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# taz.de -- Deutsch-russisches Verhältnis: Auszeit für Putin
> Russland setzt außenpolitisch auf Expansion und destabilisiert die EU.
> Besonders Deutschland muss lernen, neue Antworten darauf zu finden.
Bild: Wladimir Putin während einer Videokonferenz im Oktober
Werden Deutschland und seine Kanzlerin noch die Sonderrolle wahrnehmen, die
sie im Verhältnis zu Moskau jahrelang innehatten, fragt Dmitri Trenin,
außenpolitischer Analytiker von der Carnegie-Stiftung in Moskau.
Anlass war der Giftgasanschlag auf den Oppositionellen [1][Alexei Nawalny]
in Russland. Nun drängten Ungereimtheiten im beidseitigen Verhältnis an die
Oberfläche. Bislang hatte sich Berlin um das Verständnis des Kreml bemüht
und wurde auch als Erklärer Russlands von den EU-Partnern akzeptiert. Diese
Rolle entfalle nun, so Trenin. Im Umgang mit Berlin empfiehlt er eine
Auszeit, um weitere Irritationen zu vermeiden.
Fjodor Lukjanow sieht die Abkühlung im [2][deutsch-russischen Verhältnis]
gelassener. Dem Herausgeber der einflussreichsten außenpolitischen
Zeitschrift Russia in Global Affairs erscheint der Dialog zwischen Russland
und dem Westen, in dem Deutschland als Hauptgesprächspartner auftrat, eher
„unwahrscheinlich skurril“. Berlins Einfluss entspricht nicht jenem
Gewicht, das es als Vermittler russischer Positionen haben müsste. Nicht
zuletzt erschloss sich Moskau durch militärische Erfolge in Syrien und
Libyen Anerkennung als internationale Führungsmacht.
Für Moskau gelte es daher, ein Verhaltensmodell in einer Welt zu finden,
deren Mittelpunkt Asien ist mit Russlands wichtigstem Partner China.
Brüssel und Berlin hätten es in der Aufbauphase der EU versäumt, Moskau
eine Sonderrolle anzubieten, so Lukjanow.
## Orientierungsphase für neue Identitäten
Gleichwohl hatte der Kreml nie ernsthaft erwogen, sich europäischen Regeln
anzupassen. Unter Boris Jelzin, Russlands erstem Präsidenten, lautete die
Formel noch: Wenn jemand integriert, dann Russland. Mit der Verschiebung
nach Asien breite sich nun ein Wertepluralismus aus, dem Europa sich nicht
widersetzen könne. Lukjanow plädiert für Distanz zwischen Moskau, EU und
Berlin. Im Gegensatz zu Trenin nimmt er die Zeit als Orientierungsphase
wahr, in der Moskau und Berlin eine neue Identität entwickeln können.
Es gebe gewisse Reizpunkte, doch „wir brauchen einander“, fasste der
Kremlsprecher Präsident Putins Haltung zu Deutschland zusammen. Alles wie
gehabt? Das trügt indes: Nähe zwischen Russland und Deutschland gehört seit
Langem der Vergangenheit an.
Der Dialog mit Russland war lange ein Eckpfeiler sozialdemokratischer
Ostpolitik gewesen. Auch nach der Wiedervereinigung verlor die
ostpolitische Maxime „Wandel durch Annäherung“ in Deutschland nicht an
Befürwortern. Doch Russland machte aus dem Anspruch auf ehemalige Teile des
Imperiums keinen Hehl. 2008 besetzte Moskau Teile Georgiens und erklärte
zwei Teilrepubliken zu unabhängigen Staaten. Schon 2007 sorgte Wladimir
Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz für Aufmerksamkeit. Russland
werde sich einem US-Diktat nicht beugen, so Putin. Niemand hatte im Westen
diesen Auftritt erwartet. 2008 versuchte Außenminister Frank-Walter
Steinmeier noch einmal, eine Modernisierungspartnerschaft mit Moskau
aufzulegen. Vergebens: Berlin war aus russischer Sicht zum Gegner geworden,
zog daraus aber keine Schlüsse.
2011/2012 protestierten Wähler gegen Manipulationen bei den Duma-Wahlen.
Kurz darauf kehrte Wladimir Putin ins Präsidentenamt zurück. Dmitri
Medwedjew hatte die Funktion für einen Durchgang vorher innegehabt. Moskau
ging mit Gewalt gegen die Proteste vor. Dennoch hob der bilaterale Dialog
weiterhin die Bedeutung gemeinsamer Werte hervor.
2014 folgten die Annexion der Krim und die Besetzung des ukrainischen
Donbass. Der malaysische Maschine des Flugs MH17 wurde über der Ukraine
abgeschossen. Russland verschleierte die Aufdeckung durch Dutzende
Versionen des Tathergangs. Dennoch war Moskau überrascht, als Deutschland
sich an den Sanktionen nach der Annexion beteiligte. 2015 wurde das
Computernetzwerk des Bundestags gehackt. Spuren ließen sich bis zum
militärischen Geheimdienst Russlands (GRU) zurückverfolgen. 2016 mischte
sich Moskau in die US-Präsidentschaftswahlen ein, 2017 in die
französischen. Überdies aktivierte der Kreml die Unterstützung
rechtspopulistischer Parteien in der EU. 2019 wurde ein [3][Tschetschene in
Berlin ermordet]. Er hatte zuvor im Kaukasus gegen Russland gekämpft. Der
Mord war vom russischen Geheimdienst angeordnet worden.
Kurz: Russland zielt darauf ab, Unruhe zu stiften und innenpolitische
Stabilität in der EU zu stören. Dabei stehen eigener Machterhalt und
Selbstbereicherung der Eliten im Mittelpunkt.
Um Moskau im Fall Nawalny zu bewegen, Ermittlungen einzuleiten, erwog
Angela Merkel, die Nord-Stream-2-Pipeline als Druckmittel einzusetzen. Die
Pipeline versorgt das System Putin und stattet auch die Firmen der
Oligarchen mit Geldern und Kontakten aus. Längst ist dieses Modell auch in
der EU aktiv. Merkel beließ es bei Überlegungen und tastete die Pipeline
nicht an. Der Glaube, den Lieferanten zur Kompromissbereitschaft bewegen zu
können, ist hartnäckig.
## Freiheit zum Rückzug
Das Fazit aus den Erfahrungen der letzten Jahre: Der Kreml lässt sich nicht
unter Druck setzen. Die militärische Stärke der EU ist zu gering, auch
sonst fehlen Druckmittel. Vielleicht wäre die „Auszeit“, die die russischen
Außenpolitiker vorschlagen, tatsächlich eine Alternative. Zurzeit findet
Kommunikation nur um des Redens willen statt. Die westliche Neigung zur
Kommunikation beförderte aber selten Systemwandel. In Russland wird sie oft
belächelt. Natürlich müssen Sicherheitspolitik und Rüstungskontrolle
weiterverhandelt werden. Wo unterschiedliche Interessen das Fortkommen beim
Grundsätzlichen behindern, sollte die Freiheit zum Rückzug gelten.
Klare Positionen sind Voraussetzung für jedes Gespräch – bar jeder
Romantik. Moskau ist wieder ein autoritäres Regime. Diesmal nur ein
anderes. Der Umgang damit muss wieder gelernt werden.
3 Nov 2020
## LINKS
[1] /EU-Aussenminister-fuer-Sanktionen/!5717046&s=Nawalny/
[2] /Gespraech-mit-Ex-Botschafter-in-Moskau/!5718468&s=Putin/
[3] /Prozess-zum-Tiergartenmord/!5716250&s=Tiergarten+Mord/
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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