| # taz.de -- Verkehrswende in Berlin: Radfahren ist nicht eingeplant | |
| > Wenn Berlins längste Autobahnbrücke bald neu gebaut wird, soll sie auch | |
| > zur Radverbindung werden. So zumindest die Forderung aus den Reihen des | |
| > ADFC. | |
| Bild: Bisher mussten die Radfahrer die Schleuse Charlottenburg an der Spree wei… | |
| Sie ist fast einen Kilometer lang und damit die längste der Hauptstadt, | |
| trotzdem wissen viele Menschen in Berlin gar nicht, wo die | |
| Rudolf-Wissell-Brücke liegt und was sie so überbrückt. Vor allem | |
| diejenigen, die kein Auto besitzen. Hier sind die Informationen: Die | |
| Wissell-Brücke ist Teil der Stadtautobahn A100, sie führt im | |
| Charlottenburger Norden in bis zu 16 Metern Höhe über S- und | |
| Fernbahngleise, die Spree und eine Schleuse, sie wird jeden Tag von mehr | |
| als 180.000 Autos befahren. Und sie ist völlig marode. | |
| Seit Jahren steht fest, dass das um 1960 errichtete Bauwerk komplett neu | |
| gebaut werden muss, und zwar bald. Würden vorher massive Schäden auftreten | |
| wie etwa an der Elsenbrücke in Treptow – es wäre hier, auf einem der am | |
| dichtesten befahrenen Autobahnabschnitte Deutschlands, ein Fiasko. Das | |
| Terrain ist schwierig, weshalb die ArchitektInnen, die die Ausschreibung | |
| für den Neubau gewannen, einen komplexen Bauablauf ersonnen haben. Am Ende | |
| sollen zwei parallele Brücken entstehen – eine pro Fahrtrichtung –, die | |
| etwas weiter östlich als der heutige Spannbeton-Koloss liegen. | |
| Läuft nach dem anvisierten Baubeginn 2023 alles glatt, dürfen | |
| AutofahrerInnen sich freuen: Sie bekommen noch mehr Platz als heute schon. | |
| Durch stark verlängerte „Einfädelspuren“ wächst die Brücke in der Breite | |
| von je drei auf vier Spuren. Die staatliche Projektmanagementgesellschaft | |
| Deges, die den Bau koordiniert, begründet das damit, dass der Verkehr auch | |
| während der Bauphase fließen muss. Ob es bei den aktuell veranschlagten 200 | |
| Millionen Euro für das Projekt bleibt, weiß niemand, die Rechnung begleicht | |
| wie bei allen Autobahnen der Bund. | |
| An dieser Stelle tritt Henning Voget auf den Plan. Er ist hauptberuflich | |
| auch Architekt für Verkehrsprojekte, mit der Rudolf-Wissell-Brücke | |
| verbindet ihn aber etwas anderes: Als Mitglied des Berliner ADFC-Vorstands | |
| sitzt er als einziger Ehrenamtlicher im 30-köpfigen Projektbeirat, den die | |
| Deges 2017 einrichtete. | |
| ## Ein Plädoyer für die hängende Konstruktion | |
| Nicht dass man ihn speziell dafür ausgesucht hätte – beispielsweise um der | |
| neuen Brücke einen Radweg als Extra zu verpassen. Projektbeiräte sehen | |
| einfach die Beteiligung unterschiedlicher Verkehrsverbände vor. Aber Voget | |
| hat die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und genau das getan: Er plädierte | |
| für einen Radweg auf der Brücke, genauer: an der Brücke – eine hängende | |
| Konstruktion, die regengeschützt unterhalb der Fahrbahn entlangführen und | |
| eine neue Nord-Süd-Verbindung erschließen soll. | |
| „Ich habe die Idee gleich zu Beginn in das Verfahren eingespeist“, sagt | |
| Voget zur taz. „Wir wollen da nämlich auch rüber.“ Er betrachtet den | |
| Brückenneubau als Chance in einem Gebiet, wo etliche Querungen von | |
| Bahnstrecken für Radfahrende in den vergangenen Jahren ersatzlos | |
| weggefallen sind. Mit Karten, die er gezeichnet hat, belegt er, dass in | |
| einer Diagonale von Südwest nach Nordost kein Durchkommen für | |
| Unmotorisierte ist. Gleise und Fluss zwingen sie zu Umwegen über Spandauer | |
| Damm und Tegeler Weg oder aber Rohr- und Siemensdamm. Da der Radverkehr im | |
| Rahmen der [1][Verkehrswende] massiv wachsen soll, ist für Voget klar, dass | |
| die Autobahn an dieser Stelle auch zur Radbahn werden sollte. | |
| Zumal in Kürze eine Novelle des Bundesfernstraßengesetzes in Kraft tritt, | |
| die ebenso in diese Richtung zielt: „Betriebswege auf Brücken im Zuge von | |
| Bundesautobahnen […] sind bedarfsabhängig durch den Träger der | |
| Straßenbaulast so zu bauen und zu unterhalten, dass auf ihnen auch | |
| öffentlicher Radverkehr abgewickelt werden kann“, heißt es darin. Der Weg, | |
| den Voget auch schon mal gezeichnet hat, verliefe aber gerade nicht auf dem | |
| Rand der Fahrbahn, sondern geschützt unter der sogenannten Brückenkappe, | |
| den 3,50 Metern, die am Rand überstehen. | |
| ## Es muss keine Gelände erworben werden | |
| Ohne Weiteres funktionieren würde das nach Vogets Berechnungen auf der | |
| westlichen Seite: Hier steht nach unten hin ausreichend Platz zur | |
| Verfügung, auch über den Bahngleisen. Dass ein solcher Zusatzweg das Land | |
| besonders teuer zu stehen käme, glaubt Henning Voget nicht: „Die ganze | |
| Konstruktion ist ja schon vorhanden“, sagt er, „es muss kein Gelände | |
| erworben und keine gesonderte Konstruktion errichtet werden. Die Lasten | |
| sind minimal.“ | |
| Allein: Voget, der bei seinem Projekt die Unterstützung des ADFC hat, | |
| dringt nicht durch. In erster Linie wohl, weil im autofixierten Milieu der | |
| StraßenplanerInnen solche Ideen nicht gerade begeistert entgegengenommen | |
| werden. Es war aber auch ein wenig Pech dabei: Bei der ersten | |
| Beiratssitzung saß noch Jens-Holger Kirchner als Verkehrsstaatssekretär am | |
| Tisch. „Der sagte: Das kriegen wir rein“, erinnert sich Voget, auch eine | |
| entsprechende Protokollnotiz gebe es. Aber Kirchner erkrankte schwer und | |
| wurde schließlich von seinem Posten enthoben, um später an anderer Stelle | |
| in der Senatskanzlei weiterzumachen. | |
| „Bei der Vorstellung der Planung im vergangenen Juni war dann auf den | |
| Entwürfen nichts von einem Radweg zu sehen“, sagt Voget. Dafür gebe es | |
| keinen Bedarf, habe es auf seine Nachfrage hin bei der grün geführten | |
| Senatsverkehrsverwaltung geheißen. Gegenüber der taz formuliert es Jan | |
| Thomsen, der Sprecher von Senatorin Regine Günther, so: „Die Überlegung, | |
| Fahrradwege mit einer Autobahn zu verbinden, ist zwar grundsätzlich | |
| interessant.“ Aber es gebe nun mal keine Vorplanungen, und auch sonst sei | |
| die Rudolf-Wissell-Brücke dafür „kaum geeignet, jedenfalls ganz sicher | |
| nicht erste Wahl“. | |
| ## Potenzielle Kosten wären harmlos | |
| „Relevante Radinfrastruktur“ müsste im Norden vom Siemensdamm erst | |
| herangeführt werden, im Süden vom Spandauer Damm, argumentiert Günthers | |
| Sprecher, „es gibt dort aber keinerlei Vorbereitungen oder auch nur gute | |
| Voraussetzungen für einen solchen Plan“. Vielmehr erscheine es „schon bei | |
| oberflächlicher Betrachtung deutlich sinnvoller“, die Strecke entlang des | |
| Tegeler Wegs für Radfahrende zu verbessern, „als eine neue Radstrecke an | |
| eine Autobrücke anzusetzen“. Dafür, einen Radweg unter die Brücke zu | |
| hängen, gebe es „weder konstruktive noch planerische Voraussetzungen“. | |
| An der grünen Basis ist man mit diesem „Njet“ gar nicht glücklich. „Der | |
| Radweg unter der Brücke ist eine gute Idee“, fasst Sprecher Matthias | |
| Dittmer die Haltung der LAG (Landesarbeitsgemeinschaft) Mobilität zusammen. | |
| „Sie schafft für den Radverkehr eine Verbindung, wo sie verkehrspolitisch | |
| dringend geboten ist, und sollte umgesetzt werden.“ Die potenziellen Kosten | |
| seien im Verhältnis zum finanziellen Gesamtrahmen „geradezu harmlos“. | |
| Dittmer fordert die Verkehrsverwaltung auf, Vogets Vorschlag zu | |
| unterstützen, und er kritisiert die Verbreiterung der neuen Brücke, die nur | |
| noch mehr Autoverkehr anziehen werde: „Wie aus der Zeit gefallen! Als ob es | |
| [2][Fridays für Future] nie gegeben hätte.“ | |
| Das Zeitfenster für den hängenden Radweg unter der Autobahn hat sich noch | |
| nicht gänzlich geschlossen – aber fast. Zurzeit nämlich fungiert das Land | |
| Berlin noch als Bauherr im Auftrag des Bundes. Das wird sich am 1. Januar | |
| 2021 ändern. Denn ab dann übernimmt die zurzeit im Aufbau befindliche | |
| bundeseigene „Autobahn GmbH“ nicht nur die Finanzierung, sondern auch Bau, | |
| Betrieb und Verwaltung der Bundesfernstraßen – die Deges geht in dieser | |
| Gesellschaft auf. | |
| Noch hat Berlin also ein paar planerische Fäden in der Hand, aber bald wird | |
| es sie loslassen müssen. Damit sinken wohl auch die Chancen für eine | |
| unorthodoxe Idee wie die von ADFC-Mann Voget. | |
| 20 Sep 2020 | |
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| Claudius Prößer | |
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