# taz.de -- Das Leben meiner Mutter: Kannte ich Renate? | |
> Für ihre Familie hat Renate alles getan, ihren eigenen Schmerz hüllte sie | |
> in Vorwürfe. Als die Mutter unserer Autorin stirbt, beginnt das | |
> Nachdenken. | |
Bild: „Deine Mama“ – diese Postkarte erinnert unsere Autorin noch täglic… | |
Es ist Dezember 2021. Gerade habe ich meiner Mutter Renate am Telefon | |
mitgeteilt, dass ich sie an Weihnachten diesmal nicht würde besuchen | |
können. Auch in dem [1][Pflegeheim] in Flensburg, in dem sie seit einem | |
Gehirnschlag vor über zehn Jahren lebt, gelten strenge Coronaregeln. | |
Die Alternative wäre allenfalls ein kurzer lächelnder Blick durch eine | |
Plexiglasscheibe gewesen, die Hand an der Scheibe aufgelegt. „Das erste Mal | |
wird Weihnachten niemand von der Familie da sein. Das ist das Schlimmste, | |
was ich seit der Flucht erlebe“, sagt sie, ihre Stimme zittert. | |
## Ein „verpfuschtes“ Leben | |
Zwei Monate später, im Februar, stirbt Renate – allein, wie so viele in | |
dieser Zeit, und in ihren letzten Stunden nur von einer Pflegerin | |
begleitet. Sie habe meiner Mutter noch die Fingernägel lackiert. Gepflegt | |
zu sein, das habe ihr immer so viel bedeutet, erzählt sie bei der | |
Trauerfeier, die bizarr anmutet. | |
Rund 30 Personen verteilen sich in der weiträumigen Marien-Kirche in | |
Flensburg und stehen danach noch auf dem Hof mit gebührendem Abstand | |
zusammen, bevor kurze Zeit später alle auseinandergehen. Denn auch der | |
„Leichenschmaus“ fällt der Pandemie zum Opfer. | |
Auf der Rückfahrt mit dem Zug nach Berlin denke ich über meine Mutter nach, | |
was mir seit ihrem Tod, ehrlich gesagt, nicht oft passiert. Außer jetzt, da | |
ich diesen Text schreibe. Habe ich sie wirklich gekannt und sie mich, das | |
zweite ihrer drei Kinder? | |
Ein „verpfuschtes“ Leben – so resümiert meine um sieben Jahre jüngere | |
Schwester einmal Renates 88-jähriges irdisches Dasein. Das hätte meine | |
Mutter so über sich nie gesagt – wie überhaupt stets so vieles ungesagt und | |
unausgesprochen blieb, wenn es um sie, ihre Träume, Wünsche, Hoffnungen und | |
Enttäuschungen ging. | |
## Traditionelle Rollenverteilung | |
Sich selbst ist Renate nichts, dafür die Familie für sie [2][alles]. Mit | |
klar traditioneller Rollenverteilung. Der Mann gibt den Ernährer, die Frau | |
kümmert sich um Haushalt und Nachwuchs. „Ich halte ihm den Rücken frei“ �… | |
so lautet einer ihrer Standardsätze, den ich schon in frühester Jugend zu | |
hassen lerne. | |
Den Rücken frei hält Renate meinem Vater auch in meinen ersten | |
Lebensjahren, die ich wegen mehrerer Operationen größtenteils in | |
Krankenhäusern verbringe. Ich sehe verschwommen mein Zimmer zu Hause vor | |
mir, mit einer Truhe, darauf stehen brennende Kerzen. Auch der | |
ortsansässige evangelische Pastor schaut kurz vorbei – für den Fall des | |
Falles. Müßig die Frage, wer fast Tag und Nacht an meinem Bett sitzt. | |
Wir wohnen recht abgeschieden in Schleswig-Holstein, 15 Kilometer südlich | |
von Flensburg auf dem Gelände einer Erwachsenenbildungsstätte an einem See. | |
Der Weg von dort zur Bundesstraße führt durch ein Waldstück. | |
Renate kutschiert mich bei Wind und Wetter, zunächst über Land in die | |
nächstgelegene Grundschule, später an eine Bushaltestelle, um nach | |
Flensburg zu fahren, wo ich ein Gymnasium besuche. Es ist ihr Beitrag zum | |
Credo dieser Generation, [3][den Kindern solle es einmal besser gehen] – | |
besser, auch als ihr. | |
## Aus Kaliningrad geflohen | |
Meine Mutter ist zwölf Jahre alt, als ihre Familie 1945 aus Königsberg | |
(heute Kaliningrad) vor der Roten Armee flieht. Sie landen in Oldenburg, | |
einer verschlafenen Kleinstadt in Ostholstein. Sie sind nicht willkommen | |
und werden misstrauisch beäugt von den Alteingesessenen. Sich wegducken und | |
möglichst geräuschlos einfügen in die neue Gesellschaft, lautet das Gebot | |
der Stunde. In der zehnten Klasse muss Renate das Gymnasium verlassen, da | |
die Familie das Schulgeld nicht mehr aufbringen kann. | |
Als Kind war ich mit meiner Mutter fast in allen Ferien in Oldenburg bei | |
ihrer elf Jahre älteren Schwester Ruth. Sie ist meine Lieblingstante. Wenn | |
der Eierverkäufer aus dem Nachbarort kommt, werde ich aus dem Zimmer | |
geschickt, aber ich lausche heimlich an der Tür. Es wird ostpreußischer | |
Dialekt gesprochen. | |
2015 treffen sich einige taz-Kolleg*innen zu einer Besprechung über | |
mögliche Beiträge für Sonderseiten aus Anlass des 70. Jahrestages zum Ende | |
des Zweiten Weltkrieges. Einer von ihnen berichtet von einer Studie über | |
Nachkriegskinder, die [4][als Erwachsene] vielfach körperliche Nähe nicht | |
zulassen könnten. Das Gesagte trifft mich ins Mark. Auch Renate und ich | |
konnten uns nie richtig in den Arm nehmen, geschweige denn Zärtlichkeiten | |
austauschen. | |
## Schweigen und Scham | |
Ein paar Monate später rufe ich im Pflegeheim an. Sie ist, ganz untypisch, | |
kurz angebunden. Gerade liefen die Nachrichten, da ging es um Flüchtlinge. | |
„Die kommen doch übers Meer, so wie wir damals über das Meer gekommen | |
sind“, sagt sie und legt auf. Ich atme tief durch. Endlich einmal spricht | |
sie etwas aus, anstatt Dinge in Schweigen zu hüllen und wegzuignorieren. | |
So wie an einem Tag, als wir beide, ich noch Schülerin, zu Hause in der | |
Küche sitzen. Meine Mutter redet über ihren bevor stehenden Hochzeitstag. | |
Für sie ist der Tag einer der wichtigsten Tage im Jahr. Im Juni 1957 | |
heiratet sie meinen Vater, im Dezember desselben Jahres kommt mein Bruder | |
auf die Welt. Ich frage: „Aber da warst du doch schon …“, ein bohrender | |
Blick ihrerseits beendet das Thema. In der Pubertät werde ich mir immer | |
mehr bewusst, dass ich mich manchmal vor anderen Leuten für meine Mutter | |
schäme. Aber noch größer ist die Scham darüber, dass ich mich für sie | |
schäme. | |
1984 ist es mit der vermeintlichen Familienidylle vorbei – mein Vater | |
trennt sich wegen einer anderen Frau. Ich, die ich mich meinem Vater in der | |
Familie am engsten verbunden fühle, soll es richten und ihn davon | |
überzeugen, bei ihr zu bleiben. Doch ich weigere mich, ich will und kann | |
„nicht liefern“, so wie ich später in den Augen meiner Mutter auch nicht | |
liefern werde. Renate kommt nie über diese Trennung hinweg. | |
In den nuller Jahren stirbt die mittlere Schwester meiner Mutter. Die | |
Beerdigung findet im ostholsteinischen Heiligenhafen statt. Die kleine | |
Kirche ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ganz vorne sitzen der Mann | |
meiner Tante und ihr gemeinsamer Sohn Michael, dessen Lebenspartner kauert | |
in der letzten Bankreihe. Sie wollen keinen Anstoß erregen. Da geht meine | |
Mutter nach hinten, kurz darauf nimmt der jetzige Mann meines Cousins neben | |
ihm Platz. Mein Onkel erstarrt, lässt es aber geschehen. Später wird Renate | |
erzählen, sie habe ihn darum gebeten, denn er gehöre doch zur engsten | |
Familie. | |
Den Abend desselben Tages verbringen Ruth, meine Mutter und ich in | |
Oldenburg. Wir reden über die Verstorbene und leeren dabei eine Flasche | |
Eierlikör. Ruth hat mit 17 Jahren geheiratet und eine Tochter geboren, ihre | |
zweite Tochter ist das Ergebnis des ersten und einzigen Fronturlaubs ihres | |
Mannes, den sie danach nie wieder sieht. Im Osten verschollen, heißt es. | |
Sie bleibt fortan allein. | |
„Hättest du gerne noch einmal eine Beziehung gehabt?“, will ich wissen. | |
Meine Mutter braust auf: „Wie kannst du es wagen, so etwas zu fragen?“, | |
zischt sie mich an. Ruth bleibt ruhig. „Endlich fragt mich mal jemand, nach | |
über 50 Jahren. Ich hätte manchmal Lust gehabt, in den Dorfkrug zum Tanzen | |
zu gehen und auch gerne noch einmal einen Mann im Bett gehabt“, sagt sie | |
und dreht den Kopf zur Seite, dahin, wo ihre Schwester sitzt. „Aber das hat | |
ja niemanden von euch interessiert.“ | |
## „Ich lebe“ | |
Es muss bei einer unserer letzten Begegnungen gewesen sein. „Wie kann man | |
eigentlich so leben, wie du lebst? Du bist nicht verheiratet, hast keine | |
Kinder …“, sagt meine Mutter. „Lass gut sein“, antworte ich, „ich leb… | |
diesem Zeitpunkt habe ich die 50 hinter mir gelassen und die Frage nach | |
Nachwuchs hat sich ohnehin erledigt. [5][Meine Mutter] blickt mich an und | |
wieder einmal spüre ich es – die stillen Vorwürfe, den Argwohn und das | |
Unverständnis gegenüber diesem Menschen, der da aus ihrem Schoß gekrochen | |
ist. | |
Manchmal bedauere ich, mit Renate nicht mehr Zeit verbracht zu haben. Doch | |
ob wir uns nähergekommen wären? Wohl kaum. | |
Wieder Dezember 2021, ein Tag vor Weihnachten. In meinem Postkasten liegt | |
ein Brief von Renate. Auf einer Weihnachtskarte steht: „Ich wünsche Dir | |
schöne Weihnachten und alles Gute im neuen Jahr. Deine Mama“. Beigelegt | |
sind 50 Euro. Das Kuvert mit Karte und Geld steht immer noch in meinem | |
Regal. | |
9 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Covid-Bericht-von-Amnesty-International/!5907884 | |
[2] /Interview-mit-Daniela-Droescher/!5873043 | |
[3] /Die-Mutterrolle-im-Theater/!5992912 | |
[4] /Kontaktabbruch-zur-Familie/!6068525 | |
[5] /Leben-einer-franzoesischen-Arbeiterin/!5996416 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
## TAGS | |
Das Leben einer Frau | |
Mutter-Tochter-Beziehung | |
Mutter | |
Sterben | |
Abschied | |
Hausfrau | |
GNS | |
Hamburg | |
Oldenburg | |
Das Leben einer Frau | |
Das Leben einer Frau | |
Das Leben einer Frau | |
Das Leben einer Frau | |
Theater | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Autorin über Ost-West-Denken und Prägung: „Das Intime ist mit dem Politisch… | |
In der Anthologie „Ost* West* frau*“ erzählen ost- und westdeutsche | |
AutorInnen, wie sie durch politische Systeme und Zuschreibungen geprägt | |
wurden. | |
Wissenschaftlerin über Abschied und Tod: „Uns fehlt Raum für Gespräche üb… | |
Wenn es um das Lebensende geht, gibt es oft eine große Sprachlosigkeit, | |
sagt Martina Wachtlin. Ihr Erzählsalon in Oldenburg will daran etwas | |
ändern. | |
Seniorin über das Leben im Alter: „Rosel muss nicht mehr“ | |
Rosemarie Knoll ist 91 und nicht mal die Älteste in ihrer | |
Seniorenwohnanlage. Ein bisschen möchte sie schon noch vom Leben haben, | |
sagt sie. | |
Frauen in den „mittleren Jahren“: Die Gelassenheit des Stinkefingers | |
Nicht mehr jung, noch nicht alt: Wie funktioniert das? Ziemlich gut, findet | |
Katja Kullmann – und schickt einen Gruß aus dem total interessanten | |
Dazwischen | |
Leben ohne eigene Kinder: Meine Utera hat Fragen | |
Im Umfeld unserer Autorin haben die meisten Frauen Kinder bekommen – sie | |
nicht. In ihrem Essay entwickelt sie einen eigenen Begriff von | |
Mutterschaft. | |
frauentaz: Das Matriarchat der Texte | |
Die Idee einer emanzipierten, solidarischen, gerechten Welt steht im Feuer. | |
Was ist die Antwort auf Hierarchie, Hass, Hetze und zunehmenden | |
Antifeminismus? | |
Die Mutterrolle im Theater: Die Angst, nie zu genügen | |
Für das Nationaltheater Mannheim hat Laura Linnenbaum den großartigen Roman | |
von Daniela Dröscher „Lügen über meine Mutter“ auf die Bühne gebracht. |