| # taz.de -- Corona-Radwege in Berlin: Pop up, pop down | |
| > Das Verwaltungsgericht hält die Corona-Radwege in Berlin für nicht | |
| > ausreichend begründet. Müssen sie nun alle ganz schnell weg? | |
| Bild: Radfahrer mit Maske auf Pop-up-Radweg | |
| Das Verwaltungsgericht hat die Senatsverkehrsverwaltung dazu verpflichtet, | |
| acht prominente Pop-up-Radwege zu entfernen. War's das jetzt? | |
| Nein, so schnell schießen die Preußen nicht – um mal eine Sprache zu | |
| verwenden, die man bei der AfD versteht. Deren Abgeordneter Frank | |
| Scholtysek, der als „einfacher Autofahrer“ den Antrag beim | |
| Verwaltungsgericht gestellt hatte, twitterte am Dienstag, er werde „im | |
| Verlauf dieser Woche kontrollieren, ob die rechtswidrigen Radwege | |
| zurückgebaut werden. Falls das nicht passiert, geht's gleich wieder vor | |
| Gericht.“ Was Scholtysek nicht ahnt: Solange das Rechtsmittel der | |
| Beschwerde nicht ausgeschöpft ist, passiert üblicherweise gar nichts. | |
| Und hat die Verwaltung diese Beschwerde eingereicht? | |
| Noch nicht. Sie hat dafür auch zwei Wochen Zeit – und noch einmal | |
| zusätzlich zwei Wochen, um diese Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht | |
| (OVG) zu begründen. Angekündigt hat das Haus von Senatorin Regine Günther | |
| (Grüne) aber, dass es diesen Weg beschreiten will und dass es gleichzeitig | |
| die aufschiebende Wirkung der Beschwerde beantragen wird (automatisch | |
| passiert das nicht). Bis das OVG entschieden hat, können Wochen bis Monate | |
| vergehen. So lange werden Scholtyseks Kontrollfahrten vergeblich sein. | |
| Wie stehen denn die Chancen, dass das OVG den erstinstanzlichen Beschluss | |
| aufhebt? | |
| Das weiß natürlich niemand. Von manch juristisch Bewandertem hört man | |
| munkeln, die Begründung des Verwaltungsgerichts sei vielleicht nicht ganz | |
| so ausgegoren. Aus der Senatsverwaltung heißt es salomonisch: „Es stehen | |
| hier grundsätzliche Fragestellungen im Raum, die das Verwaltungsgericht in | |
| seiner Eilentscheidung aus Sicht der Senatsverwaltung nicht hinreichend | |
| gewürdigt hat.“ Man halte die Pop-up-Radwege für „rechtmäßig angeordnet… | |
| hinreichend nach den Erfordernissen des § 45 Straßenverkehrsordnung | |
| begründet.“ | |
| Was genau hat das Gericht moniert? | |
| [1][Das Gericht argumentiert] auf Grundlage der Straßenverkehrsordnung | |
| (StVO) in etwa so: Wenn eine Kommune eine „verkehrsregelnde Anordnung“ | |
| tätigt, setze das „eine konkrete Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des | |
| Straßenverkehrs“ voraus – dabei genügt es, dass „irgendwann in | |
| überschaubarer Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Schadensfälle | |
| eintreten können“. Eine „Gefahrenlage für Radfahrer“, mit der der Senat | |
| argumentiere, könne nicht allgemein konstatiert werden, sondern müsse sich | |
| „aus der Kraftfahrzeugbelastung sowie der Unfallträchtigkeit eines | |
| bestimmten Straßenabschnitts aufgrund besonderer baulicher oder | |
| verkehrlicher Gegebenheiten der Straße und eventuell bestehender | |
| Schwerverkehrsbelastung“ ergeben. Das habe die Verkehrsverwaltung „nicht | |
| ansatzweise“ konkretisiert. Es fehlten „Tatsachengrundlagen“ wie | |
| Statistiken über Verkehrsaufkommen oder Unfälle. | |
| Und das wusste in der Senatsverwaltung niemand? | |
| Die stützt sich auf ein von anderen JuristInnen erarbeitetes Dokument, ein | |
| [2][Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags]. Das | |
| kommt zu einem anderen Schluss: Zwar dürften Beschränkungen des fließenden | |
| Verkehrs grundsätzlich nicht ohne eine spezifische örtliche Gefahrenlage | |
| angeordnet werden. Davon nehme die StVO aber Radfahrstreifen explizit aus. | |
| Es sei also „denkbar“, folgern die GutachterInnen, solche rechtssicher mit | |
| der Begründung anzuordnen, dass der Radverkehr stetig zunehme, die | |
| Radverkehrsanlagen nicht mehr ausreichten und so das „Risiko von | |
| Schadensfällen“ zunehme. | |
| Was sagt das Verwaltungsgericht dazu? | |
| Laienhaft formuliert: Ja, es gibt eine Ausnahme, aber die Regel gilt | |
| trotzdem. Evan Vosberg, Vize-Vorsitzender des Berliner ADFC, kommentierte | |
| das auf Twitter so: [3][„Wtf?“] | |
| Welche Rolle spielt, dass die Radstreifen mit der Coronapandemie begründet | |
| wurden? | |
| Eigentlich keine. Ein Problem wäre es gewesen, hätten die Behörden die | |
| Pandemie als einzige Begründung genannt. Sie argumentierten damit aber nur | |
| hilfsweise: Der durch Lockdown & Co. angewachsene Radverkehr mache die | |
| Radfahrstreifen nur noch dringlicher als ohnehin schon. | |
| Und ist das gut oder schlecht? | |
| Tja. Da kommt es auf die anstehende Entscheidung an. Der Berliner | |
| Bundestagsabgeordnete Stefan Gelbhaar, Grünenfraktionssprecher für | |
| Radverkehr, sagt, er halte es zwar für „gut möglich, dass das OVG diesen | |
| Beschluss aufhebt“. Sollte sich aber „die Interpretation des | |
| Verwaltungsgerichts verfestigen, wird die Senatsverwaltung die | |
| Gefährdungslage konkreter begründen müssen. Das ist machbar, durch | |
| Verkehrsmessung oder -beobachtung, es würde aber die Umsetzung des | |
| Mobilitätsgesetzes nochmal deutlich erschweren.“ | |
| Genau, das Mobilitätsgesetz. Sagt das nicht sowieso, dass [4][auf jede | |
| Hauptverkehrstraße eine aureichend breite Radverkehrsanlage] gehört? | |
| Ja, das sagt es – und schlimmstenfalls gerät das in Konflikt mit der | |
| gerichtlichen Auslegung der Straßenverkehrsordnung. Wenn für jeden | |
| Straßenabschnitt belegt werden müsste, dass genau hier eine konkrete | |
| Gefährdung vorliegt, könnte das die Umsetzung einer sicheren Infrastruktur | |
| in Teilen verhindern oder zumindest in die Länge ziehen. Fakt ist: Am Ende | |
| schlägt Bundesrecht Landesrecht. Es gilt die StVO. | |
| Was sagen diejenigen dazu, die seit Jahren für die Verkehswende kämpfen? | |
| Sie sei „vorsichtig optimistisch“, meint Ragnhild Sørensen von Changing | |
| Cities e. V. – „dass damit das Mobilitätsgesetz auf einmal obsolet ist, | |
| kann ich mir nicht vorstellen.“ Der Gang des AfDlers vors | |
| Verwaltungsgericht sei einer von vielen Versuchen, die Verkehrswende | |
| auszubremsen. „Dass man mit Widerstand rechnen muss, erleben wir bei jedem | |
| Parkplatz.“ Und Stefan Gelbhaar kann dem Ganzen sogar etwas Positives | |
| abgewinnen: „Der Beschluss macht endlich sichtbar, dass hier ein Kampf um | |
| die Straße tobt, der auch innerhalb und zwischen den unterschiedlichsten | |
| Institutionen ausgefochten wird.“ | |
| Heißt? | |
| Das es einfach würde, hat niemand gesagt. | |
| 8 Sep 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.berlin.de/gerichte/verwaltungsgericht/presse/pressemitteilungen… | |
| [2] https://www.bundestag.de/resource/blob/704000/6ae550c8cbdf2a7226ed77b10cd37… | |
| [3] https://twitter.com/evanvosberg/status/1302932549539422209?s=20 | |
| [4] http://gesetze.berlin.de/jportal/portal/t/1dmu/page/bsbeprod.psml/action/po… | |
| ## AUTOREN | |
| Claudius Prößer | |
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