon nach dem zweiten Song | |
kündigte die Band an: ‚Wir hauen ab! Bis auf unser Equipment könnt ihr hier | |
alles zu Klump hauen.‘ “ Bertin nickt und dreht sich wieder um, doch der | |
Wirt ist immer noch draußen. Leise nörgelnd nimmt er heimlich einen Zug und | |
bläst den Dampf unauffällig in die vorgehaltene Hand. | |
„Wir sind zu hundert im Saal geblieben und haben alles zertrümmert“, | |
beendet der Journalist seine Anekdote und steht zur Verabschiedung auf: | |
„Übermorgen, Aperitiv bei mir. Ich back ’ne Obst-Charlotte.“ | |
## Die kompromissloseste Band von Bordeaux | |
Ein Lächeln fährt über Bertins Gesicht. „Obst-Charlotte? Der Typ wird nie | |
aufhören, mich zu überraschen.“ Dann übernimmt er das Gespräch und erinne… | |
sich an die Anfänge von Camera Silens. | |
Sechs Monate lang übten die Autodidakten wie besessen, bevor sie sich | |
erstmals vor ein Publikum stellten. Das war 1982 im Rahmen eines | |
Wettbewerbs. Dabei holten sie prompt den ersten Preis: zehn Tage in einem | |
Aufnahmestudio. „Das war unser Start.“ | |
Schnell machte sich Camera Silens einen Namen als die kompromissloseste | |
Band von Bordeaux. Ihre gegrölten, von Destriau an der Gitarre und Bertin | |
am Bass begleiteten Songtexte beschworen einen trostlosen Alltag zwischen | |
Drogen und Langeweile – Nihilismus pur. Egal wo sie fortan auftraten, ihnen | |
folgte eine wachsende Schar von Skins und Punks, die ihrem Genre den Namen | |
gaben: Skunk. | |
Der Rest ist Musikgeschichte. „1977 war Punk in Frankreich noch eine | |
kleine, hauptsächlich auf Paris beschränkte Randerscheinung“, berichtet | |
Glamrocker und Journalist Patrick Scarzello aus Bordeaux, der momentan an | |
der Biografie der Band schreibt. „Camera Silens kannte zunächst außerhalb | |
Bordeaux kaum jemand. Doch die schrägen Typen, die ihnen von Konzert zu | |
Konzert folgten, zogen überall die Blicke auf sich. So kam Punk von seinem | |
Künstlermilieu auf die Straße.“ | |
## Tattoos, gefärbte Haare oder kahlgeschorene Köpfe | |
„Im Zuge der zweiten Punkwelle tauchten auf einmal überall neue Bands auf, | |
viel mehr Alben wurden produziert“, bekräftigt Exgitarrist Benoît Destriau, | |
der heute in Paris als Toningenieur arbeitet. Alle sechs Monate erreichte | |
Frankreich ein neues Subgenre, vom Psychobilly, über Ska und Street Punk | |
bis zum Oi!, stets gab es dazu einen passenden Dresscode. „Von der Bühne | |
blickten wir über ein ziemlich hartes Publikum“, sagt Destriau: „Gewalt war | |
damals das verbindende Element. Gewalt war unsere Ausdrucksweise. Damit | |
reagierten wir auf eine nicht minder gewaltbereite Gesellschaft, die uns | |
vor dem Hintergrund der bleiernen Jahre mit wenig Empathie entgegenkam.“ | |
Tattoos, gefärbte Haare oder kahlgeschorene Köpfe machten aus ihnen | |
Außenseiter – und sie setzten noch eins darauf: „Wir hatten null Absicht, | |
die Hippiebewegung fortzusetzen.“ | |
Zu den Gefolgsleuten von Camera Silens gehörten eine Menge unvergesslicher | |
Figuren. Eine junge Frau namens Patou, die ihren Freund Caniche (Pudel) | |
stets an einer Leine hinter sich her führte. Oder Grand Claude, Beiname | |
„der Unsterbliche“, der sich zwei Kugeln in die Brust einfing, als er den | |
von Dealern entführten Schlagzeuger der Band befreien wollte – und der wie | |
durch ein Wunder überlebte. „Wir hatten nie Ärger“, versichert der damali… | |
Manager der Band, Jean-Marc Gouaux. „Und wenn mal einer die Gagen nicht | |
herausrücken wollte, hatten wir dank unserer Fans immer schlagende | |
Argumente auf unserer Seite.“ | |
Die finanzielle Lage der Band aber blieb prekär. Dank kleiner Nebenjobs | |
hielt man sich über Wasser, so konnte man sich einen Proberaum leisten und | |
natürlich die Drogen. Bertin glitt dabei allmählich in die | |
Kleinkriminalität ab. Eine ausgeraubte Villa führte 1983 zu einem | |
Gefängnisaufenthalt, der Heroinentzug traf ihn dabei mit voller Härte. Dort | |
lernte er Didier Bacheré kennen und den Basken José Gomez y Martin alias | |
Iñaki, früher Mitglied der Comandos Autónomos Anticapitalistas – sie wurden | |
zu den Drahtziehern des monatelang minutiös vorbereiteten Überfalls, der zu | |
Bertins Flucht führen würde. | |
Als er nach sieben Monaten wieder aus dem Gefängnis kam, hatte ihn Éric | |
Ferrer am Bass ersetzt. Bertin war das recht, er wechselte einfach ans | |
Mikrofon. Gouaux, der Manager, erinnert sich: „Er sang eigentlich kaum und | |
reichte lieber das Mikro ins Publikum. Irgendwie sorgte das für starke | |
Bindung.“ | |
## Konzerte werden von Skins gestürmt | |
Ab Mitte der Achtziger wurden die Konzerte zunehmend von Skins gestürmt, | |
die ins rechtsextreme Lager gerutscht waren. Darunter befand sich Serge | |
Ayoub, Leader der inzwischen verbotenen Nationalistischen Revolutionären | |
Jugend, der sich „Batskin“ nennen ließ – wegen seines Baseballschlägers | |
(batte auf Französisch), mit dem er alles um sich herum kurz und klein | |
schlug. | |
„Wir hatten schon mitgekriegt, wie sich das Publikum langsam zu spalten | |
begann, doch die Faschos waren zuerst eigentlich nur eine Randerscheinung. | |
Die meisten davon waren politisch völlig inkohärent“, erinnert sich Bertin. | |
„Heute allerdings sind sie keine Außenseiter mehr.“ Er blickt auf die | |
Trikolore, die wegen der WM in jedem Laden hängt, auch hier im Café. Bertin | |
stört das: „So was scheint niemand mehr zu hinterfragen.“ | |
Irgendwann artete jedes zweite Konzert in eine zerstörerische Saalschlacht | |
aus, und das war auf Dauer ermüdend. Viele Freunde der Band zahlten für die | |
Exzesse mit dem Leben. Dann kam Aids. „Es gab Jahre, da bin ich zu zehn, | |
zwölf Beerdigungen gegangen“, berichtet Gouaux. „Alle starben, keiner | |
verstand warum, und wir begannen, uns zu fragen, ob das mit unserem | |
Lebensstil zu tun hatte.“ | |
Eine Epoche ging bitter zu Ende. Die Band versuchte noch einen letzten | |
Schwenk Richtung Soul und Rocksteady. „Doch das verlangte im Vergleich zum | |
technisch weit einfältigeren Punk musikalische Versiertheit, die uns | |
fehlte“, gesteht Destriau. „Wir vermasselten die Konzerte, die wir hätten | |
nicht vermasseln dürfen“, so Ferrer. Zu dieser Zeit ahnte die Band | |
höchstens von Bertins anhaltendem kriminellen Parallelleben. „Als die | |
Konzertkasse ein Loch hatte, half er mir mal mit ein paar tausend Francs. | |
Woher er die hatte? Keine Ahnung“, so Gouaux. „Mal mietete er einen viel zu | |
fetten Campingbus, um voll beladen mit Punks auf ein Festival zu fahren“, | |
sagt Ferrer. | |
## Es fiel kein einziger Schuss | |
Als Bertin eines Tages endgültig verschwand, war bei Camera Silens die Luft | |
raus. Was mit ihrem Freund los war, erfuhr die Band – genau wie der Rest | |
Frankreichs – erst durch die Schlagzeilen: Am 27. April 1988 überfiel | |
Bertin das Lager der Geldtransportfirma Brink’s Company in Toulouse. Es | |
wurde ein legendärer Coup, ausgeführt von einer Bande aus neun Männern und | |
fünf Frauen. Er beinhaltete die Entführung des Besitzers der vertraulichen | |
Lagepläne, das Entwenden des geheimen Zugangscodes und das Ausschalten des | |
Lagerpersonals – als Polizei verkleidet. Die Beute: 11,7 Millionen Francs | |
(umgerechnet 1,8 Millionen Euro). Dabei fiel kein einziger Schuss. Der | |
perfekte Coup? | |
Nein. Alle der 13 Beteiligten wurden kurze Zeit später geschnappt. Außer | |
Bertin. Ihm gelang die Flucht. Und er verbarg sich so gut, dass er 2010 von | |
den französischen Behörden für tot erklärt wurde, während er sich die ganze | |
Zeit über in Spanien und Portugal versteckt hielt. Doch dann, urplötzlich, | |
im November 2016, ging Bertin zu Fuß über die Grenze Richtung Frankreich, | |
fuhr mit dem Zug weiter nach Toulouse, ging direkt zur nächsten Gendarmerie | |
und erstattete eine Selbstanzeige, um seine Schuld zu begleichen. | |
„Gilles kontaktierte mich 2016, weil ich einmal einen früheren Freund von | |
ihm verteidigt hatte“, erzählt der Anwalt Christian Ételin am Telefon. „Er | |
teilte mir mit, dass er die Heuchelei, in der er lebe, satt habe, und dass | |
er Rechtsbeistand brauche.“ Ételin hat berühmte Mandanten – vom | |
Umweltaktivist José Bové über den Gründer der linksradikalen | |
Terrororganisation Action Directe bis zum Attentäter von Toulouse. Er ist | |
selbst eine Art Legende. Er wusste sofort: „Schon allein wegen des | |
damaligen Medienechos und Gilles’ Profils war zu erwarten, dass der Fall | |
Wellen schlagen würde.“ | |
In Toulouse angekommen, brachte der Anwalt Bertin als Erstes mit dem | |
Journalisten Escarnot in Verbindung, dem er in Ruhe seine Geschichte | |
anvertrauen sollte, bevor sich die Medien auf die Sensation stürzen. | |
## Ohne Papiere und soziale Absicherung | |
Und so erfuhr man, wie sich Bertins mühsam erkämpfte Normalität im Exil | |
spätestens ab 1995 zerschlagen hatte, als er HIV-positiv diagnostiziert | |
wurde. Ohne Papiere und soziale Absicherung traute er sich in kein | |
Krankenhaus, bis er völlig abgemagert in eine Klinik im Barreiro, einem | |
kommunistischen Städtchen am Rande Lissabons, eingeliefert und behandelt | |
worden war. | |
Zwei Jahre verbrachte er zwischen Leben und Tod – viel Zeit zum Nachdenken. | |
Immer wieder von seiner Vergangenheit heimgesucht, wurde ihm klar, wie er | |
jegliche Orientierungspunkte verloren hatte. „Seitdem nagte es an mir, | |
meine Situation zu beenden, denn jetzt war ich wirklich komplett außerhalb | |
der Gesellschaft angelangt. Doch der Preis dafür war hoch. | |
Verwaltungstechnisch existierst du nicht. Du kannst dich an niemanden | |
wenden, niemandem irgend etwas über dich erzählen. Du isolierst dich. Es | |
gibt dich einfach nicht“, sagt er. Doch er versucht es weiter, zieht mit | |
seiner Freundin nach Barcelona, arbeitet in der Bar ihrer Eltern. | |
Über die Jahre reift ein Entschluss. Als er 2011 Vater wird, führt für ihn | |
kein Weg mehr daran vorbei: „Lieber ging ich ins Gefängnis, als dass mein | |
Sohn mit einer Lüge aufwächst. Er sollte die Wahrheit erfahren.“ | |
Für seine ehemaligen Kumpel aus der Band war die plötzliche Rückkehr des | |
verschollenen Freundes nach 28 Jahren eine emotional aufwühlende Nachricht. | |
Okay, Bertin war noch nie der Typ, der in die Bar kommt, einem auf den | |
Rücken klopft und mit seinem Leben hausieren geht. „Es war damals einfach | |
für uns gewesen, den Bullen nichts zu erzählen. Wir wussten ja selbst | |
nichts“, erklärt Gouaux. | |
## Bei Aperitiv und exquisiter Obst-Charlotte | |
Er musste sich äußerst ruppigen Polizeiverhören stellen, doch deswegen ist | |
er nicht nachtragend. Niemand ist das. „Typen wie Gilles kann man nicht | |
böse sein. Er hat ja wahrlich genug durchgemacht“, meint Destriau. „Nicht | |
einmal die Brink’s Company hielt es für nötig, einen Vertreter zu seinem | |
Prozess zu schicken.“ Dafür kamen die alten Freunde, selbst der Sohn von | |
Grand Claude erschien, weil er etwas über die Vergangenheit seines | |
inzwischen verstorbenen Vaters erfahren wollte. | |
Es war, als sei Gilles Bertin wiederauferstanden – und wie es der Zufall so | |
wollte, erwachte zeitgleich in Frankreich auch das Interesse für die | |
Punkjahre der siebziger und frühen achtziger Jahre. | |
Im vergangenen Jahr erschien zum Beispiel die Kompilation „Les Punks: The | |
French Connection“ beim britischen Label Soul Jazz samt Booklet mit | |
zahlreichen Fotos und Interviews zur weit verkannten ersten Punkwelle in | |
Frankreich. Und seit 2014 wird an der Universität von Bordeaux zur | |
französischen Punkgeschichte ab 1976 geforscht – im Rahmen des Projekts | |
Pind (für: Punk is not dead, was sonst). | |
Leider halten auch einige zweifelhafte alte Fans der Band Camera Silens bis | |
heute die Treue: Immer wieder tauchen ihre Songs auf Raubkompilationen mit | |
rechtsextremen Bands auf. „Wir waren ja auch keine Engel“, schüttelt Bertin | |
den Kopf. Das ist der Preis, den die Band für ihre frühere Abneigung gegen | |
jegliche Politikdiskurse zahlen muss. Erst 2003 erlaubte es Destriau, dass | |
alle Alben beim Label Euthanasie Records neu veröffentlicht werden. „Vier | |
Jahre lang hat mich Label-Chef David damit genervt und schließlich mit dem | |
Argument überzeugt, dass man sich nur durch eine offiziellen | |
Wiederveröffentlichung gegen die wilde Plünderung unseres Repertoires | |
wehren könne.“ | |
Bei Aperitiv und exquisiter Obst-Charlotte in Escarnots Häuschen taucht | |
Eugénie Grandval auf, die derzeit einen Dokumentarfilm über Bertin dreht. | |
Sie erzählt, dass der Privatsender Canal+ sich bereits die Rechte an | |
Bertins Autobiografie gesichert hat, um daraus eine Fernsehserie zu | |
produzieren. Eine Serie? Gilles Bertin zuckt nur mit den Schultern. Er | |
verzieht keine Miene, doch aus seinen Augen schimmert amüsierte | |
Ratlosigkeit. | |
24 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
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