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# taz.de -- Leben ohne eigene Kinder: Meine Utera hat Fragen
> Im Umfeld unserer Autorin haben die meisten Frauen Kinder bekommen – sie
> nicht. In ihrem Essay entwickelt sie einen eigenen Begriff von
> Mutterschaft.
Bild: Glücklichsein, das geht mit und ohne Kinder
Meine Großmutter hat 13 Kinder geboren. Sie war außerdem Hebamme in ihrem
anatolischen Dorf und hat vermutlich Hunderte Kinder mit auf die Welt
geholt. Meine Mutter wiederum hat drei geboren. Ich habe keine Kinder, aber
mein Leben ist nicht kinderlos. Mich umgeben Dutzende Nichten und Neffen,
sie sind Blutsverwandte unterschiedlichen Grades oder die Kinder meiner
Freund*innen.
Während die Reproduktiven in meinem Umfeld den deutschen Durchschnitt von
1,38 Kindern pro Frau locker doppeln, gehöre ich zu den – laut Zensus – 20
Prozent [1][kinderloser Frauen in Deutschland].
In meinem sozialen Umfeld ist das kein besonders verbreitetes Phänomen. Die
meisten Midlifer, die in den Neunzigerjahren Teenager waren und in den
Problemvierteln deutscher Großstädte groß geworden sind, haben Kinder
bekommen.
Sie gehören multiplen Minoritäten an und sind aus ihren nicht besonders
privilegierten Ursprungsmilieus aufgestiegen. Warum das relevant ist? Weil
das Nicht-Kinderkriegen in so einem Umfeld keine Frage ist, die als
feministischer Emanzipationsakt verhandelt wird.
In der Mehrheitsgesellschaft verhält sich das offenbar anders. Die Welt
scheint [2][voll mit Büchern und Studien von und über Frauen, die sich
kritisch mit dem Muttersein beschäftigen], ihre Mutterschaft bereuen oder
ihre Kinderlosigkeit feiern.
Nichts bereuen, nichts feiern
Ich bin eine Nicht-Mutter. Ich bereue nichts. Ich feiere nichts. Ich fühle
mich nicht frei, weil ich keine Kinder habe. Ich fühle mich nicht unfrei,
weil ich keine Kinder habe. Und doch geistert da ständig diese Frage durch
meinen Kopf: Was bedeutet Mutterschaft? Vor allem, was bedeutet
Mutterschaft für Frauen, die keine Kinder bekommen?
Die Antwort auf die erste Frage glaubte ich – Tor, wie ich war – recht klar
beantworten zu können. Kinderkriegen ist narzisstisch. Etwas, das Menschen
tun, weil sie sich selbst so toll finden, dass sie glauben, die Welt
bräuchte mehr von ihnen. Da ich allgemein keine gute Meinung über die
Menschheit hatte, hielt ich Selbstreferenz für kein gutes Motiv für
Fortpflanzung.
Doch in der Mitte der statistischen Midlife verändert sich etwas bei mir.
Nach dem Abhaken der Basisfragen auf dem Weg zum Erwachsenwerden öffnet
sich nach schweren familiären Verlusten eine existenzielle Tür in mir, und
mein Körper entwickelt ein Eigenleben. Meine Utera lässt mich nicht in
Ruhe. Sie fragt: Wenn hier nichts passiert, was sollen wir dann mit all
dieser Fruchtbarkeitspower?
In der Buchhandlung meines Vertrauens finde ich dazu keine Fachliteratur.
Die Händlerin nimmt sich Zeit für mich, sie sucht und sucht und sucht.
Vielleicht im englischsprachigen Raum? Oder in der Vorschau? Nein, aber ein
paar Romane sind in den vergangenen Jahren erschienen. Ich spaziere nach
Hause, tauche durch mein Unterbewusstsein, streife durch Fakten und Fiktion
im Netz.
[3][Ich lese eine Studie der Dualen Hochschule Gera-Eisenach aus dem Jahr
2022, in der 1.110 kinderlose Frauen befragt wurden und die zu dem Ergebnis
kommt]: Die Motive der Frauen, die sich meist schon vor dem 21. Lebensjahr
gegen Kinder entschieden haben, haben nichts mit der Gesellschaft zu tun
und seien „zutiefst intrapersonell“, also das Ergebnis eines Prozesses, der
innerhalb einer Person stattfindet und nur diese betrifft. Und: Diese
Frauen sind glücklich. Das ist schön, denke ich, hilft mir aber nicht
wirklich weiter.
Sheila Hetis Selbstbefragung
In [4][Sheila Hetis Roman „Motherhood“] verhandelt die namenlose
Protagonistin die Frage, ob sie Mutter werden soll, indem sie immer wieder
eine Goldmünze wirft. Ein uraltes Ritual zur Selbstbefragung, das wir
Menschen vermutlich nutzen, seit wir Menschen sind, also ein Bewusstsein
haben.
Aber ich brauche keine Selbstfindung. Zumindest nicht zur Frage, die sich
Heti stellt. Ich kann keine Münze werfen, es gibt mehr als zwei Antworten
darauf, was Mutterschaft ohne Kinder bedeutet. Heti verhandelt aber auch
die Last der Verantwortung von jüdischen Nachfahren, sich fortzupflanzen.
Das ist selbstverständlich nicht vergleichbar, aber ein für mich
nachvollziehbarer Punkt.
In privilegierten Gesellschaften können Kinder schnell zu Statussymbolen
werden, Einzelprojekte, die man sich im Zuge der gelangweilten Adoleszenz
zur Selbstverwirklichung anschafft. In Familien mit Minoritätsbezug
bedeuten Kinder oft mehr. Sie sind der Segen des Lebens, des Fortbestehens;
die Hoffnung darauf, dass die Herausforderungen der vorigen Generationen
sich für sie nicht wiederholen, dass die Folgen struktureller
Diskriminierung, Armut, Naturkatastrophen oder Vertreibung sich endlich
verwachsen. Der Wunsch nach Kindern ist irgendwie auch der Wunsch nach
Heilung. Individuell, vor allem aber kollektiv. Das fühle ich.
„Frausein“ von Mely Kiyak
Ich werfe mich dramatisch auf die Couch. In meinem Bücherregal steht
[5][„Frausein“ von Mely Kiyak.] Darin finde ich den Satz: „Ich wollte nie
Kinder, ich wollte immer nur schreiben.“ Da blitzt es in mir auf. Ich
erinnere mich an den Moment, als ich diese Zeilen das erste Mal las. Es
war, als würde jemand Wasser auf mein glühendes Herz schütten.
Ich teile nicht ihr Motiv, aber das Buch hätte sicher geholfen, als ich als
Teenager sagte, dass ich keine Kinder will. Da haben die Frauen in meiner
Familie nur geschmunzelt, sich bedeutsame Blicke zugeworfen, ihre Köpfe
bewegt, als würden sie ein Geheimnis darin schütteln und mir manchmal ein
„Du bist noch jung, das wird schon“ zugeworfen. Als meine Freundinnen
anfingen, Kinder zu bekommen, teilte sich mein Freundesmeer. In die Hälfte,
die sich fortpflanzte, und in die andere Hälfte, die noch suchte. Ich
wusste nicht, wonach.
Ich freute mich aufrichtig über jede Schwangerschaftsnachricht, aber mein
Interesse für die Belange der Schwangeren hielt sich ehrlicherweise in
Grenzen. Als gute Freundin versuchte ich, mit Empathie und Verständnis auf
ihre Bedürfnisse zu reagieren.
Mag sein, dass mir das mehr oder weniger gelungen ist. Aber es gab stets
eine Grenze. Wenn ihre körperliche Transformation im letzten Trimenon ihren
Höhepunkt erreichte, war das im Rückblick der Moment, wo sich entschied, ob
die Freundinnenschaft hielt oder nicht.
Neue Rahmenbedingungen zwischen Freundinnen
Ich zweifelte nie an meiner Entscheidung, aber ich verstand, dass es eine
Zeit der Distanz geben würde. Und dass wir, wie in jeder Beziehung, die
Rahmenbedingungen entlang der neu entstandenen Bedürfnisse verhandeln
würden müssen. Mit manchen wurde die Beziehung enger, von anderen entfernte
ich mich. Ich erlebte aber auch, wie Freundinnen so eng zusammenwuchsen,
dass ein Band fürs Leben geknüpft wurde. Zwischen Frauen, die Kinder haben
und Frauen, die keine Kinder haben.
Langsam erinnere ich mich. In meiner Kindheit war es völlig normal, mehr
als nur eine Bezugsfrau zu haben, die sich neben der eigenen Mutter um
einen kümmerte. Mütter schlossen sich damals zusammen, um sich gegenseitig
zu entlasten.
Aber oft gehörten zu diesen Bündnissen auch Frauen, die selbst keine Kinder
hatten. Sie übernahmen Verantwortung als Tanten, Großtanten, Schwestern,
Cousinen, Freundinnen oder Nachbarinnen. Jede von ihnen war mir ein
feministisches Vorbild. Nicht deshalb, weil sie mit der Verweigerung ihrer
Reproduktivität das Patriarchat bekämpften, sondern weil jede auf ihre Art
mich das Kämpfen lehrte.
Natürlich haben diese Frauen ihre Bündnisse auch aus der Not heraus
gegründet. Wenn man als kinderlose Freundin, Schwester oder Cousine
unbezahlt in die Kinderbetreuung miteinsteigt, öffnet das der
Selbstausbeutung Tür und Tor. Das darf nicht Sinn der Sache sein.
Vorbild für nachkommende Generationen
Schön ist aber: Man kann Vorbild für nachkommende Generationen sein, die
mit dem Selbstverständnis aufwachsen, dass Familie über den biologischen
Bezug hinausreicht; dass wir durch Solidarität und Gemeinschaft ein
besseres Leben haben können – und dass Unabhängigkeit nicht Vereinzelung
bedeutet.
In meinem Umfeld hat der Begriff Mutterschaft gerade erneut Konjunktur –
und ich bekomme eine Ahnung davon, was das geschüttelte Geheimnis in den
Frauenköpfen meiner Familie gewesen sein könnte. Vielleicht ist das
Geheimnis, dass es im Leben um mehr als nur sich selbst geht.
Die Lebensmitte ist die perfekte Zeit, sich Gedanken über Mutterschaft zu
machen – und zwar nicht nur, weil man sich statistisch Richtung Ende der
fertilen Phase bewegt, sondern weil viele von uns zu diesem Zeitpunkt die
Ressourcen haben, sich um mehr als um sich selbst zu kümmern. Das wiederum
ist ein Gedanke, den sich alle Geschlechter zu Herzen nehmen sollten.
Wir können uns entscheiden. Wir können entscheiden, eine Frau zu sein und
als solche ein glückliches Leben mit oder ohne Kinder zu führen. Das ist
ein Privileg. Es ist aber auch ein Privileg, in die Zukunft zu investieren.
Das geht auf vielen Wegen. Von den kleinen Dingen im Alltag zu den großen
Fragen der Welt: Übernehmt Verantwortung, seid Vorbilder und lehrt andere
zu kämpfen – werdet geistige Mütter.
Wenn ihr euch nicht um Kinder kümmern wollt, legt einen Garten an, gründet
Nachbarschaftsvereine, schreibt Bücher, geht in die Politik, rettet das
Klima, stellt euch gegen Rassisten. Vielleicht macht es euch jemand nach.
Vielleicht wachsen wir.
8 Mar 2025
## LINKS
[1] /Kinderlosigkeit-bei-Frauen/!5810764
[2] /Neues-Buch-ueber-das-Muttersein/!5762202
[3] https://www.dhge.de/DHGE/Hochschule/Forschung-und-Transfer/Forschungsprojek…
[4] /Sheila-Hetis-Buch-Mutterschaft/!5587169
[5] /Essay-von-Mely-Kiyak/!5707766
## AUTOREN
Canset Icpinar
## TAGS
Das Leben einer Frau
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