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# taz.de -- Wuppertaler Kulturzentrum „börse“: Gottseidank nicht in England
> „Die börse“ in Wuppertal ist die Wiege der westdeutschen Punkszene. Nun
> feiert das Kulturzentrum ein ganzes Jahr Jubiläum. Zeit für einen
> Ortsbesuch.
Bild: Sänger Gabi Delgado von Deutsch Amerikanische Freundschaft in Wuppertal,…
„Ich brauch deinen Schutz, und möcht dich beschützen/Ich hab dich
nötig/Will dich nicht benützen“, singt [1][Peter Hein], Sänger der
[2][Fehlfarben], [3][im Song „All that Heaven Allows“], einem Track [4][vom
legendären Album] „Monarchie und Alltag“.
Der große Saal der Wuppertaler „börse“ ist voll. 350 Gäste schwelgen zur
Musik, viele der Anwesenden kennen die Band seit ihrer Gründung 1979,
manche Anwesende besuchen das soziokulturelle Zentrum in Wuppertal sogar
schon seit seiner Eröffnung vor 50 Jahren.
Es gehört zum Inventar der Stadt. Auch die Geschichte der Fehlfarben ist
eng verknüpft mit der „börse“. Wie diese sind die Fehlfarben ein Ergebnis
aus der Aufbruchsstimmung Mitte der 1970er Jahre, „börse“ und Fehlfarben
haben sich ihre Haltung bewahrt und lieben Musik, am liebsten
ohrenbetäubend laut.
## Platz für Jazz
Als die „börse“ ihren Trägerverein im Mai 1973 gründet und schließlich …
8. November 1974 ihre Türen im Gebäude am Viehhof öffnet, gibt das
„Kommunikationszentrum Wuppertal“ jungen Musiker*innen eine Bühne. Die
Gründungsmitglieder Dieter Fränzel und Rainer Widmann räumen zunächst dem
Jazz Platz im Programm ein.
Für den jungen Bassisten Michael Kemner, später Gründungsmitglied der
Fehlfarben, wird die „börse“ daher Mitte der 1970er zum Wohnzimmer. Er
bewundert die, die auf der Bühne stehen: „Ich konnte mir vorher nicht
vorstellen, mal selbst hier aufzutreten.“
Doch ab 1978 gibt börsen-Geschäftsführer Frederick Mann Punk und
Neue-Welle-Bands wie Mittagspause, Der Plan, S.Y.P.H. und
[5][Deutsch-Amerikanische Freundschaft] Auftrittsmöglichkeiten, berichten
[6][Kurt „Pyrolator“ Dahlk]e und Frank Fenstermacher, die beide beim Plan
spielen und dann auch bei den Fehlfarben. Sie haben einen Probenraum in der
„börse“, in dem auch Musik aufgenommen wird, und gehören zu den Stammgäs…
des „Wackeltreff“, der Partyreihe am Donnerstagabend.
## Progressive Subkultur
Wuppertal ist damals ein Zentrum progressiver Subkultur. [7][Fluxuskünstler
Nam June Paik macht hier Aktionen. Freejazz-Saxofonist Peter Brötzmann
fungiert zunächst als dessen Assistent.] Brötzmanns Kollege Peter Kowald
spielt morgens auf seinem Balkon das Alphorn, „was das ganze Viertel mit
anhören durfte“, wie Kurt Dahlke erinnert. [8][Pina Bausch erfindet in
Wuppertal mit ihren Choreographien eine neue Form von zeitgenössischem
Tanz], während eine Variante von Free Jazz von Wuppertal aus in die Welt
röhrt.
Die Fehlfarben nehmen 1980 ihr Album „Monarchie und Alltag“ auf. Das
legendäre Cover ziert das Foto eines schnöden Mehrfamilienhauses im
Wuppertaler Stadtteil Elberfeld. Damals, so erklären es die
Fehlfarben-Mitglieder, brauchte es vor allem Mut und eine Idee, um auf die
Bühne zu gehen. Und Sänger Peter Hein sei dann so auch geblieben: Ein
Anti-Held, immer gegen alles, aber mit Haltung.
Die Aufbruchsstimmung der späten 1970er bis heute zu bewahren ist der Stadt
Wuppertal vielleicht nicht in jederlei Hinsicht gelungen. Doch dass der
„börse“ als eines der ersten soziokulturellen Zentren in Westdeutschland
seit Gründung eine wichtige Instanz für die Stadt – und darüber hinaus für
die Region – Bedeutung zukommt, bleibt unumstritten. Sie hat vielen Bands
wie etwa den Fehlfarben eine Bühne gegeben, bevor sie bekannt wurden. Von
hier aus organisierte sich die Wuppertaler Anti-AKW-Bewegung, viele
Initiativen und Communities finden hier seit 50 Jahren Raum. Der bereits
erwähnte Wackeltreff spielte eine identitätsstiftende Rolle im Leben vieler
Menschen.
## Wird gebraucht, ist immer voll
Dass ein solches Zentrum gebraucht wird, zeigt der Andrang in den ersten
zwei Monaten. 50.000 Besuche zählt die „börse“ allein im November und
Dezember 1974. Das Haus ist immer voll, nicht nur, weil das Angebot von
Konzerten bis zum Engagement für Senior*innen und Jugendliche reicht,
sondern auch, weil die Eintrittspreise so günstig sind, dass sich viele
diese leisten können.
Drei Jahre nach Eröffnung erleidet die „börse“ einen Schock. 1977 brennt
der Dachstuhl des Gebäudes am Viehhof. Die Brandursache ist bis heute
ungeklärt. Das Kommunikationszentrum muss in ein Provisorium in Stadtmitte
ziehen und macht dort weiter, bis es 1981 an den Viehhof zurückkehren kann.
Übrigens hat die „börse“ den Namen der Kneipe übernommen, die sich schon
immer im Gebäude befand.
Die 1980er sind ein Jahrzehnt voller Musik, wofür Punk und NdW sorgen,
schwofend erobern Frauen die Tanzfläche, die halbe Stadt wackelt beim
Wackeltreff mit. Doch es ist auch eine Zeit der politischen
Positionierungen, damals gegen rechtsradikale Skinheads. Die „börse“ darf
sich jedoch nicht zu weit links positionieren, damit die Zuschüsse von der
Stadt nicht gekürzt werden.
## Schwieriger Nachbar
In den 1990ern folgt eine schwierige Zeit. „Ein Anwohner versaut allen die
Party“, erklärt der amtierende Geschäftsführer Lukas Hegemann. Der Nachbar
klagt wegen Lärmbelästigung, bekommt Recht, in der „börse“ herrscht nun …
22 Uhr Nachtruhe.
Mit einem neuen Konzept, das einen Kneipenbetrieb vorsieht und ausgelagerte
Partys, schafft es die „börse“, zu überleben. 1998 zieht sie in eine alte
Fabrik an der Wolkenburg, wo sie sich noch heute befindet. Es bleibt
anstrengend für das Zentrum, auch wenn an der neuen Adresse ordentlich
Krach gemacht werden kann. Die Stadt muss in den Nullern sparen. Nur durch
das Sammeln von Unterschriften und Soli-Demonstrationen wird die „börse“
gerettet – aber die Zuschüsse werden gekürzt.
Heute befindet sich das soziokulturelle Zentrum erneut in einer Phase des
Umbruchs, sagt Lukas Hegemann. Zum 50. Geburtstag wird nun [9][mit vielen
Veranstaltungen ein volles Jahr gefeiert], bis zum November 2024, etwa mit
der Konzertreihe „50 Bands gratulieren“.
## Mehr Lobby für Soziokultur
Fehlfarben haben mit ihrem Auftritt den Auftakt gemacht. Und dass es mal
wieder nicht so rosig aussieht, was die Finanzen angeht, sollte vor dem
Konzert bei einer Podiumsdiskussion mit NRW-Kulturministerin Ina Brandes
(CDU) besprochen werden – doch die Ministerin erschien nicht, weil der
Wissenschaftsausschuss länger tagte. So sind sich bei der Diskussion alle
einig, welche Bedeutung der Soziokultur zukommt. Der Wuppertaler
Oberbürgermeister Uwe Schneidewind (Grüne) erklärt die „börse“ zum
„Identitätsort über Generationen hinweg“. Und Andreas Bialas
(kulturpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion) wünscht der
Soziokultur eine stärkere Lobby.
Moderator Peter Grabowski fügt hinzu, dass solch unterfinanzierte
Einrichtungen oft den Kitt für die Gesellschaft bilden. An einem Vergleich
macht er deutlich, wie der Stellenwert von Soziokultur ist: „Für den
NRW-Kulturetat sind 2023 rund 322 Millionen Euro vorgesehen. Davon gehen
etwa 2,5 Millionen in die Soziokultur, was weniger als einem Prozent
entspricht. Und etwa 85 Millionen Euro sind für die Theaterförderung
gedacht, circa 26,4 Prozent.“
Und das, obwohl soziokulturelle Zentren in NRW im Vor-Pandemie-Jahr 2019
2,6 Millionen Besuche zählten, die öffentlich geförderten Theater in NRW
3,1 Millionen Besuche. Heike Herold, Geschäftsführerin der
Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur, sagt, dass die vom Land geforderten
sieben Millionen Euro pro Jahr für die Soziokultur zwischen den Sparten für
Fairness sorgen könnten. „Wir wollen ja nicht unverschämt sein, wir fordern
nicht 45 Prozent des Kulturetats, aber zwei Prozent wären echt klasse.“
## Fehlende Großzügigkeit
„börse“-Geschäftsführer Lukas Hegemann antwortet auf die Frage, ob das G…
aktuell reicht, dass er schon Gespräche mit Kolleg*innen führe, ob sie
nicht ihre Arbeitsstunden reduzieren. „Das macht keinen Spaß“, findet er.
„Uns fehlt die Großzügigkeit.“ Doch um eine Entscheidung herbeizuführen,
braucht es bei der Diskussion eben die Ministerin. Und die ist leider nicht
dabei.
„Wir spielen jetzt einfach den alten Kack und dann gehen wir nach Hause“,
schlägt Fehlfarben-Sänger Peter Hein später auf dem Konzert lakonisch vor
und stimmt Songs wie „Gottseidank nicht England“ aus dem Album „Monarchie
und Alltag“ an. Was vielleicht als logische Reaktion auf die finanzielle
Lage gedeutet werden kann, bis sich die Soziokultur eines Tages nicht mehr
ganz so prekär organisieren muss.
Trotz allem bejubelt Lukas Hegemann die Fehlfarben-Songs, während Frederick
Mann, der die Band 1979 zum ersten Mal in Wuppertal auf die Bühne holte, in
roten Socken der Musik lauscht. Das Haus vom Cover hat die Band bei ihrem
Besuch in Wuppertal nicht wieder gefunden. Dafür aber ihr Publikum, das für
kurze Zeit wieder in der Aufbruchstimmung der späten 1970er schwelgt.
Transparenzhinweis: Die Autorin hat 2023 zeitweise Pressearbeit für „die
börse“ gemacht
25 Nov 2023
## LINKS
[1] /Musiker-Peter-Hein-ueber-Trotz/!5270454
[2] /Fehlfarben/!t5274096
[3] https://youtu.be/93iqEjTby10?si=dz1aVfq8CzNF9r-V
[4] /!5542377/
[5] /Gabi-Delgado-Lopez-ist-tot/!5670679
[6] /Wire-in-Duesseldorf-am-9111978/!5724147
[7] /Freejazzsaxofonist-Peter-Broetzmann-gestorben/!5942678
[8] /Zum-10-Todestag-von-Pina-Bausch/!5605719
[9] https://www.dieboerse-wtal.de/dieboersewird50/
## AUTOREN
Alina Komorek
## TAGS
Wuppertal
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