# taz.de -- Frauen in den „mittleren Jahren“: Die Gelassenheit des Stinkefi… | |
> Nicht mehr jung, noch nicht alt: Wie funktioniert das? Ziemlich gut, | |
> findet Katja Kullmann – und schickt einen Gruß aus dem total | |
> interessanten Dazwischen | |
Bild: „Es waren immer zuerst andere, die mich auf mein Frausein hinwiesen. Un… | |
Was mich am Frausein am meisten nervt, schon immer, ist, dass mir kaum | |
jemand glaubt, dass es nicht so wichtig ist. | |
Würde plötzlich ein Trupp Außerirdischer vor mir stehen und fragen, wer | |
oder was ich sei, würde ich stottern: „Ein M-M-Mensch!“ Ganz sicher würde | |
ich nicht als Erstes rufen: „Eine Frau!“ | |
Es kam auch eigentlich nie aus mir selbst heraus – es waren immer zuerst | |
andere, die mich auf mein Frausein hinwiesen. Und mir entsprechende | |
Lektionen erteilten. | |
Als Teenager habe ich gelernt, dass Jungs sich für meinen Körper sehr viel | |
mehr interessieren als für alles andere an mir. Als junge Frau wurde mir | |
eingetrichtert, dass ich fürs Putzen und für „diplomatisches Geschick“ | |
grundsätzlich mehr Talent hätte als junge Männer. Und nun, da ich die | |
50er-Marke gerissen habe, bringt man mir mehr oder minder schonend bei, | |
dass mein Frausein sich langsam, aber sicher dem Ende nähert. | |
## Zu alt für #MeToo? | |
Das erste Mal geschah es, als ich 47 war. Ich war gerade als leitende | |
Redakteurin bei einer Zeitung (es war übrigens die taz) angestellt worden, | |
da brummte [1][#MeToo] los. Nach der ersten Redaktionskonferenz zum Thema | |
fragte mich eine Jungredakteurin, ganz höflich und zugewandt, ob ich früher | |
auch mal #MeToo-artige Angriffe erlebt hätte. | |
Das früher in ihrer Frage verriet überdeutlich, dass ich in den Augen der | |
jungen Frau für sexuelle Belästigung nicht mehr in Frage kam. War das nicht | |
eine Unverschämtheit? Nannte man eine solche Denkweise nicht Ageismus? | |
Ich floh aus dem Großraumbüro ins Freie, steckte mir eine | |
Beruhigungszigarette an und wollte sauer auf die junge Frau sein. Doch es | |
gelang mir nicht so richtig. De facto hatte sie ja recht. Mit der Zeit | |
hatte das, was unter „MeToo“ gefasst wird, mir gegenüber tatsächlich | |
nachgelassen – und ich konnte mich nicht darüber empören, im Gegenteil: | |
Gerade das war ja ein markanter Vorteil des Älterwerdens als Frau, endlich | |
nicht mehr ständig beglotzt, betatscht und begutachtet zu werden, nach | |
Scheißdreckskriterien, die neuerdings „Fuckability“ genannt werden. | |
Auf der Straße, beim Einkaufen und Ausgehen wurde ich längst gesiezt, und | |
im Job wurde ich als erfahrene alte Häsin sehr viel seltener von männlichen | |
Kollegen unterbrochen als in den ersten zehn, zwanzig Jahren im Beruf. | |
Alles in allem wurde ich mittlerweile irgendwie … ernster genommen. Ja – so | |
war es! | |
Doch sogleich schrillten Warnsirenen durch meinen Schädel: Hatte nicht | |
kürzlich eine Branchenkollegin, Bascha Mika, 16 Jahre älter als ich, das | |
weibliche Älterwerden als „höllisches Spiel“ bezeichnet? Hatte nicht die | |
verehrte Musikerin Kim Gordon, 17 Jahre älter als ich, in ihrer | |
Autobiografie geschildert, wie ihr langjähriger Partner sie eiskalt für | |
eine Jüngere sitzen ließ? Und hatte die Schriftstellerin Ulrike Draesner, | |
acht Jahre älter als ich, nicht über die gleiche Erfahrung geschrieben und | |
darüber, dass sie seit einem gewissen Alter oft „wie ein sprechendes | |
Möbelstück“ behandelt werde? | |
Dann fragte ich mich aber: Wenn eine Frau klagt, es „drehe sich niemand | |
mehr nach ihr um“, wonach sehnt sie sich da? Wer genau sollte sich denn | |
umdrehen? Der Vertreter, der im ICE-Bistro sein Vertreterbier trinkt? Ein | |
beliebiger Typ an der Bushaltestelle? Es ist mir gleich, ob ein Fremder mir | |
hinterherpfeift oder nicht, es ist wertlos, überlegte ich, ich will keine | |
Schmatzgeräusche mehr hören, wenn ich an der Fußgängerampel stehe, kein | |
Catcalling mehr und kein Grunzen. | |
Plötzlich fielen mir lauter Frauen aus meiner Altersgruppe ein, prominente | |
wie nicht prominente, [2][die inzwischen irre „behandelt“ wirkten, wie | |
glatt gezurrt]. Alle hatten sie auf einmal das gleiche | |
Vorabendseriengesicht, und es sah immer ein bisschen grotesk aus, denn man | |
erkennt das Alter ja doch, am Hals, den Händen, der Motorik – dem Blick. | |
Als ich den letzten Zug der lebensverkürzenden Zigarette nahm, war es, als | |
ob sich in meinem Innern ein gewaltiger Stinkefinger aufrichtete – | |
eindeutig phallisch in der Form, aber warum auch nicht, dachte ich, soll | |
doch sonst wer „heteronormativ getriggert“ davon sein, ist mir doch egal! | |
Nein, das war jetzt mein Moment – mein lang ersehntes Coming-out als | |
Mensch. | |
## „Wiedergeburt“ statt „Krise“ | |
Fest steht: Über die mittleren Jahre sind üble Horrorstorys in Umlauf. Etwa | |
auf dem zweifelhaften Gebiet der „Glücksforschung“: Die persönliche | |
„Zufriedenheitskurve“ sinke bei den meisten Menschen im Alter von 47 auf | |
den Tiefpunkt, heißt es da. | |
Kein Wunder, dass viele sich vor diesem Alter fürchten – insbesondere | |
Frauen. Schon Simone de Beauvoir und Susan Sontag haben den „Doppelstandard | |
des Älterwerdens“ eindringlich beschrieben – die grelle Ungerechtigkeit, | |
durch die Frauen ab ihren Vierzigern als weniger „attraktiv“ gelten, | |
während Männer auch mit Altherrenwampe, Haarausfall und Geisterbahngebiss | |
als „beeindruckende Persönlichkeiten“ respektiert werden. | |
Unverstellte Frauenfeindlichkeit ist das, und sie hat Generationen von | |
Frauen klein gemacht. „Die Glorifizierung der traditionellen weiblichen | |
Rolle als ‚Frau und Mutter‘ trug sicher mit dazu bei, die Frau nur zwischen | |
25 und 45 Jahren als ‚vollgültigen Menschen‘ anzuerkennen – und hinterher | |
gewissermaßen aufs ‚Abstellgleis‘ zu schieben“: So hat es die ehemalige | |
Familienministerin Ursula Lehr (CDU) einst formuliert. | |
Heute klingen Geschichten aus jener Altersgruppe aber oft anders, etwa bei | |
der Schweizer Philosophin Barbara Bleisch, Jahrgang 1973, die unlängst ein | |
durchaus optimistisches Buch über „Die Mitte des Lebens“ geschrieben hat. | |
Oder bei Jasmin Ramadan, 1974 geboren. Ihren jüngsten Roman kommentierte | |
Ramadan (die auch eine taz-Kolumne schreibt) mit dem Satz: „Erst mit 45 | |
Jahren werden Menschen wahrhaftig interessant.“ Man beachte: Sie redet | |
nicht als Frau von Frauen, sondern als Mensch von Menschen. | |
Der Begriff [3][Midlife Crisis wurde ohnehin oft missverstanden]. Das | |
griechische Wort crisis bezeichnet keineswegs eine Katastrophe, sondern es | |
bedeutet – neutraler und offener – so viel wie „entscheidender Wendepunkt… | |
In der Psychologie ist jetzt öfter von der Midlife Renaissance die Rede, | |
von einer Art Wiedergeburt. Die peu à peu sich verändernden | |
Lebensrealitäten von Frauen dürften bei dieser Verschiebung eine nicht | |
unwichtige Rolle spielen. | |
Die Biografien sind vielfältiger geworden, die Alltagsrealitäten von Frauen | |
haben sich verändert. Nicht nur, weil sie vermehrt in der Erwerbswelt | |
zugange sind, auch, weil Familien und Bindungen sich wandeln. Die Zahl | |
alleinerziehender Mütter und alleinlebender Frauen steigt seit Jahrzehnten | |
an, und fast jede zweite Ehe geht in die Brüche. Im Schnitt ist die frisch | |
Geschiedene 44 Jahre alt, und nicht selten spricht sie von einem | |
„persönlichen Neustart“. | |
Auch dauerhaft gebundene Frauen betrachten ihre mittleren Jahre heute | |
anders, als es die Generation von Ursula Lehr noch tat. Früher oder später | |
beginnt die „Post-Mom-Phase“ – oder, wie die Schriftstellerin Andrea | |
Paluch, 1970 geboren, mit Robert Habeck verheiratet, [4][es sagt]: „Frauen | |
schmerzt der Abschied von den Kindern, aber sie merken irgendwann, dass sie | |
sich um sich selbst kümmern können und blühen auf. Sie werden stärker.“ | |
Der Wandel des weiblichen Selbstbewusstseins in den mittleren Jahren zeigt | |
sich im Unterhaltungssektor: [5][Schauspielerinnen und Regisseurinnen | |
agitieren gegen den „Hollywood Age Gap“], gegen niedrigere Gagen und ein | |
mangelndes oder stereotypes Rollenangebot für Frauen über 40. | |
Er zeigt sich auch in der Werbung: Für Vagisan-Feuchtcreme und | |
Tena-Lady-Slipeinlagen wird nunmehr komplett unverklemmt geworben, mit | |
ausnahmslos fröhlichen Protagonistinnen. Und dann ist da noch die Flut der | |
Menopausenliteratur, von Roman-Bestsellern wie Miranda Julys „Auf allen | |
Vieren“ bis zum demnächst erscheinenden Essay „Heiß“ von [6][Stefanie de | |
Velasco]. | |
## Mehr Kopf, weniger Bauch | |
Ehrlich gesagt, habe ich noch keines der Menopausenbücher gelesen. So wie | |
ich mir auch noch keine Creme in den Schritt geschmiert oder vorm Tanzen | |
eine Einlage in den Slip gelegt habe. Ich finde es gut, dass mehr und mehr | |
Frauen gegen das Schmähbild der vertrockneten Frustkuh angehen, dabei auch | |
über ihre Körper sprechen und auf Fortschritte in der Medizin pochen. | |
Andererseits stört mich gerade dies: Schon wieder geht es um den blöden | |
Body. Von der Reproduktionsfrage bis zu den Wechseljahren: die Frau, der | |
ewige Unterleib. | |
Angeblich für den männlichen Blick nicht mehr interessant – und von den | |
schweren Erkrankungen späterer Jahre noch ein gutes Stück entfernt: Aus | |
meiner Sicht ist das ein exquisites Zeitfenster. Endlich mal eine Chance, | |
das Wesen Frau nicht mehr nur „aus dem Bauch“ heraus, sondern mehr vom Kopf | |
her zu denken. „Es ist mir inzwischen egal, was andere von mir halten“, | |
höre ich weibliche Bekannte, Freundinnen, Kolleginnen im mittleren Alter | |
oft sagen. Und dann erzählen sie von der kleinen Agentur für irgendwas, die | |
sie gegründet haben, von der Bürgerinneninitiative, in der sie mitmischen, | |
von ihrem Balboa-Tanzkurs, ihren Umzugsplänen. | |
Die Altersarmut ist, logischerweise, dabei oft ein Thema. 1.330 Euro | |
beträgt laut deutschem Rentenatlas [7][die Bruttodurchschnittsrente für | |
Frauen]. Und was das Wort „Pflegenotstand“ bedeutet, erleben viele schon | |
jetzt live und in Farbe, mit den eigenen Eltern. | |
Nein, sich die Dinge schönzureden, bringt nichts, in keiner Lebensphase. | |
Sich Angst einjagen zu lassen, aber auch nicht. | |
Worauf ich gespannt bin: Wie Menschen, die sich nichtbinär nennen, die also | |
weder ein eindeutiges Frauen- noch ein unmissverständliches Männer-Theater | |
aufführen, eines Tages als Alternde auftreten werden – welche neuen Bilder | |
vom Altsein dadurch vielleicht entstehen. | |
Was mich nervt: Dass ich wahrscheinlich kaum eine Chance habe, als weise | |
Alte zu enden. Der sich hochrülpsende Neofaschismus, [8][das Klima], die | |
Kriege: So vieles ist inzwischen so dermaßen falsch und durcheinander, dass | |
mir all mein Wissen, all meine Lebenserfahrung als beinahe obsolet | |
erscheinen. | |
Das Positive daran: Gerade wegen der absurden und von Tag zu Tag | |
bedrohlicher werdenden Weltlage bin ich gezwungen, mich ständig upzudaten – | |
dazu verdammt, jung im Kopf zu bleiben. | |
9 Mar 2025 | |
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