# taz.de -- Extremisten in Sicherheitsbehörden: Seehofers „geringe“ Fallza… | |
> 380 rechtsextreme Vorfälle in den Sicherheitsbehörden zählt ein Lagebild, | |
> 1.064 bei der Bundeswehr. Ein strukturelles Problem? Nein, sagt Seehofer. | |
Bild: Sehen wenig Probleme: Thomas Haldenwang und Horst Seehofer bei der Presse… | |
BERLIN taz | Horst Seehofer klingt fast erleichtert. „Wir haben kein | |
strukturelles Problem in den Sicherheitsbehörden“, sagt der | |
Bundesinnenminister am Dienstag in Berlin. 99 Prozent der BeamtInnen, und | |
damit die „ganz, ganz überwiegende Mehrheit“, stehe „fest auf dem Boden … | |
Grundgesetzes“. Die Behörden hätten sein „uneingeschränktes Vertrauen“… | |
leisteten „eine hervorragende Arbeit“. | |
Dabei ist das, was Seehofer an diesem Tag präsentiert, kein Aushängeschild | |
für die BeamtInnen, ganz im Gegenteil. Der Minister präsentiert den vom | |
Bundesamt für Verfassungsschutz verfassten Lagebericht „Rechtsextremisten | |
in den Sicherheitsbehörden“, knapp 100 Seiten dick und eine Premiere. Die | |
Bilanz: 319 Verdachtsfälle bei den Polizeien und Verfassungsschutzämtern | |
der Länder, dazu 58 Fälle in den Bundesbehörden, etwa bei der Bundespolizei | |
oder dem BKA. Und 1.064 Verdachtsfälle bei der Bundeswehr. | |
Tatsächlich rissen zuletzt Meldungen zu rechtsextremen Vorfällen in den | |
Sicherheitsbehörden zuletzt nicht ab. Entsprechende Chatgruppen wurden bei | |
der Polizei in [1][Hessen], [2][NRW] und [3][Berlin] aufgetan, KSK-Soldaten | |
wurden wegen Hitlergrüßen suspendiert, [4][rechte Verfassungsschützer] | |
gemeldet, die eigentlich Neonazis beobachten sollten. Seehofer kritisiert | |
diese Fälle deutlich, verweist auf die Vorbildfunktion der BeamtInnen: | |
„Jeder erwiesene Fall ist eine Schande.“ Man kläre diese „ohne Wenn und | |
Aber“ auf, verfolge sie „rigoros“. Insgesamt aber nennt Seehofer die | |
Fallzahlen „gering“, gemessen an den rund 300.000 Sicherheitsbediensteten | |
in diesem Land. | |
Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang formuliert vorsichtiger, | |
spricht von „Vorfällen, die über Einzelfälle hinausgehen“. Jeder Fall sei | |
einer zu viel. Denn sie seien geeignet, das Vertrauen in den Staat zu | |
erschüttern. Die Abwehr dieser Umtriebe sei für den Staat daher „eine | |
existenzielle Schutzmaßnahme“. | |
## Langer Vorlauf des Lageberichts | |
Seehofer und Haldenwang verweisen auch auf Konsequenzen, die bereits | |
gezogen worden seien. So sei es bei den Bundesbehörden zu 23 Entlassungen | |
wegen rechtsextremer Vorfälle gekommen, in den Ländern erfolgte dies in 48 | |
Fällen. Bei der Bundeswehr wurden 70 SoldatInnen entlassen. Insgesamt ging | |
es bei den Vorgängen in den allermeisten Fällen um rechtsextreme Äußerungen | |
oder Chatnachrichten. In den Ländern wurde nur ein Fall aufgedeckt, bei dem | |
eine Person auch an rechtsextremen Veranstaltungen teilnahm. Immerhin zehn | |
Personen hatten hier aber auch Kontakt zu bekannten Rechtsextremen oder | |
Initiativen, zwei waren gar Mitglieder. | |
Die Erstellung von Haldenwangs Lagebild war zäh. Bereits vor einem Jahr, | |
nach Terrorvorwürfen gegen eine Preppergruppe, an der sich auch Soldaten | |
und Polizisten beteiligten, und nach dem Attentat auf Walter Lübcke | |
richtete der Verfassungsschutz eine [5][Zentralstelle zu Extremisten in den | |
Sicherheitsbehörden] ein. Diese sollte den Bericht erstellen. Zuvor führten | |
die Behörden in diesem Feld keine Statistik, weil die Vorfälle als | |
Einzelfälle gewertet wurden. | |
Doch die Erhebung holperte, mehrmals musste der Bericht verschoben werden: | |
Sollten nur abgeschlossene Disziplinarverfahren zählen – oder bereits | |
Verdachtsfälle? Die Länder entschieden sich zunächst für Ersteres und | |
lieferten so wenige Fälle, dass Haldenwang auch die Nennung offener | |
Verfahren einforderte. Dazu liegen nun die Zahlen vor. | |
Erfasst wurden Vorfälle von Januar 2017 bis Ende März dieses Jahres, und | |
zwar solche, die Maßnahmen nach sich zogen, ganz überwiegend | |
Disziplinarverfahren. Bei der Bundespolizei betrifft dies 44 Fälle, beim | |
BKA sechs, beim Zoll vier, beim BND zwei, in Haldenwangs eigener Behörde | |
gibt es einen Fall. Weit größer ist das Ausmaß bei der Bundeswehr: Von den | |
insgesamt 1.064 Verdachtsfällen kamen allein im vergangenen Jahr 363 neue | |
Fälle dazu. Gerade diese Fälle sind beunruhigend, weil sie Menschen | |
betreffen, die mit Waffen hantieren. | |
## Wie groß ist das Dunkelfeld? | |
In den Ländern meldete Hessen die meisten Fälle mit 59, es folgen Berlin | |
mit 53, NRW mit 45, Bayern mit 31, Sachsen 28. Auf der anderen Seite | |
meldete Bremen nur einen Fall und das Saarland gar keinen. Die Zahlen sind | |
also mit Vorsicht zu genießen – weil hinter wohl ihnen ein größeres | |
Dunkelfeld schlummert. Und sie sind teils auch überholt: Die 31 jüngst in | |
NRW suspendierten PolizistInnen, die in rechtsextremen Chatgruppen aktiv | |
waren, sind in der Statistik gar nicht mehr berücksichtigt. | |
Auch in dem Lagebericht wird ein Dunkelfeld eingeräumt. „Dessen | |
fortlaufende und konsequente Aufhellung ist eine herausgehobene Aufgabe für | |
die Sicherheitsbehörden“, heißt es dort. Seehofer und Haldenwang betonen | |
denn auch, dass die Statistik fortgeschrieben und auf den öffentlichen | |
Dienst ausgeweitet werden soll. Haldenwang fordert zudem, nach der | |
holprigen Ersterhebung, in Zukunft eine bessere Zusammenarbeit der | |
Behörden. | |
Offen bleibt die Frage, wie groß nun das Dunkelfeld ist. ForscherInnen | |
verweisen auf einen Korpsgeist in den Behörden, bei dem sich KollegInnen | |
bei Vorfällen oft decken oder wegschauen. Auch die jüngst bekannt | |
gewordenen Chatgruppen in NRW flogen nur durch Zufall auf, obwohl sie teils | |
seit 2015 existierten: durch Ermittlungen gegen einen Beamten, dem | |
vorgeworfen wurde, Interna an einen Journalisten durchgestochen zu haben. | |
Von den PolizistInnen in den Chatgruppen, darunter ein Dienstgruppenführer, | |
hatte niemand gemeldet, dass dort Hitlerbilder oder Hakenkreuze geteilt | |
wurden. | |
Seehofer wendet sich daher mit einem Appell an die BeamtInnen: „Schauen Sie | |
hin, verteidigen Sie unsere Verfassung, werden Sie aktiv. Auch passives | |
Mitläufertum ist nicht erlaubt.“ Ein strukturelles Problem aber weisen die | |
Behördenchefs kollektiv zurück, allen voran Bundespolizeichef Dieter | |
Romann. Von den 51.000 Bundespolizisten beträfen die Vorwürfe nur 0,09 | |
Prozent, betont er. Rechtsextreme Netzwerke könne er nicht erkennen, auch | |
ein Rassismusvorwurf gehe fehl. „Die Polizisten haben unser Vertrauen | |
verdient.“ | |
## Weiter Streit über Studie zur Polizei | |
Experten wie die Grünen-Innenexpertin und Polizistin Irene Mihalic dagegen | |
halten den Bericht erst für einen Anfang. Der Bericht dokumentiere nur die | |
Oberfläche, so Mihalic. Sie und andere wiederholen daher die Forderung nach | |
unabhängigen Polizeibeauftragten und einer wissenschaftlichen Untersuchung | |
zu rechtsextremen Einstellungen bei der Polizei – was Seehofer am Dienstag | |
erneut ablehnt. | |
Das Thema sei universeller, sagt der Minister. Deshalb trete er für „eine | |
fundierte Untersuchung für die gesamte Gesellschaft“ ein. Dazu fordert | |
Seehofer noch einen ganzen Strauß weiterer Studien, die mit dem Lagebericht | |
nur noch am Rande zu tun haben: zu Gewalt gegen PolizistInnen, zu deren | |
Arbeitsalltag oder zu deren Motiven für den Berufseinstieg. | |
Aber selbst der Bund Deutscher Kriminalbeamter erklärte am Dienstag, mit | |
dem Lagebericht sei ein strukturelles Problem in den Behörden nicht | |
widerlegt. Auch der Verband forderte eine gesonderte Studie dazu ein. | |
Inzwischen gehen einige Länder hier bereits voran. So beginnen Hamburg, NRW | |
und Niedersachsen demnächst mit einer anonymen Befragung von 3.000 | |
PolizistInnen zu Risikofaktoren, die Vorurteile und extreme Einstellungen | |
in ihren Reihen begünstigen. | |
6 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /taz-Recherche-zu-Drohmails/!5709468 | |
[2] /Polizeiskandal-in-NRW/!5714629 | |
[3] /Rassistische-Chat-Gruppe-bei-Berliner-Polizei/!5715614 | |
[4] /Rechtsextremismus-beim-Verfassungsschutz/!5718066 | |
[5] /Innenministerkonferenz-zu-rechten-Netzen/!5641472 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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