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# taz.de -- „Disco!“ in der Bretagne: Alkoholleichen im Minutentakt
> Das 35. Festival Trans Musicales füllt in der bretonischen Stadt Rennes
> kleine Bars und große Hallen mit Tanzenden, Trinkenden und der Musik von
> 63 Bands.
Bild: Stromae, auf der Bühne mit Hemd und Fliege, singt von „Moules Frites�…
Mögen Sie Boogaloo? Oder Chicha-Musik? Und wieso zittert man eigentlich wie
Espenlaub? Das sind Fragen, die einen während eines Konzerts der
kolumbianischen Band Meridian Brothers beschäftigen. Sie spielen in einer
zugigen Halle auf dem Messegelände Parc Expo in der bretonischen Stadt
Rennes. Die Meridian Brothers liefern eine tropische Variante von „Disco!“,
so heißt die Klammer, die das diesjährige Programm des
Trans-Musicales-Festivals zusammenhält.
Das Festival hat traditionell ein Faible für Musik aus der Diaspora, und so
teilen sich die Kolumbianer eine Bühne mit Künstlern aus der Ukraine, von
der Insel La Reunion oder Nigeria, ohne dass auch nur einmal der unscharfe
Begriff World Music fällt. Stattdessen tanzen die Zuschauer in Schals und
Mützen, allen widrigen Umständen zum Trotz. Es ist eiskalt, 2 Uhr morgens,
das Festival geht in seine zweite Nacht. Das Quintett aus Bogota um den
nervösen Gitarristen Eblis Alvarez und die quirlige Saxofonistin Maria
Valencia spielt sich warm.
Während Valencia stoisch auf ihre Kuhglocke eindrischt, wird sie plötzlich
vom Schüttelfrost gepackt, am ganzen Körper zitternd, reagiert sie auf die
Musik. Aus einer Farfisa-Orgel purzeln leiernde Tonfolgen, die wie Efeu
über die Rhythmen wachsen. Immer klingt es, als hätten die Töne zu lange in
der Sonne gelegen.
15 Minuten mögen vergehen, bis so ein psychedelischer Jam in den nächsten
überführt wird. Man ist wie in Trance. Das Schlagzeug pulst mit der
ständigen Betonung von Blechtrommel und HiHat, dazu Percussion, scharf
angespielte Gitarrenriffs und ein Bass, der den Boden zum Beben bringt. Die
Meridian Brothers lassen sich durch nichts aus ihrem tropischen Konzept
bringen. Aus der Halle nebenan dringen dumpfe Sounds eines DJs. „Der Song
heißt DJ of Love,“ sagt Eblis Alvarez, grinst. Bei Maria Valencia bricht
wieder der Schüttelfrost aus.
## Sanitäter im Minutentakt
Manche Zuschauer haben sich da schon bewusstlos getrunken. Eintrittspreise
beim Trans Musicales sind traditionell niedrig (21 Euro pro Abend, 18 Euro
verbilligt). Um Geld zu sparen, wird schon im Shuttlebus Schnaps und Bier
getrunken. Selbst der Polizeipräfekt von Rennes wurde darob melancholisch.
Er wünsche sich die Zeiten von Punk zurück, da sei die Musik zwar
schrecklich gewesen, aber der Konsum von Alkohol und Drogen wäre
überschaubar geblieben. 22.000 Karten wurden dieses Jahr allein für das
Messegelände Parc Expo und seine drei Hallen verkauft, wo von Donnerstag
bis Samstag 63 Künstler aufgetreten sind. Freitagnacht bringen Sanitäter im
Minutentakt Alkoholleichen mit herabbaumelnden Armen auf Tragen zu den
Einsatzfahrzeugen.
## Bizarre Welt
Mondo Bizarro. Bizarre Welt. Das ist der Name eines kleinen Clubs in
Rennes. Wie hier beherbergen Bars in der Altstadt rund um den Platz Saint
Anne Bands und veranstalten während des Festivals Konzerte. Etwas ruhiger
als im Parc Expo lässt sich die Musik hier aus nächster Nähe verfolgen, man
kommt schnell ins Gespräch, vor der Tür werden Crepes serviert und
Bratwürste.
Am Donnerstag tritt das Pariser Duo Ici & Lui vor vielleicht 50 Leuten auf.
In einer Sardinenbüchse dürfte es geräumiger sein, macht aber nichts. Das
Duo lässt mit Sampler, Trompete und Gitarre die versunkene Welt von Labels
wie Celluloid Records wieder auferstehen. Es reicht, dass man Ici & Lui
hört, um sofort an Alan Vega oder Lizzy Mercier Descloux zu denken.
Künstler, die Ende der Siebziger Grenzen zwischen Punk und Disco überwunden
hatten. Heute müssen Ici & Lui nichts mehr überwinden, ergo ächzt es auch
nicht so dringlich wie früher. Dafür lassen sie zu ihren Songs auf einer
kleinen Leinwand Manga-Filme laufen, wir sind ja schließlich im Club Mondo
Bizarro.
„Hier ist es ziemlich bizarr“, sagt auch Stromae am Freitagabend zur
Peaktime in der ausverkauften Halle 9. „Ist es immer so bizarr bei euch?“
Ohrenbetäubender Lärm als Antwort. Stromae hat die 7.000 Zuschauer auf
seiner Seite. Die Hände schnellen nach oben und bleiben da während
anderthalb Stunden. Paul Van Haver; der belgisch-ruandische Dancerapper,
der sich Stromae (Maestro mit vertauschten Silben) nennt, ist in Frankreich
der Senkrechtstarter des Jahres. Monatelang war er mit seinem Album „Racine
Carrée“ auf Nummer eins. Stromaes Eurodance-Sound mit französischem
Sprechgesang schlägt Brücken zwischen HipHop und Chanson.
## Bei Stromae wird frenetisch mitgesungen
Auf der Bühne bleibt er Gentleman, trägt Hemd mit Fliege, Weste und
maßgeschneiderte Anzüge, tanzt athletisch und beherrscht das Spiel mit
Hooklines und simplen Texten. Ständige Wortwiederholungen, Abzählreime.
Stromae leitet offenkundig die Propagandaabteilung des Banalen. „C’est
formidable“, „Moules Frites“ heißen seine Hits, die frenetisch mitgesung…
werden. Stromae ist hager, erinnert ein wenig an seinen Landsmann Jacques
Brel, aber er bewegt sich wie ein Breakdancer und animiert die Leute, wie
es nur jemand kann, der mit dem Call-and-Response-Schema von HipHop
vertraut ist.
Stromae ist eine Erscheinung, charismatisch, zielsicher, ein
selbstbewusster Popstar mit Einwandererwurzeln, der nicht nur weiß, wie man
eine Party in Gang bekommt, sondern auch, wie man sie am laufen hält.
## Wurzeln von Disco
Um die Wurzeln von Disco geht es am Samstagnachmittag bei einem Vortrag des
Journalisten Pascal Bussy im Kulturpalast Champs Libre. Sachkundig zieht er
einen Bogen von der „Discothèque“ über den Pophedonismus der siebziger
Jahre bis zur heutigen Clubkultur. Als wüsste man nicht, dass die Grande
Nation Grundlegendes zu dieser glitzernden Geschichte beigetragen hat,
zählt Bussy nochmals Figuren wie Jacques Morali (den Produzenten der
schwulen Discoband Village People), den DJ François Kevorkian oder die
Sängerin Sheila B. auf. Hernach spielt die New Yorker Band Escort um die
Sängerin Adeline Michèle. Die älteren Semester stellen geschwind ihre
Einkaufstüten beiseite und erheben sich von ihren Sitzen, um zu tanzen.
Zur fortgeschrittenen Stunde im Parc Expo wirkt die Disco-Atmosphäre um
einiges rüder. Während das italienische DJ-Duo Tiger & Woods vollkommen
entspannten cheesy House auflegt, rempeln einen Bommelmützen tragende junge
Bretonen ständig an. Leider stellt sich kein Schüttelfrost mehr ein.
9 Dec 2013
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Musik
Bretagne
Sängerin
Musik
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