# taz.de -- Seniorin über das Leben im Alter: „Rosel muss nicht mehr“ | |
> Rosemarie Knoll ist 91 und nicht mal die Älteste in ihrer | |
> Seniorenwohnanlage. Ein bisschen möchte sie schon noch vom Leben haben, | |
> sagt sie. | |
Bild: Rosemarie Knoll in ihrer Wohnung | |
taz: Frau Knoll, was ist wichtig im Alter? | |
Rosemarie Knoll: Der Kopf ist sehr wichtig. Wenn der nicht mehr richtig | |
funktioniert, wenn man anfängt, Dinge zu vergessen, das ist schlimm. | |
taz: Geht Ihnen das so? | |
Knoll: Nun ja. Ich habe manchmal Schwierigkeiten, mir Sachen zu merken, ich | |
bin im Dezember 91 geworden. Wenn ich mit jemandem was ausmache, muss ich | |
mir das aufschreiben, sonst vergesse ich das. | |
taz: Körperliche Einschränkungen sind nicht so schlimm? | |
Knoll: Dafür habe ich meine Hilfsmittel. Ich habe ein Hörgerät und ich gehe | |
jetzt mit dem Rollator. Ich kann auch noch alleine laufen, aber dann dreht | |
es sich und ich muss mich festhalten. Wenn wir hier eine Veranstaltung | |
haben, steht alles voller Rollatoren. Früher hatte hier keiner einen. Wir | |
sagen manchmal: Wenn wir unseren Mercedes nicht hätten! | |
taz: Die durchschnittliche Lebenserwartung einer Frau liegt bei 84. Sie | |
wohnen in Gera/Thüringen in einer Senioreneinrichtung des | |
Arbeiter-Samariter-Bundes. Dazu gehört ein Pflegeheim mit 120 Betten und 67 | |
Appartements, Betreutes Wohnen genannt. Sind Sie in der Anlage die Älteste? | |
Knoll: Es gibt noch Ältere. Da ist zum Beispiel eine 98-jährige Lehrerin. | |
Voriges Jahr gab es hier eine Frau, die war 99. Erst mit 97 ist sie vom | |
Betreuten Wohnen rüber ins Pflegeheim. Ihren hundertsten hat sie aber nicht | |
mehr geschafft. Ich war eine der Ersten, die hier 2005 in das Betreute | |
Wohnen eingezogen sind: Erster Stock, Balkon, zwei Zimmer, Bad, Küche, da | |
wohne ich immer noch. | |
taz: Wie kann man sich Ihren Tagesablauf vorstellen? | |
Knoll: Das meiste mache ich noch selbst, wir können aber auch die Kantine | |
und den Speisesaal des Pflegeheims drüben mitbenutzen. Wir haben eine | |
Ansprechpartnerin, die Frau Röder. Sie schickt uns auch den Handwerker, | |
wenn ein Wasserhahn kaputt ist, und lädt uns zu Veranstaltungen ein: | |
Tanzmusik, Spielenachmittage, Fasching. Früher habe ich auch noch an den | |
Ausflugstouren teilgenommen. Ich lese jeden Tag meine Zeitung, die | |
Ostthüringer Zeitung. Die hatten mein Mann und ich schon in den 50er | |
Jahren. Ich rufe auch in der Redaktion an, wenn sie nicht im Briefkasten | |
ist. | |
taz: Welche Themen interessieren Sie besonders? | |
Knoll: Was an und für sich so in Gera passiert. Sonnabends die | |
Todesannoncen, weil du nun viele Leute kennst. Aber jetzt sind die meistens | |
jünger als ich, und die kenne ich nicht mehr. | |
taz: Sind Sie mit den anderen Heimbewohnerinnen per Du? Männer gibt es bei | |
Ihnen ja nur noch wenige. | |
Knoll: Ich rede alle mit Sie an. Ich bin das so gewöhnt von meiner Arbeit | |
im Kindergarten. | |
taz: Sie waren zu DDR-Zeiten in Gera Kindergärtnerin. | |
Knoll: Dieses Du bei den Genossen konnte ich nie leiden. Ich war ja keine | |
Genossin. Die Genossen sagen Du, und wenn sie heimkommen meckern sie rum | |
und schimpfen über die Frauen. Ich habe immer gesagt, man muss einen | |
Menschen achten. Und das habe ich hier in dieser Senioreneinrichtung | |
eigentlich auch immer so gehalten. | |
taz: Erzählen Sie uns ein bisschen von Ihrem Leben. Sie sind 1933 in | |
Niederschlesien in einem Dorf namens Groß Kotzenau geboren worden. Als der | |
Zweite Weltkrieg zu Ende war, waren Sie elf. | |
Knoll: Niederschlesien wurde dann polnisches Gebiet. Wir waren eine große | |
Familie. Im November 1946 sind wir nach Toba umgesiedelt. | |
taz: Das ist ein Dorf im Kyffhäuser Kreis in Thüringen. Was waren Ihre | |
Eltern von Beruf? | |
Knoll: Mein Vater war Arbeiter, er hat alles gemacht. Nach Feierabend hat | |
er die Fahrräder für das ganze Dorf repariert, die ich dann zu den Bauern | |
schaffen musste. Ich konnte früh Fahrrad fahren. Meine Mutter hat genäht. | |
Das war eine tolle Frau. Sie konnte aus allem etwas machen. Aus Strümpfen | |
hat sie Puppen gemacht, unsere Hausschuhe waren aus Stoffresten geflochten. | |
taz: Sie sind das jüngste von acht Kindern. | |
Knoll: Meine Mutter hatte fünf Kinder mit in die Ehe gebracht. Ihr Mann war | |
tödlich verunglückt, da war sie mit dem fünften Kind schwanger. Und mein | |
Vater hat zwei Kinder mitgebracht, seine Frau war auch gestorben. Ich bin | |
sozusagen das einzige gemeinsame Kind. | |
taz: Wie war das für Sie? | |
Knoll: Als ich in die Schule kam, mussten meine großen Geschwister schon | |
Geld verdienen. Ich war das Nesthäkchen und wurde von allen verwöhnt. Meine | |
Eltern waren für damalige Verhältnisse relativ alt, meine Mutter war 39, | |
als ich geboren wurde, mein Vater 46. Er hat mir ein Puppenhaus gebaut und | |
einen Puppensportwagen. Ich brauchte nur zu sagen: Papa, kannst du das? | |
taz: Sie haben dann von 1949 bis 1953 in mehreren Städten in Thüringen eine | |
Ausbildung zur Kindergärtnerin gemacht. In Gera haben Sie Ihre erste Stelle | |
angetreten, 1956 haben Sie dort auch geheiratet. War es Liebe? | |
Knoll: Jeder Mensch muss sich in der Ehe erst mal aneinander gewöhnen. Ich | |
war alleine. Meine Mutter lebte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, sie ist mit | |
61 an Krebs gestorben, mein Vater hat mit 70 Jahren immer noch gearbeitet. | |
Ich brauchte jemanden, an den ich mich ein bisschen halten konnte. | |
taz: Was hat Ihnen an Ihrem Mann gefallen? | |
Knoll: Er war Arbeiter wie mein Vater. Bei den Russen hat er die Heizung | |
gemacht, dann war er Rangierer bei der Eisenbahn und Schlosser in der LPG. | |
Ich habe immer gesagt: Wo du draufkloppst, wächst nichts mehr. Man musste | |
keine Angst um ihn haben, wenn er die Eimer mit den Kohlen unters Dach | |
geschleppt hat, wo wir mit unseren zwei Kindern zunächst wohnten. 1967 | |
haben wir dann in der Platte eine Neubauwohnung im ersten Stock bekommen. | |
taz: Haben Sie immer gearbeitet? | |
Knoll: Beim zweiten Kind, meinem Sohn, bin ich eineinhalb Jahre zu Hause | |
geblieben. Ich habe mir gesagt, das mache ich nicht wieder mit, so wie bei | |
meiner Tochter. Die haben wir früh um 6 im Kissen zur Schwiegermutter | |
geschafft. Ich konnte viel, obwohl ich als Kind so verwöhnt worden bin. Ich | |
konnte nähen, stricken, häkeln. Ich konnte beim Bauern den Mist aus dem | |
Kuhstall schaffen oder Kindern den Hintern abwischen, wo andere gesagt | |
haben, das kann ich nicht. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht zu viel | |
gemacht habe. | |
taz: Haben Sie ein Beispiel? | |
Knoll: Als Kindergärtnerin war ich meistens für die Großen zuständig, aber | |
ich musste mich auch um alles Mögliche andere kümmern. Eine der Leiterinnen | |
war oft nicht da. Sie rief dann in der Früh an: Rosel, ich kann nicht | |
kommen, ich habe Migräne, sieh zu, dass du das alles hinkriegst. | |
taz: Auf Rosel war Verlass? | |
Knoll: Sie hat’s gemacht. Wir haben schräg gegenüber vom Kindergarten | |
gewohnt. Wenn dort der Frühdienst nicht kam, klingelten die Eltern bei mir: | |
Frau Knoll, kommen Sie schnell! Da habe ich zu meinem Mann gesagt: Du musst | |
mir mein Frühstück hinterher bringen. | |
taz: Später haben Sie Ihren Mann gepflegt. Was war passiert? | |
Knoll: Das war 1992. Wir wollten einen Krankenbesuch machen. Ich stehe vor | |
dem Haus mit einem Blumenstrauß. Er ist losgegangen, um das Auto aus der | |
Garage zu holen. Er steht auf dem Gehweg, als ein Auto die Bordsteinkante | |
hochrast. Es erwischte ihn von vorn. Danach war er schwerst behindert. Sein | |
ganzer Kopf war kaputt. Er konnte nicht mehr reden, nicht essen, nicht | |
stehen, nicht alleine sitzen, nichts. Ich habe ihn dann sechs Jahre zu | |
Hause versorgt. | |
taz: Das war überhaupt keine Frage? | |
Knoll: Darüber habe ich nicht nachgedacht. Es war die Zeit der Wende, wir | |
älteren Kindergärtnerinnen waren aufgefordert worden, in den Vorruhestand | |
zu gehen. Ich hatte überhaupt keine Ahnung von Notaren und Rechtsanwälten – | |
von nichts. Wir mussten die ganze Wohnung umbauen, wir hatten noch | |
Kohleofen. Zentralheizung musste rein und ein Fahrstuhl ins Treppenhaus. | |
Ich habe nur noch gekämpft, um das alles hinzubekommen. Der Autofahrer | |
wurde irgendwann verurteilt, aber das musste ja erst mal bezahlt werden. | |
1999 habe ich einen Schlaganfall bekommen und musste ins Krankenhaus und | |
dann haben wir meinen Mann hier in dieses Seniorenpflegeheim getan. 2003 | |
ist er gestorben. | |
taz: Hatten Sie sich übernommen? | |
Knoll: Das kann ich Ihnen heute nicht mehr sagen. Aber vielleicht hätte ich | |
ihn schon eher ins Pflegeheim geben müssen. | |
taz: Auch ihre achtjährige Enkelin ist in Gera überfahren worden. Sie hat | |
nicht überlebt. | |
Knoll: Sie stand mit einem Blumenstrauß auf dem Gehweg gegenüber von | |
unserem Wohnhaus. Es war der 7. Dezember 1988, mein Geburtstag. Sie wollte | |
mich besuchen und rennt vor der Straßenbahn rüber. Die Straßenbahn stand, | |
aber das Auto hat die Straßenbahn überholt. | |
taz: Was haben diese Schicksalsschläge mit Ihnen gemacht? | |
Knoll: Sie haben mich hart gemacht. | |
taz: Gab oder gibt es in Ihrem Leben richtige Freundinnen? | |
Knoll: In der Ausbildungszeit hatte ich eine sehr gute Freundin. Wir haben | |
zusammen zur Untermiete gewohnt und hatten nur ein Bett. Das war auch ein | |
Flüchtlingsmädel aus Toba. In Gera habe ich noch eine Freundin, wir haben | |
uns bei Veranstaltungen der Volkssolidarität kennengelernt. Der Kontakt war | |
sehr eng, aber jetzt hat ihre Tochter gesagt, es geht ihr sehr schlecht, | |
ich soll sie nicht mehr anrufen. Früher habe ich sie immer noch besucht. | |
taz: Und hier in der Wohnanlage? | |
Knoll: Wir hatten im Gemeinschaftsraum lange einen gemeinsamen Tisch. Da | |
haben wir immer gesessen und gespielt. Das war eine gute Clique. Die eine | |
machte einen schönen Eisbecher, die andere brachte eine Bowle mit. Aber die | |
sind alle nicht mehr. | |
taz: Alle sind gestorben? | |
Knoll: Ich bin die Einzige noch. Ich habe mich dann einer anderen Gruppe | |
angeschlossen. Ich bin nicht gern allein, ich möchte in Gesellschaft sein. | |
Wir treffen uns fast jeden Tag um Viertel viere, trinken unseren Kaffee und | |
spielen „Mensch ärgere dich nicht“. Früher haben wir Karten gespielt, aber | |
eine der Frauen kann keine Karten mehr halten, aber sie kann würfeln. Das | |
ist ein freundschaftliches Verhältnis, aber alles per Sie. Am Anfang war | |
hier in der Wohnanlage allerdings noch mehr Gemeinschaft. | |
taz: Was hat sich verändert? | |
Knoll: Wir wissen manchmal gar nicht mehr, wer neu eingezogen ist, man | |
sieht die Leute kaum. Wir lesen nur die Namen in unserer Heimzeitung oder | |
am Briefkasten. Dabei werden sie doch eingeladen, unten am Brett. | |
taz: Wie mobil sind Sie noch? | |
Knoll: Ich gehe noch viel runter zu Netto, ich fahre auch noch mit der | |
Straßenbahn ins Zentrum. Da musst du dir manchmal was anhören beim | |
Einsteigen wegen dem Rollator. „Jetzt kommen wieder die mit ihren Autos“. | |
Vor ein paar Wochen habe ich mir eine schöne neue Strickjacke gekauft. | |
Jugendmode stand an dem Geschäft. Da habe ich gedacht: da gehst du doch mal | |
rein (lacht). Eigentlich quillt mein Kleiderschrank ja über. | |
taz: Sie haben keine finanziellen Probleme? | |
Knoll: Im Großen und Ganzen nicht. Aber wenn ich mal ins Pflegeheim kommen | |
sollte, da drüben, reicht meine Rente nicht. | |
taz: Ist es eine abschreckende Vorstellung, dort zu landen? | |
Knoll: Nein. Ich kenne alle Stationen. Oft besuche ich dort eine Frau, die | |
vor 20 Jahren mit mir eingezogen ist. Ich bringe ihr immer ein Brötchen mit | |
Gehacktem mit. Das Personal ist sehr nett und hilfsbereit. Und wenn du dort | |
dann nachmittags um 4 schon fertig gemacht wirst für die Nacht, musst du | |
auch damit zufrieden sein. | |
taz: Wie ist der Kontakt zur Familie? | |
Knoll: Meine Geschwister leben nicht mehr. Meine Tochter wohnt in der Nähe | |
von Gera, sie fährt mich manchmal zum Arzt, aber sie arbeitet auch noch ein | |
paar Stunden in der Kaufhalle. Der Sohn wohnt an der Ostsee. Im Dezember zu | |
meinem Geburtstag wollte er kommen, aber er hat es nicht geschafft. Von | |
unterwegs rief er an: Ein Wildschwein ist ihm ins Auto gerannt. | |
taz: Nicht schon wieder … | |
Knoll: Das Auto verfolgt uns. | |
taz: Haben Sie noch Freude am Leben? | |
Knoll: Wenn es mir gesundheitlich so geht, wie es mir geht, sage ich mir: | |
Na ja, du möchtest schon noch. Wenn nicht mehr, habe ich nur einen Wunsch: | |
abends ins Bett und früh … | |
Das wünsche ich aber allen, wenn man das manchmal sieht, auch drüben auf | |
den Pflegestationen, wie lange das zum Teil so geht. Und ich will nicht | |
überfahren werden! | |
taz: Gibt es etwas, von dem Sie sagen, das ist im Alter richtig gut? | |
Knoll: Ich habe immer funktioniert, und das brauche ich jetzt nicht mehr. | |
taz: Rosel muss nicht mehr? | |
Knoll: Rosel muss nicht mehr, aber sie lebt noch gern. | |
9 Mar 2025 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
## TAGS | |
Das Leben einer Frau | |
Senioren | |
Wohnen | |
Altern | |
GNS | |
GNS | |
Das Leben einer Frau | |
Wohnungsmangel | |
Demografie | |
Schwerpunkt Stadtland | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Pflegenotstand: „Ich allein schaffe das nicht mehr“ | |
Es wird schwieriger für Pflegebedürftige, einen Heimplatz zu ergattern. | |
Krankenhäuser und Angehörige stellt das vor Probleme. So wie Marianne | |
Salger. | |
Das Leben meiner Mutter: Kannte ich Renate? | |
Für ihre Familie hat Renate alles getan, ihren eigenen Schmerz hüllte sie | |
in Vorwürfe. Als die Mutter unserer Autorin stirbt, beginnt das Nachdenken. | |
Vermittlung von Wohngemeinschaften: Bei Oma ist ein Zimmer frei | |
Viele Seniorinnen und Senioren sitzen allein in großen Wohnungen, während | |
junge Menschen keine Bleibe finden. Ein Projekt in Berlin will das ändern. | |
Mehr Superalte in Deutschland: Die Hundertjährige, die zu Hause lebt | |
In Deutschland lebt ein Viertel mehr mindestens 100-Jährige als elf Jahre | |
zuvor. Die Mehrheit wohnt zu Hause, aber der Bedarf an Heimen bleibt. | |
Sybille Volkholz über Engagement: „Eine große Erwartungshaltung“ | |
Sybille Volkholz, Gründerin der Lesepaten, ist Aktivistin in | |
Bildungsfragen. Jetzt wird sie 80. Ein Gespräch über Alter und | |
bürgerschaftliches Engagement. |