# taz.de -- Krankenversorgung für Heimbewohner: Wenn der Zahnarzt klingelt | |
> Volkmar Göbel wollte nicht mehr mit ansehen, dass sich niemand um die | |
> Zahnleiden älterer Menschen kümmert. Deswegen kommt er zu ihnen. | |
Bild: Der Arzt, der zu den Patienten kommt: Dr. Göbel bei der Arbeit | |
Gössenheim taz | Für die meisten Zahnärzte, sagt er, höre die Zahnmedizin | |
jenseits der Kiefergelenke auf. Aber nicht für ihn. Er will vor allem | |
eines: die Menschen verstehen. Die Menschen hinter den Zähnen. Anders würde | |
er auch nicht weit kommen bei seinen Patientinnen und Patienten. Bei ihnen | |
müsse man Brücken bauen – und damit sind nicht nur die im Gebiss gemeint. | |
Da gab es diese Patientin in Mannheim, die 220 Kilo wog und dringend eine | |
Zahnbehandlung brauchte. Jede Zahnklinik im Umland habe die Behandlung | |
abgelehnt, da sie die Patientin mit einem Kran in den Krankenwagen hätten | |
transportieren müssen. | |
Volkmar Göbel konnte sie vor Ort behandeln, in ihrem eigenen Zimmer. | |
Vor Jahren hat sich Göbel etwas in den Kopf gesetzt: Die zahnärztliche | |
Versorgung für Menschen, die nicht mehr rauskommen, muss besser werden, | |
vielleicht sogar ganz neu gedacht. Göbel hatte diese Idee: Was, wenn die | |
alten Leute nicht mehr in die Zahnarztpraxis kommen müssen, sondern die | |
Zahnarztpraxis zu ihnen? | |
Den Menschen, die er behandelt, bleibt oft nicht viel mehr im Leben als das | |
Frühstück, Mittagessen, Abendbrot, vielleicht noch das Stück Kuchen am | |
Nachmittag. Sie leben auf wenigen Quadratmetern, manchmal ist es nur noch | |
das Bett. | |
Wenn der körperliche Verfall nicht mehr aufzuhalten ist, dann kommt es auf | |
die Zähne auch nicht mehr an, denken manche. Dann muss man ja nicht mehr | |
darauf pochen, dass die Oma, die im Altersheim sitzt, brav halbjährlich zum | |
Zahnarzt geht. Wo sie doch sowieso nicht mehr laufen kann. Aber was bleibt | |
dann überhaupt noch, wenn nicht mal die Zähne funktionieren? | |
Göbel, 65, ein großer Mann in weißer Hose und blauer Arbeitsjacke, tritt | |
aus seiner Zahnarztpraxis im unterfränkischen Gössenheim, unweit von | |
Würzburg. Auf dem Hof stehen vier Autos mit dem Aufdruck „Dentagil“: Göbe… | |
Zahnarztflotte. Im Umkreis von 80 Kilometern betreut sein Team rund 3.300 | |
Patientinnen und Patienten mit dem Zahnarztmobil. In Karlsruhe, Köln und | |
Lünen gibt es bereits andere Praxen, die nach Göbels Konzept arbeiten, | |
viele weitere haben sich dafür beworben – Göbel hat seine Idee an ein | |
Medizinunternehmen verkauft, das jetzt die Expansion managt. | |
## Zeitplan in Klarsichtfolie | |
Volkmar Göbel nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Die Hinfahrt überlasse er | |
„seinen Damen“, den zahnmedizinischen Fachangestellten. Heute am Steuer: | |
Franziska Schmitt. Bevor sie losfährt, reicht sie ihrem Chef einen Zettel | |
in Klarsichtfolie: den heutigen Zeitplan. Start: jetzt, 8.30 Uhr. | |
Heimfahrt: 13.30 Uhr. Der Tag ist minutiös durchgetaktet. 15 Patienten in | |
fünf Senioreneinrichtungen, dazu rund 100 Kilometer Fahrstrecke. Macht | |
maximal 15 Minuten für jeden Patienten. | |
Über hügelige Landschaften und die Autobahn A 7 führt der Weg rund 42 | |
Kilometer nach Bad Brückenau – zum ersten Seniorenzentrum. „Göbel ist mein | |
Name“, ruft der Zahnarzt dem Mann entgegen, der im Rollstuhl | |
herbeigeschoben wird. Er trägt eine Schnur um den Hals, daran ein Anhänger | |
mit der Nummer 308. Ein Demenzpatient, 77 Jahre alt. Es ist sein erster | |
Termin bei Volkmar Göbel. | |
„Was können Sie zu Ihren Zähnen sagen, funktioniert alles im Mund?“ Der | |
Patient nickt. Göbel zieht sich Latexhandschuhe über und knipst seine | |
Kopflampe an. Er sperrt dem Mann mit seinen Fingern den Mund auf, entfernt | |
die Oberkieferprothese, darunter nur noch Stummel von Zähnen und | |
Goldplomben. „Und die untere Prothese? Wo ist die?“ | |
„Die haben sie verschlampt“, murmelt der Patient. Hier im Heim nehme man | |
den Bewohnern abends die Prothesen ab, irgendwann sei sie morgens einfach | |
weg gewesen. | |
Göbel fragt: „Seit wann ist das schon so?“ „Halbes Jahr, drei viertel | |
Jahr.“ | |
Ein alter Mann, der über ein halbes Jahr ohne seine zweite Prothese | |
zurechtkommen muss. Göbel begegnen solche Fälle ständig. | |
Da gab es dieses Erlebnis, das ihn vor vielen Jahren überhaupt auf die Idee | |
gebracht hat, sich der Zahnleiden alter Menschen anzunehmen. Es dürfte etwa | |
2005 gewesen sein, erzählt Göbel, als er seine demente Großmutter im | |
Pflegeheim besuchte und feststellte, dass ihre Oberkieferprothese gebrochen | |
war. Tagelang habe sie nicht richtig essen können. Und das Schlimmste: | |
Niemand im Heim habe sich darum gekümmert. | |
## Einfach nicht mitgedacht | |
Die Prothese seiner Großmutter nahm er mit und ließ sie in seinem Labor | |
reparieren – „in einem Tag war das erledigt“. Aber er wusste ja, dass das | |
Problem größer war: dass die zahnärztliche Versorgung in all den Heimen | |
einfach nicht mitgedacht wird und die alten Leute selbst sehen müssen, wie | |
sie zum Zahnarzt kommen. Also bildete er sich in Sachen Alterszahnheilkunde | |
fort und fing an, an seinem mobilen Behandlungskonzept zu tüfteln. | |
Was sich Göbel da ausgedacht hatte, war von Anfang an eine logistische | |
Herausforderung. Als Zahnarzt auf Rädern wollte er die Alterszahnheilkunde | |
revolutionieren. Aber erst mal musste er die Technik auf die Räder | |
bekommen. Am schwierigsten sei es gewesen, an mobile Röntgengeräte zu | |
kommen. Da es so was auf dem deutschen Markt damals noch nicht gab, habe er | |
welche aus Südkorea beschafft, kaum größer als ein Fotoapparat. | |
Und tatsächlich – wenn Göbel die Altenheime besucht, dann mit erstaunlich | |
wenig Gepäck: zwei Koffer mit ein bisschen Besteck, ein Lesegerät für | |
Krankenkassenkarten und Laptop. | |
Im nächsten Heim angekommen, stellt er seine Koffer auf den gefliesten | |
Boden des Pflegebads. Eine gekrümmte Frau mit Rollator betritt den Raum, | |
die Pflegerin führt sie an der Hand. „Aua“, stöhnt die Frau, „aua, aua�… | |
Göbel hilft ihr auf den Plastikstuhl: „Kommen Sie rein zu mir, hier steht | |
ein Stuhl und da setzen Sie sich hin!“ | |
„Zahnpflege ist seit eineinhalb Wochen gar nicht möglich“, sagt die | |
Pflegerin. So groß seien die Schmerzen. Göbel nimmt die Hand der Patientin. | |
„Wir schaffen das“, sagt er. Als er sich ihrem Mund nähern will, dreht sie | |
ihren Kopf ruckartig weg. Die Pflegerin hält ihn fest. | |
Mit der Kopflampe leuchtet Göbel in ihren Mund, spricht beruhigend auf sie | |
ein: „Wunderbar“, „sehr, sehr gut“, „ich bin gleich fertig mit Gucken… | |
Patientin atmet angespannt ein und aus. | |
„Der Punkt ist“, sagt Göbel schließlich, „wir haben immer gesagt, dass … | |
erst eingreifen, wenn es nicht mehr anders geht. Jetzt ist es so weit.“ Die | |
Zähne müssen raus. Göbel stellt eine Überweisung für den Kieferchirurgen | |
aus. | |
Mit einem Ruck hilft er der Frau auf die Beine. Sie fängt an zu stammeln: | |
„Ich – bleibe – dir – treu.“ Göbel nickt. „Ja, ich bleibe dir treu… | |
weiß ich doch.“ | |
Er winkt ihr nach. | |
„Wir müssen uns auch um diesen Teil der Bevölkerung kümmern“, sagt Göbe… | |
Als Zahnarzt unterliegt er dem sogenannten Sicherstellungsauftrag: Alle | |
versicherten Patienten müssen versorgt werden. „Ob diese Patienten in der | |
Lage sind, eine Praxis aufzusuchen oder nicht, spielt dabei keine Rolle.“ | |
Doch er und sein Team können, sagt Göbel, nur so viel tun wie eben möglich. | |
Auch er habe mit Fachkräftemangel zu kämpfen. Und sowieso würden die | |
Pauschalen für die weiten Strecken, die er zurücklegt, nicht ausreichen: | |
„Betriebswirtschaftlich ist diese mobile Alterszahnheilkunde nur dann, wenn | |
sie entsprechend organisiert ist.“ Also wenn er in einem Rutsch möglichst | |
viele Heime anfährt. | |
Nächster Halt: eine gerontopsychiatrische Einrichtung, ein paar Kilometer | |
weiter. Eine Pflegerin führt Göbel zur Zimmertür des Patienten. „Der | |
Zahnarzt ist da“, ruft sie, klopft und öffnet die Tür. Der Mann liegt | |
zusammengekrümmt in seinem Bett. „Zahnarzt? Will ich nicht“, antwortet er. | |
Sein Zimmer riecht nach Zigaretten, die Vorhänge sind zugezogen. In Göbels | |
Patientenkartei ist notiert: 67 Jahre, starker Raucher, Schlaganfall. | |
„Grüß Gott, mein Name ist Göbel. Ich bin der Zahnarzt, und Sie sind wer? | |
Wie klappt’s mit dem Essen? Haben Sie Prothesen?“ Der Mann krächzt: „Ja.… | |
Göbel will ihm in den Mund sehen. „Sie können auch liegen bleiben, das geht | |
wunderbar so. Machen Sie mal ganz weit auf.“ Der Mann spreizt seine Finger, | |
während Göbel in seinen Mund leuchtet. | |
„Viele weiche Beläge, massive Gingivitis, Zahnstein“, stellt Göbel fest. … | |
den Fingerspitzen seiner Handschuhe haftet Plaque, das er von den Zähnen | |
des Mannes gekratzt hat. | |
„Mit dem Zähneputzen haben Sie es aber nicht so, oder?“ Der Patient | |
antwortet: „Nee.“ „Warum nicht?“, fragt Göbel weiter. „Brauch wa net… | |
der Patient. | |
Göbel zieht seine Handschuhe aus: „Okay, dann werden Sie Ihre Zähne | |
verlieren.“ Seine Assistentin tippt in den Laptop: „Patient an Mundhygiene | |
nicht interessiert.“ | |
Draußen auf dem Gang sagt er: „Manche Menschen werde ich nie motivieren | |
können, das muss ich akzeptieren“. Selbst wenn eine Behandlung dringend | |
erforderlich wäre: Wenn der Patient nicht will, könne er nichts tun. | |
Schließlich garantiert Artikel 2 des Grundgesetzes das Recht auf | |
körperliche Unversehrtheit. Eine Lehre aus den Euthanasie-Morden der | |
Nazizeit. Jeder medizinische Eingriff gilt als geduldete Körperverletzung. | |
Ob ein Körper einer Behandlung bedarf, unterliegt ausschließlich der | |
Selbstbestimmung der Patienten. | |
Auf dem Weg zum letzten Halt übernimmt Göbel das Steuer. Forciert rauscht | |
er über die Autobahn, auf den Landstraßen wird eifrig überholt. | |
Am Ende ist er eine Stunde früher durch als geplant. Praktisch, denn in | |
seiner Praxis warten schon die nächsten Patientinnen und Patienten auf ihn. | |
Und Krapfen, mit Puderzucker und Aprikosenkonfitüre. Denn, sagt Göbel: „Wir | |
arbeiten nicht nur fleißig, wir genießen auch fleißig.“ | |
22 Jun 2025 | |
## AUTOREN | |
Henrike Hartmann | |
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