# taz.de -- Arzt sein auf dem Land: Krankengeschichten beim Bäcker | |
> Im schleswig-holsteinischen Stapelholm tun sich drei Ärzte zusammen. Die | |
> Gemeinde stellt sie an. Lässt sich so dem Ärzteschwund auf dem Land | |
> begegnen? | |
Bild: Hausarzt Wolfgang Dinslage beim Blutabnehmen | |
ERFDE taz | Die Zukunft der ärztlichen Versorgung der Menschen in der | |
Landschaft Stapelholm liegt auf einem Parkplatz, der so weit und leer ist | |
wie eine asphaltierte Wüste. Das Medizinische Versorgungszentrum (MVZ) am | |
Rand der Gemeinde Erfde teilt sich ein Dach mit einem Getränkemarkt. Links | |
davon beherbergt ein weiterer Doppelbau eine Bäckerei und eine Spielhalle, | |
der Discounter rechts füllt allein ein Gebäude. | |
Seit Ende März gehen die Menschen aus der Umgebung bei Rückenschmerzen, | |
Halsweh und Magendrücken in den ehemaligen Schlecker-Laden im | |
Gewerbegebiet. Für den Zusammenschluss zum Versorgungszentrum haben drei | |
Ärzte, die vorher selbständig tätig waren, ihre Praxen abgetreten und | |
arbeiten jetzt als Angestellte der Gemeinde. | |
Kein Grund zur Klage, findet Holger Hamann: „Wir haben es selbst | |
vorangetrieben, und ich habe die Klappe am weitesten aufgerissen.“ Hamann | |
ist Facharzt für Allgemeinmedizin, vor 32 Jahren hat er seine Praxis gut | |
zehn Kilometer entfernt von Erfde im Ort Stapel eröffnet. | |
Der kleine Ort liegt auf einem Höhenzug über der Eider, die hier in weiten | |
Schleifen durch Weiden, Felder und Moorflächen mäandert und sich mit den | |
Flüssen Treene und Sorge vereint. Hamann gefiel die Landschaft, und | |
zufällig wurde eine Praxis frei, als er seine klinische Ausbildung beendet | |
hatte. Also ließ er sich auf dem Kassensitz nieder und wurde Hausarzt. | |
## Lizenz für gelbe Scheine | |
Er sei „Dorfschamane mit der Lizenz, gelbe Scheine auszustellen“, spottet | |
der 63-Jährige über seinen Beruf. Aber eigentlich hält Hamann die | |
hausärztliche Tätigkeit für den zentralen Baustein bei der medizinischen | |
Versorgung einer älter werdenden Bevölkerung. Am liebsten hätte er eine | |
„Primärarzt-Pflicht“ statt des freien Zugangs in die Fachpraxen, in denen | |
nur auf das jeweilige Spezialgebiet geschaut wird statt auf den Menschen. | |
Dem deutschen Gesundheitswesen bescheinigt er ein Durch- und Nebeneinander | |
aus „Unter-, Fehl- und Überversorgung“, unter anderem durch zu viele | |
Medikamente, „bei denen die Hälfte nur noch dazu dient, die Nebenwirkungen | |
der anderen zu lindern“. Wichtiger sei, offen darüber zu sprechen, was | |
Priorität habe: | |
„Bei den Alten und Multimorbiden muss man entscheiden, was man will: nachts | |
ohne Luftnot schlafen oder pinkeln ohne Schmerzen?“ Und das könne am besten | |
jemand, der die Menschen in allen Lebens- und Krankheitsphasen begleitet. | |
Auch in der letzten: Wenn es ans Sterben gehe, komme der Mann mit der | |
ruhigen Stimme und dem weiß-grauen Bart auch mitten in der Nacht ans | |
Krankenbett. Das gehöre sich so, findet er. | |
Als Hamann in den 1980er-Jahren anfing, gehörte es sich auch für einen | |
Hausarzt, regelmäßige Nachtschichten zu leisten, und es bestand die | |
Pflicht, am Ort des Kassensitzes zu wohnen. Also baute das Ehepaar für sich | |
und die drei Kinder ein Haus nur wenige Hundert Meter von der Praxis | |
entfernt, obwohl sie gern ins weiter entfernte Friedrichstadt gezogen | |
wären. „Ich hatte eine 60-Stunden-Woche, meine Frau hat die Kinder | |
großgezogen“, sagt Hamann. „Kann man machen, aber es gibt andere Modelle.�… | |
Das sehen viele jüngere Mediziner:innen so, und die Regeln haben sich neuen | |
Lebensmodellen angepasst: Inzwischen ist die Residenzpflicht abgeschafft, | |
nächtliche Einsätze übernimmt der Notdienst und viele Ärzt:innen pendeln. | |
„Zu arbeiten wie der klassische Landarzt, ist noch möglich, aber die Jungen | |
sind nicht mehr so bereit dazu“, sagt Michael Sturm, zweiter Vorsitzender | |
des Hausärzteverbandes Schleswig-Holstein. | |
Auch er selbst hat 35 Jahre in der eigenen Praxis gearbeitet, inzwischen | |
hat er den Betrieb an seinen Sohn übergeben. Er bedauert die Entwicklung | |
des Berufsstands: „Für die Patienten ist es schade, wenn es weniger | |
klassische Hausärzte gibt, und auch den Ärzten hilft es, wenn sie Nöte, | |
psychische und berufliche Belastungen ihrer Patienten kennen. Das fällt mit | |
neuen Modellen ein bisschen weg. Aber viele Kollegen interessiert das | |
nicht, die machen einfach ihren Striemel.“ | |
Hamann bestätigt: „Ich kriege schon morgens beim Bäcker mit, wenn es | |
irgendwo knirscht. Das ist gelebte Anamnese.“ Aber ihm war klar, dass es | |
schwer sein würde, seine Praxis so weiterzugeben, wie er sie geführt hat – | |
oder überhaupt weiterzugeben. Früher erhielten scheidende Ärzt:innen eine | |
Ablöse für ihre Praxis. Heute bleiben ländliche Kassensitze manchmal | |
einfach leer. | |
Aktuell zählt die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in Schleswig-Holstein 26 | |
vakante Hausarztstellen, darunter allein zehn rund um Geesthacht. Der Grund | |
dafür ist, dass die KV, die für die Verteilung der Sitze zuständig ist, die | |
Gebiete neu zugeschnitten hat. Aufgrund der Nähe zu Hamburg dürften die | |
freien Sitze um Geesthacht nicht lang unbesetzt bleiben,vermutet | |
KV-Sprecher Nicolas Schmidt. Durch die Gebietsreform dürften sich in | |
größeren Orten wie Geesthacht mehr Mediziner:innen ansiedeln. | |
Was aber wird aus den dünner besiedelten Regionen? Diese Frage beschäftigt | |
auch die Landesregierung – und die tut sich mit einer Antwort schwer: „Die | |
Politik kann keine Ärzte backen“, sagte Schleswig-Holsteins | |
Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) bei einer Veranstaltung der | |
Ärztekammer im vergangenen Herbst. Die klassischen Praxen bezeichnete er | |
als Rückgrat der medizinischen Versorgung, aber er prophezeit: „Es wird | |
nicht mehr an jedem Ort einen Hausarzt geben.“ Die Alternative sind neue | |
Strukturen und technische Hilfen. | |
„Telemedizin!“ Holger Hamann spuckt das Wort geradezu aus. Für viele seiner | |
Patient:innen, hochbetagt und unerfahren im Umgang mit Laptop oder | |
Smartphone, ist eine Visite per Bildschirm so unmöglich wie ein Flug zum | |
Mond. Und: „Es entfällt der persönliche Eindruck, das Tasten und Fühlen.“ | |
Ärzt:innen würden die körperliche Untersuchung verlernen, wenn sie sich vor | |
allem auf Messwerte und Geräte verlassen, befürchtet er. | |
Um den menschlichen Faktor nicht zu vernachlässigen, werden in | |
Schleswig-Holstein einige Modelle erprobt: Hausärzt:innen können per | |
Videokonferenz Expert:innen ins Behandlungszimmer holen, um den Kranken den | |
Gang zur Fachpraxis zu ersparen. Praxis-Angestellte touren übers Land, | |
besuchen diejenigen, die nicht mehr allein aus der Wohnung kommen, und | |
schalten die Hausärzt:innen per gesicherter Leitung dazu – falls das lokale | |
WLAN das zulässt. | |
Und es entstehen medizinische Versorgungszentren, also „rechtlich | |
verselbständigte Versorgungseinrichtungen, in der mehrere Ärztinnen bzw. | |
Ärzte unter einem Dach zusammenarbeiten“, so definiert das | |
Bundesgesundheitsministerium diese neue Form. | |
## Konzerne ohne Interesse an kleinen Praxen | |
Während in Ballungsräumen oft Praxisverbände und Klinikkonzerne Arztsitze | |
aufkaufen und Zentren eröffnen, kann die Kassenärztliche Vereinigung in | |
Schleswig-Holstein einen Trend zur Konzentration „nicht beobachten“. Zwar | |
hätten einige regionale Krankenhäuser solche Versorgungszentren gegründet, | |
aber inzwischen sei die Gründungswelle deutlich abgeflacht, teilt | |
KV-Sprecher Schmidt mit. | |
„Klar“, sagt Hausarzt-Vertreter Michael Sturm: „An den kleineren Praxen | |
haben die Konzerne kein Interesse, das lohnt sich nicht.“ Denn die Zentren, | |
die von Klinikkonzernen gegründet werden, „sind nur dazu da, Geld zu | |
genieren. Die Versorgung der Bevölkerung ist denen eigentlich wurscht.“ | |
In Erfde liegt der Fall anders: Hinter dem dortigen Versorgungszentrum | |
steckt kein Konzern, sondern die Gemeinde. Bürgermeister Thomas Klömmer | |
(CDU) steht am Tag der Eröffnung im Foyer der neuen Praxis und stellt das | |
Modell vor. Es ist März, wegen der Coronapandemie sind Versammlungen | |
verboten, daher spricht Klömmer in eine Kamera, das Video ist im Netz zu | |
sehen. Klömmer ist ein stämmiger Mann, im Hauptberuf ist er | |
Landesgeschäftsführer der Mittelstands- und Wirtschaftsunion und gut | |
vernetzt. | |
Er hat Geld eingeworben, um das Zentrum einzurichten. Die gemeindeeigene | |
gGmbH ist mit 650.000 Euro Stammkapital ausgestattet, aber der größte | |
Brocken kommt noch: Für sechs Millionen Euro entsteht ein neues Gebäude, in | |
das neben der Praxis ein Tagestreff für Ältere, eine Apotheke und | |
Physiotherapie einziehen sollen. Noch gibt es die Interessenten dafür | |
nicht, aber Klömmer will der „Verantwortung als Zentralort nachkommen“ und | |
die „Gesundheitsversorgung auf gute Beine stellen“. | |
Ja, es war ein etwas seltsames Gefühl, vom Selbstständigen zum Angestellten | |
zu werden, gibt Hamann zu. Aber finanziell steht er sich nicht schlechter, | |
bekommt nun ein festes Gehalt und er hat darauf bestanden, dass die Praxis | |
in Stapel bleibt, als Zweigstelle des Zentrums in Erfden. Die beiden | |
Kollegen, 67 und 70 Jahre alt, mit denen er sich zusammengetan hat, kennen | |
die meisten seiner Patient:innen bereits, weil die drei Ärzte sich | |
gegenseitig vertreten haben. | |
Durch den Zusammenschluss „gibt es einige Vorteile“, sagt Hamann: „Länge… | |
Öffnungszeiten zum Beispiel.“ Er kann sich vorstellen, Fachärzt:innen | |
einzuladen, die seine Patient:innen im Zentrum behandeln. Das sind | |
Zukunftspläne, aber Hamann hat noch einige Jahre Zeit, sie umzusetzen. Mit | |
seinen 63 Jahren ist er der jüngste im Ärzteteam, und ein Nachfolger ist | |
noch nicht in Sicht. | |
11 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
## TAGS | |
Stadt-Land-Gefälle | |
Landflucht | |
Ärztemangel | |
Medizin | |
Krankenhäuser | |
Ärztemangel | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Hausarzt | |
Studiengang Medizin | |
Ärztemangel | |
Berliner Bezirke | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ärztemangel in Berlin: Hausärztlicher Notfallplan | |
Vor allem in den Ostbezirken fehlen Hausärzte. Die Kassenärztliche | |
Vereinigung hat dort nun die erste Arztpraxis in eigener Trägerschaft | |
eröffnet. | |
Probewohnen in schrumpfenden Orten: Land auf Zeit | |
Die Großstadt im Tausch mit dem Landleben: In einem Sommer der Pioniere | |
wird das in der hessischen Kleinstadt Homberg ausprobiert. | |
Hausärztin über Arbeit auf dem Land: „Eine andere Bindung zum Patienten“ | |
Kristina Spöhrer ist Hausärztin in Winsen/Luhe. Der Ärzt*innenmangel auf | |
dem Land habe verschiedene Gründe, sagt sie. | |
Ärztemangel in Norddeutschland: „Ist ein Arzt anwesend?“ | |
Bremen diskutiert über einen neuen Medizinstudiengang, in Oldenburg und | |
Braunschweig gibt es schon welche. Aber brauchen wir mehr Ärzte? | |
Im Alter aufs Land: Trügerische grüne Idylle | |
AussteigerInnen fürchten den Ärztemangel in der Provinz. Immerhin: Die | |
Notfallversorgung an Kliniken soll verbessert werden. | |
Gesundheitsversorgung in Berlin: Ärzte mögen's gut bürgerlich | |
Medizinische Versorgung hängt von der Wohnlage ab. Das zeigt eine Studie | |
der unter Ärztemangel leidenden Bezirke Neukölln und Lichtenberg. |