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# taz.de -- Roman „Im Leben nebenan“: Alltag und Verzweiflung
> Was, wenn du aufwachen würdest in deinem Heimatort, mit der Jugendliebe
> verheiratet und mit einem Kind? Das fragt sich Anne Sauer in ihrem
> Debütroman.
Bild: Objekt gesellschaftlicher Erwartungen: Frau mit Kinderwagen in Berlin
„Was wäre gewesen, wenn?“ Eine Frage, die zu melancholischen Tagträumen
verleiten kann und die gedankliche Tür öffnen zu zahllosen Parallelleben.
Für die Protagonistin in Anne Sauers Debütroman wird aus dieser Frage mehr
als nur ein Gedankenspiel: Sie findet sich eines Tages in einer anderen
Version ihres Lebens wieder. In einem Leben nebenan.
„Bücher sind für mich ein Raumöffner“, antwortet die Hamburgerin auf die
Frage, was Literatur ihr bedeute. Zum einen öffneten sie einen Raum nach
außen, für Austausch; zum anderen einen nach innen: wenn es im Kopf zu viel
und zu laut werde.
Sauer, geboren 1989, ist studierte Buchwissenschaftlerin, ausgebildete
Texterin und war einige Jahre in einer Kreativagentur tätig. Heute würden
die Bezeichnungen „Literaturvermittlerin und Autorin“ am besten passen, um
ihre Tätigkeiten zu beschreiben, sagt sie der taz. Neben dem Schreiben
empfiehlt und bespricht Sauer tatsächlich seit Jahren bereits Bücher über
verschiedene Kanäle: zum einen gemeinsam mit Tina Luz in dem [1][Podcast
„Monatslese“] oder ihren eigenen [2][Instagram-Account „fuxbooks“.] Zum
anderen auch persönlich: im Laden. So war Sauer lange im Team der
Buchhandlung Lüders in Hamburg-Eimsbüttel.
In ihrem Roman „Im Leben nebenan“ geht es um Toni. Die 34-Jährige lebt mit
ihrem Freund in der Großstadt, arbeitet im Marketing und versucht gerade
schwanger zu werden. Doch dann erwacht Toni im Körper und Leben von
Antonia, einer Version ihrer selbst: Mit einem Neugeborenen und liiert mit
der früheren Jugendliebe lebt sie immer noch in ihrem Heimatdorf. Während
Antonia fortan in diesem Leben feststeckt, bleibt auch Tonis eigentlicher
Alltag erzählerisch präsent; parallel entfaltet der Roman die Geschichte
zweier Lebensentwürfe.
Beim Schreiben hört Anne Sauer gerne Musik, „um herauszufinden, wohin mein
Emotionspendel ausschlägt“. Auch [3][Taylor Swifts] Album „The Tortured
Poets Department“ lief passenderweise während des Entstehungsprozesses. Das
verriet Sauer schon 2024 in ihrem [4][Essayband „Look What She Made Us
Do“]. Darin setzte sich die bekennende Swiftie mit Taylor Swifts Erfolg,
dem misogynen Umgang damit und ihrem eigenen Fan-Sein auseinander. Sie
zieht dabei auch autobiografische Parallelen: etwa in der Erfahrung, als
weiblich gelesene Person nicht ernst genommen zu werden in einer von
Männern dominierten Branche.
Ausgangspunkt für den Roman war ein Satz, der es bis in die finale Fassung
des Textes schaffte: „Dieses Baby gehört mir nicht.“ Die Vorstellung,
plötzlich mit einem Kind auf der Brust aufzuwachen, setzte bei Sauer den
Schreib- und Gedankenprozess in Gang. Themen, die sie schon lange in sich
trug, wurden greifbarer.
„Im Kern geht es für mich um Selbstbestimmung“, sagt sie, „körperliche
Zumutbarkeit und die Frage, was es heute bedeutet, eine Frau zu sein“.
Nicht Mutterschaft stehe im Zentrum, sondern die Entscheidungen, die damit
verbunden seien, sowie der Blick auf Körper, auf Mütter, auf kinderlose
Frauen. Auch Beziehungen spielten eine wichtige Rolle. „Konkret die Frage:
Wie verändert sich Liebe, wenn sich die eigene Lebensrichtung verschiebt?“
Antonias Verzweiflung über die plötzliche Mutterschaft wird besonders
eindrücklich in Alltagsszenen der Überforderung beschrieben, etwa wenn es
heißt, das Baby habe man ihr „einfach wieder angelegt“. Kaiserschnittnarbe
und schmerzende Brustwarzen stellt Sauer genauso authentisch dar wie
Gedanken, die nicht passen wollen zum gesellschaftlich konstruierten Mythos
eines vermeintlich natürlichen Mutterinstinkts, die brechen mit einer
unrealistischen Vorstellung von Mutterschaft überhaupt.
Gleichzeitig zeigt Sauer die Zumutungen und die Erschöpfung einer Frau ohne
Kind: Die muss sich ständig rechtfertigen, ist mit den beträchtlichen
körperlichen und finanziellen Kosten der Reproduktionsmedizin konfrontiert
– und hinterfragt dabei, ob der Kinderwunsch, den sie „so bedingungslos zu
erfüllen versucht“, wirklich ihr eigener ist.
Die „Was wäre, wenn?“-Frage bildet nur den Ausgangspunkt, öffnet den Raum
für eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der Frage: „Was will ich
wirklich?“
## Ungesehene Arbeit
Die dargestellten Lebensentwürfe werden im Roman nicht bewertet oder
gegeneinander ausgespielt, sie stehen nebeneinander. Beide Frauen sind
gleichermaßen mit gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert, während
Entscheidungen nicht selten über ihre Köpfe hinweg getroffen werden. Beider
emotionale und körperliche Arbeit bleibt immer wieder ungesehen, auch
seitens ihrer Partner. Sauer erzählt von diesen und vielen weiteren
Facetten des Frauseins – so spürbar, dass die Leserin stellenweise am
liebsten selbst lachen oder schreien würde.
„Im Leben nebenan“ lässt sich an einem Tag lesen und lässt eine dennoch
tagelang nicht los. Anne Sauer selbst sieht den Roman auch als Einladung zu
mehr Verständnis und Empathie: „Ich habe das Gefühl, da ist eine
unsichtbare Wand zwischen Eltern und Kinderlosen, zwischen Frauen und ihren
Partnern. Diese Wand möchte ich transparenter machen.“
Eine Anschluss-Leseempfehlung hat die professionelle Literaturvermittlerin
auch: [5][„Die Wand“ von Marlen Hofhauser]; eines ihrer Lieblingsbücher,
von dem sich manche Referenz in ihrem eigenen Buch finde.
19 Jul 2025
## LINKS
[1] https://www.instagram.com/monatslese.podcast/?hl=de
[2] https://www.instagram.com/fuxbooks/?hl=de
[3] /!vn6061748/
[4] https://www.perlentaucher.de/buch/anne-sauer/look-what-she-made-us-do.html
[5] /Im-Rezitiergefaengnis/!5657801
## AUTOREN
Marie Dürr
## TAGS
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Kolumne Poetical Correctness
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